125. Geburtstag Gerhard Ritter

(Text aus dem Band Vordenker des Staatspolitischen Handbuchs, Schnellroda 2012.)

von Karlheinz Weißmann

Gerhard Ritter war ohne Zweifel die Zentralgestalt der deutschen Historiographie in den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten und gleichzeitig der Garant ihrer – gemäßigt – konservativen Ausrichtung.

Die Ursa­che dafür lag ein­mal in dem bedeu­ten­den wis­sen­schaft­li­chen Werk, das Rit­ter schon in den zwan­zi­ger, drei­ßi­ger und vier­zi­ger Jah­ren geschaf­fen hat­te, zum ande­ren in sei­ner mora­li­schen Repu­ta­ti­on als Mit­glied des »Frei­bur­ger Krei­ses«, der zu den Grup­pen des bür­ger­li­chen Wider­stands in der NS-Zeit gehörte.

Rit­ter stamm­te – zusam­men mit sei­nen Brü­dern, dem spä­te­ren Theo­lo­gen Karl Bern­hard und dem spä­te­ren Ori­en­ta­lis­ten Hell­mut Rit­ter – aus einer hes­si­schen Pfar­rer- und Beam­ten­fa­mi­lie. Nach dem Abitur stu­dier­te er an den Uni­ver­si­tä­ten Mün­chen, Hei­del­berg, Leip­zig und Ber­lin Ger­ma­nis­tik und Geschich­te, schloß 1912 mit der Pro­mo­ti­on ab und unter­rich­te­te für eini­ge Zeit als Gym­na­si­al­leh­rer. Der Ers­te Welt­krieg ver­hin­der­te die Fort­set­zung der wis­sen­schaft­li­chen Lauf­bahn. Im Febru­ar 1915 ein­ge­zo­gen, dien­te Rit­ter als Infan­te­rie­of­fi­zier, wur­de mehr­fach ver­wun­det und mit dem Eiser­nen Kreuz bei­der Klas­sen aus­ge­zeich­net. Nach dem Krieg habi­li­tier­te er sich 1921 an der Uni­ver­si­tät Hei­del­berg, 1924 erhielt er einen Ruf nach Ham­burg, im Fol­ge­jahr nach Frei­burg. Dort lehr­te er bis zu sei­ner Eme­ri­tie­rung 1956.

Rit­ters Dok­tor­ar­beit hat­te »Die preu­ßi­schen Kon­ser­va­ti­ven und Bis­marcks deut­sche Poli­tik 1858–1876« behan­delt. Mit die­ser The­men­wahl waren auch Schwer­punk­te sei­ner wei­te­ren wis­sen­schaft­li­chen Tätig­keit bezeich­net: die Ent­wick­lung Preu­ßens und Preu­ßen-Deutsch­lands seit dem 18. Jahr­hun­dert in Ver­knüp­fung mit der Ent­ste­hung eines deut­schen Eigen­be­wußt­seins, die Bedeu­tung der Staa­ten­ge­schich­te und ihre Erfas­sung in sorg­fäl­ti­ger Quel­len­ana­ly­se. Dane­ben trat dann noch ein Inter­es­se an bio­gra­phi­schen Arbei­ten, das sich in Mono­gra­phien über Luther (zuerst 1925), den Frei­herrn vom Stein (zuerst 1931), Fried­rich den Gro­ßen (zuerst 1936) und schließ­lich den Wider­stands­kämp­fer Carl Goer­de­ler (zuerst 1954) nie­der­schlug, mit dem Rit­ter per­sön­lich befreun­det gewe­sen war.

Auf­schluß­reich ist auch, daß Rit­ter bereits in sei­ner Dis­ser­ta­ti­on eine Ana­ly­se des Kon­ser­va­tis­mus lie­fer­te, die mit sei­ner eige­nen poli­ti­schen Posi­ti­ons­be­stim­mung zu tun hat­te. Denn er arbei­te­te hier her­aus, daß der Ver­such, eine prin­zi­pi­en­fes­te – und dok­tri­nä­re – Auf­fas­sung des Kon­ser­va­tis­mus zu eta­blie­ren, nicht nur zu Wirk­lich­keits­ver­lust führ­te, son­dern auch zu einem Selbst­wi­der­spruch, inso­fern, als das unbe­ding­te Fest­hal­ten an über­kom­me­nen Ein­rich­tun­gen und Wert­vor­stel­lun­gen zwangs­läu­fig in deren voll­stän­di­ger Zer­set­zung mün­det. Rit­ters Sym­pa­thie gehör­te Bis­marck und des­sen Vor­stel­lung von Real­po­li­tik. Das hat ihn wahr­schein­lich auch davor bewahrt, nach dem Ende des Kai­ser­reichs nost­al­gi­schen Ideen anzu­hän­gen. Zwar hielt er an der Über­le­gen­heit der mon­ar­chi­schen Ver­fas­sung fest, übte auch in den zwan­zi­ger Jah­ren schar­fe Kri­tik am Ver­sailler Ver­trag und dem »Wes­ten«, aber man wird Rit­ter trotz­dem den »Ver­nunft­re­pu­bli­ka­nern« zuord­nen müs­sen, die unter den deut­schen Hoch­schul­leh­rern der Zeit eine Mehr­heit stell­ten. Bezeich­nend ist, daß er sich 1929 zum Ein­tritt in die natio­nal­li­be­ra­le DVP, nicht in die DNVP, ent­schloß und danach aktiv für einen – auto­ri­tä­ren – Umbau der Ver­fas­sung unter Deckung durch den Reichs­prä­si­den­ten eintrat.

Rit­ter hat die Ago­nie von Wei­mar für zwangs­läu­fig gehal­ten. Auch spä­ter ver­trat er die Auf­fas­sung, Wei­mar sei an einem Zuviel, nicht einem Zuwe­nig, an Demo­kra­tie zugrun­de gegan­gen. Für das Regime Hit­lers hat­te er kei­ne Sym­pa­thie, glaub­te aber bis zum Tod Hin­den­burgs an die Mög­lich­keit, zu »alt­preu­ßi­scher Staat­lich­keit« zurück­zu­keh­ren, und regis­trier­te aner­ken­nend die außen­po­li­ti­schen Erfol­ge. Die Ursa­che sei­ner Abwen­dung lag in den anti­se­mi­ti­schen Maß­nah­men einer­seits, in der Radi­ka­li­sie­rung des Kir­chen­kampfs ande­rer­seits begrün­det. Rit­ters Buch Macht­staat und Uto­pie von 1940 kann durch­aus als zen­tra­les Werk der »Inne­ren Emi­gra­ti­on « betrach­tet wer­den, inso­fern, als es die – wenn auch ver­schlei­er­te – Gene­ral­kri­tik an einer Poli­tik ent­hielt, die sich weder an das über­lie­fer­te anti­ke noch an das christ­li­che Sit­ten­ge­setz hal­ten woll­te. Es lag inso­fern in der Logik der Ent­wick­lung, daß Rit­ter zu den Mit­wis­sern der Umsturz­plä­ne vom Som­mer 1944 gehör­te, noch im Novem­ber des Jah­res ver­haf­tet wur­de und bis zum Kriegs­en­de in einem Ber­li­ner Gefäng­nis blieb.

Sein Anse­hen erlaub­te es Rit­ter, nach 1945 wesent­lich an der Reor­ga­ni­sa­ti­on der (west)deutschen Geschichts­wis­sen­schaft mit­zu­wir­ken. Ihm ging es dabei um »Läu­te­rung«, aber auch dar­um, den ideo­lo­gi­schen Ein­fluß der Sie­ger­mäch­te zurück­zu­däm­men. Zwi­schen 1948 und 1953 fun­gier­te er als ers­ter Vor­sit­zen­der des His­to­ri­ker­ver­ban­des, außer­dem sorg­te er für den Wie­der­auf­bau des Geschichts­leh­rer­ver­ban­des. Rit­ter war davon über­zeugt, daß nur ein ech­tes Geschichts­be­wußt­sein hel­fen kön­ne, die not­wen­di­ge Rege­ne­ra­ti­on her­bei­zu­füh­ren. Aus­drück­lich lehn­te er die Kol­lek­tiv­schuld­the­se und die Annah­me eines deut­schen Son­der­wegs ab. Wie er in sei­nem Buch Euro­pa und die deut­sche Fra­ge (1948) dar­leg­te, war der Natio­nal­so­zia­lis­mus nicht das Ergeb­nis spe­zi­fisch deut­scher Bedin­gun­gen, son­dern eine Fol­ge des Mas­sen­zeit­al­ters in der Kon­se­quenz der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on. Die in die­ser Anschau­ung schon ent­hal­te­ne Ver­tei­di­gung der Ent­wick­lung Deutsch­lands unter preu­ßi­scher Füh­rung ent­fal­te­te er dann noch ein­mal in sei­nem Spät­werk Staats­kunst und Kriegs­hand­werk (1954–1968), das sich mit dem Pro­blem des »Mili­ta­ris­mus« auseinandersetzte.

Die­se monu­men­ta­le Arbeit liest sich in ihren letz­ten Tei­len auch wie eine Stel­lung­nah­me Rit­ters zur soge­nann­ten »Fischer-Kon­tro­ver­se« über die Rol­le des Reichs im Ers­ten Welt­krieg. In sei­nen letz­ten Lebens­jah­ren mach­te Rit­ter noch ein­mal sei­nen gan­zen Ein­fluß gel­tend, um jene »Ver­schat­tung« der deut­schen Geschich­te zu ver­hin­dern, die das geis­ti­ge Leben der Bun­des­re­pu­blik seit den sech­zi­ger Jah­ren zu bestim­men anfing. Aller­dings stand er dabei schon fast allein, hat­te jeden­falls zu weni­ge Ver­bün­de­te, um noch Ent­schei­den­des zu erreichen.

Schrif­ten: Die preu­ßi­schen Kon­ser­va­ti­ven und Bis­marcks deut­sche Poli­tik 1858–1876, Hei­del­berg 1913; Luther. Gestalt und Sym­bol, Mün­chen 1925; Stein. Eine poli­ti­sche Bio­gra­phie, 2 Bde., Stutt­gart 1931; Fried­rich der Gro­ße, Leip­zig 1936; Macht­staat und Uto­pie, Mün­chen 1940 (ab 1947 unter dem Titel Die Dämo­nie der Macht); Die Welt­wir­kung der Refor­ma­ti­on, Leip­zig 1941; Geschich­te als Bil­dungs­macht, Stutt­gart 1946; Vom sitt­li­chen Pro­blem der Macht, Bern 1948; Die Neu­ge­stal­tung Deutsch­lands und Euro­pas im 16. Jahr­hun­dert, Ber­lin (West) 1950; Carl Fried­rich Goer­de­ler und die deut­sche Wider­stands­be­we­gung, Stutt­gart 1954; Der Schlief­fen­plan. Kri­tik eines Mythos. Mit erst­ma­li­ger Ver­öf­fent­li­chung der Tex­te, Mün­chen 1956; Staats­kunst und Kriegs­hand­werk. Das Pro­blem des »Mili­ta­ris­mus « in Deutsch­land, 4 Bde., Stutt­gart 1954–1968.

Lite­ra­tur: Ulrich Bay­er: Ger­hard Rit­ter (1888–1967), in: Johan­nes Ehmann (Hrsg.): Lebens­bil­der aus der evan­ge­li­schen Kir­che in Baden im 19. und 20. Jahr­hun­dert. Bd. II: Kir­chen­po­li­ti­sche Rich­tun­gen, Hei­del­berg 2010; Chris­toph Cor­ne­li­ßen: Ger­hard Rit­ter. Geschichts­wis­sen­schaft und Poli­tik im 20. Jahr­hun­dert, Düs­sel­dorf 2001.

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