Wer wahrnimmt, daß die Einsätze zu mehr Ernst in Ausbildung und Einsatz führen, hat damit auch festgestellt, daß es bisher nicht so darauf ankam. Aber kann der Bundeswehr überhaupt ein bislang fehlender Ernst vorgeworfen werden? Und wenn ja: Was müßte man fordern von der deutschen Armee und der deutschen Politik, jetzt, wo es plötzlich wieder »darauf ankommt«?
Zunächst: Die Bundeswehr ist nicht weniger leistungsfähig als andere Streitkräfte vergleichbarer Größe. Sie weist allerdings einige Bruchlinien auf, die quer durch die Einheiten verlaufen. Sie treten zum Beispiel und besonders im Auslandseinsatz zutage, und zwar als Konflikt zwischen sogenannten »Drinnis« und »Draußis«, also zwischen denen, die im Lager bleiben, und denen, die Patrouille fahren.
Zwei Hauptleute der Kampftruppe haben in der Univok, der Studentenzeitschrift der Hamburger Bundeswehr-Universität, über dieses Thema berichtet: zum Beispiel über eine diensthabende Veterinärin, die in Afghanistan in einem Außenposten deutsche Hygienestandards anlegen wollte. Ein Kompaniechef mußte mit »Engelszungen« auf sie einreden, damit sie, vereinfacht gesagt, auf ihre Meldung verzichtet, welche die Schließung des Postens zur Folge gehabt hätte. Ein anderes Beispiel ist die alarmierte Reserveeinheit, die mit hohem Tempo ausrücken wollte: Ein »Drinnie« stellte sich den Fahrzeugen in den Weg, um die »Draußis« über die vorgeschriebene Schrittgeschwindigkeit im Lager zu belehren. Zwei Anekdoten nur, aber das reicht aus, damit man ein Gefühl bekommt für die Unterschiede zwischen den verschiedenen Lebenswelten in ein und derselben Streitkraft: hier Friedensbürokratie, dort Einsatzpragmatik.
Diese Unterschiede wirken bis in die Heimat zurück. Und das ist im Hinblick auf den neuen Ernst im Manöver gar nicht schlecht – etwa, wenn die Patrouillensoldaten den erlebten Ernstfall auf den Ausbildungsbetrieb übertragen können. Doch die kampferfahrenen Männer sind nicht nur in der Unterzahl, sie sind auch verhältnismäßig jung. Die wenigsten Generäle dürften die Dinge erlebt haben, die ein Hauptmann oder Major der Kampftruppe in Afghanistan mitmachte. So gibt es nicht nur eklatant unterschiedliche Erfahrungen zwischen »Etappe« und »Front«, sondern auch zwischen den Generationen. In die Bundeswehr sickert der neue Ernst der Jungen eher schleppend ein. Natürlich kann man nicht pauschal behaupten, daß jedem »Drinni« oder Alten die richtige Einstellung fehle. Aber daß dem Bundeswehr-Jargon eine gängige Wendung im Sinne von train as you fight (bilde gefechtsnah aus) fehlt, mag eines von mehreren Indizien dafür sein, daß die hier gezeichnete Tendenz zutreffend ist.
Die oben angedeuteten Unterschiede in den militärischen Lebenswelten haben sich aus den Nachwirkungen des Kalten Krieges ergeben, aus dem die Bundeswehr als ein durch und durch bürokratisiertes Unternehmen hervorgegangen ist. Eine hochtechnologische, moderne Wehrpflicht-Armee muß eine bürokratische Organisation sein, anders ist das »Organisationsziel« nicht zu erreichen: nämlich eine große Anzahl von Soldaten für den militärischen Einsatz auszubilden. Während der Blockkonfrontation war dies das einzige Ziel, während der Einsatz keines war: Der Krieg wurde vorbereitet, aber nicht geführt, und das Paradoxon der Abschreckung lautet seit jeher: Je besser wir sind, desto sicherer müssen wir nicht in den Einsatz. Damit und mit einer alle Kräfte beanspruchenden Bürokratie sollte auch vergessen gemacht werden, daß das Militär im Friedenszustand praktisch funktionslos ist – wenn man von der Funktion seiner reinen Existenz mal absieht.
Mit Somalia und dem Kosovo, spätestens jedoch mit dem »robuster« werdenden Afghanistan-Einsatz hat sich das Ziel aller Ausbildung nun konkretisiert, und zwar auf einen nicht nur theoretischen, sondern ebenso begrenzten wie tatsächlich eintretenden Ernstfall hin. Die Politik reagiert mit der »Transformation der Bundeswehr« und paßt sie ihrer neuen Aufgabe an, nämlich den Interventionen im Ausland und dem Kampf gegen irreguläre Kräfte. Es ist wenig überraschend, daß eine als Verteidigungsarmee aufgebaute Bundeswehr erst mal an ihre Grenzen stößt, wenn sie relativ plötzlich irregulären Kräften gegenübersteht. Ihr Organisationsziel war ja defensiver Natur und – wie gesagt – jahrzehntelang da, aber auch nicht da.
Selbst der Wehrmacht, ihrerseits eine effiziente Angriffsarmee, blieben Erfahrungen der Unzulänglichkeit im Zusammenhang mit Partisanenkämpfen nicht erspart: »Wer beschreibt aber die Überraschung und die sich steigernde Leidenschaft, mit der wir ahnungslosen Blitzkriegsoldaten des Zweiten Weltkrieges dem Phänomen zuerst begegneten?« Hellmuth Rentsch machte diese Zeilen 1961 zum Auftakt seiner Arbeit Partisanenkampf. Erfahrungen und Lehren (Frankfurt a. M. 1961). Und dieser Satz hat auch heute noch Gültigkeit – jedenfalls wenn wir den »ahnungslosen Blitzkrieger« durch den »ahnungslosen Bürokraten« ersetzen.
Die schlichte Forderung nach mehr Ernsthaftigkeit ist natürlich auch schon während des Kalten Krieges erhoben worden, und es gibt Einheiten, die den Manöverernst hoch- und durchgehalten haben. Und trotzdem ist unsere bürokratische Armee das Ergebnis eben dieser Zeit. Der Gruppenführer konnte und kann seine Rekruten noch zu ernsthaftem Üben zwingen, auch der Zugführer und der Kompaniechef sind noch nah dran am Gros der Soldaten und können mittels Dienstaufsicht und Disziplinarmaßnahmen einen Beitrag leisten. Aber spätestens ab dieser Ebene ist Papier geduldig, und selbst bei allerhöchster Führerdichte bleibt die Dienstaufsicht hintergehbar.
Der Appell, das, was zu tun ist, sorgfältig und mit großem Ernst zu betreiben, muß tiefer gehen oder sich an konkreten Vorteilen für die einzelnen Soldaten orientieren. Was könnte so ein konkreter Vorteil sein? Wenn der Kalte Krieg die deutschen Streitkräfte bürokratisiert hat, dann müßte ihre regelmäßige Verwendung als Interventionsstreitkraft automatisch zu ihrer Entbürokratisierung führen – jedenfalls so weit, wie das für eine hochtechnologische, moderne Armee noch sinnvoll ist. Sie würde damit in militärischer Hinsicht effizienter, stärker, besser werden. Denn als gegen Ende des Kalten Krieges schon klar war, daß er nicht ausbrechen würde, war es vertretbar, sich zuungunsten der militärischen Ausbildung für Sicherheit, Bequemlichkeit und juristisch-bürokratische Absicherung zu entscheiden: Die Quittung kam nicht. Heutzutage haben die Soldaten zumindest theoretisch genügend Anlaß für die Gewißheit, daß fehlender Manöverernst fehlende Fähigkeiten zur Folge habe, und das könnte einen selbst oder den Kameraden das Leben kosten. Kämpfen können, durchkommen, unversehrt bleiben: Das sollte als konkreter Vorteil genügen und für den nötigen Ernst sorgen, wenn es ins Manöver geht.
Wenn diese theoretisch vorhandene Gewißheit auf Ausbilder mit der Erfahrung eines »Draußis« trifft, und das wird sie immer öfter, dann ist das einer von vielen kleinen Schritten hin zum ordentlichen Ernst, also die gewünschte Realisierung des Denkens »vom Einsatz her«. In dieser Hinsicht wird sich der Manöverernst in der Bundeswehr von Einsatz zu Einsatz durchsetzen. Selbst ethische Forderungen wie »interkulturelle Kompetenz«, die ja manchmal als gutmenschliches Getue verlächelt werden, etablieren sich insofern, als daß sie für den Kampf mit irregulären Kräften militärisch sinnvoll sind (Partisanen und Partisanenbekämpfer leben gleichermaßen vom Rückhalt in der Bevölkerung des Einsatzlandes).
Also wirklich alles nur eine Frage der Zeit? Nicht nur. Aus soldatischer Sicht ist es auch eine Frage von mehr oder weniger Verwundeten, Versehrten, Gefallenen. Und wenn dem Soldaten der Sinn einer militärischen Intervention fremd bleibt, dann kann sich der Grundsatz »Wirkung geht vor Deckung« rasch in sein Gegenteil verwandeln. Wie wäre es also mit einem offen kommunizierten Interventionsgrund wie »Sicherung der Rohstoffversorgung«? Und wenn der durch und durch zivile Politiker nicht erfährt, daß es seine unzweckmäßigen Vorgaben sind, die die Parlamentsarmee schwächen, dann kann er sie noch nicht einmal theoretisch anpassen. Wenn Politik und Militär unnötige Opfer vermeiden wollen, dann muß die Politik dem Militär reinen Wein einschenken, und das Militär muß das einfordern, was es zum Kämpfen und Siegen braucht. Nur so nimmt man einander ernst.