Was also sagte der Begriff »Demokratie« überhaupt noch aus über unsere politische Wirklichkeit? Und wie ist es mit den anderen, sinnentleerten Begriffen: dem der Freiheit, des Rechtsstaates, des Parlaments, der Gewaltenteilung, der Macht, des Sozialen und der Ökonomie? Einerseits ist uns heute alles erlaubt, andererseits leben wir in einer Optimierungs- und Überwachungsgesellschaft, deren Methoden so subtil sind, daß wir sie im Grunde nicht durchschauen können. Wir beteiligen uns über die »sozialen Netzwerke« sogar an unserer eigenen Ausleuchtung und Überwachung. Wir haben einklagbare Grundrechte, und doch besteht kaum Hoffnung, auf diesem Feld Gerechtigkeit zu erfahren, weil letztlich fast jeder Sache so oder auch ganz anders ausgelegt werden kann. Wer ist denn das »deutsche Volk«, jener Souverän also, von dem alle Macht ausgehen muß? Wenn es schon nicht mehr souverän ist, ist es dann wenigstens noch eine Solidargemeinschaft? Wohl kaum, und über das Ende des Sozialen im vollendeten Wohlfahrtsstaat – um ein weiteres Beispiel zu nennen – schreibt Jean Baudrillard zu Recht: »Alle sind vollkommen ausgeschlossen und versorgt, vollkommen desintegriert und sozialisiert.« Ein politischer Begriff hat keinen Sinn mehr, sobald er von Widersprüchen zerfressen wird. Es nützt dann auch nichts, ihm einfach die Vorsilbe »post-« zu verpassen, um die Veränderung auszudrücken. Der Begriff der Postdemokratie ist deshalb unsinnig, weil er einen Idealzustand der Demokratie voraussetzt, den es historisch nie gegeben hat.
Die Herausforderung liegt also darin, die Herrschaftsmethoden des 21. Jahrhunderts mit neuen oder zumindest treffenderen Vokabeln zu beschreiben, als sie im Handbuch der Politikwissenschaft zu finden sind. Der französische Ethnologe Marc Augé bezeichnet unsere Epoche in seinem Buch Nicht-Orte zum Beispiel sehr treffend als Übermoderne (surmodernité). Diese sei durch Übertreibung, Überfülle und Übermaß gekennzeichnet und könne nur durch »ethisch indifferente Superstrukturen« (Arnold Gehlen) gebändigt werden, die auf drei Säulen ruhten: dem Bürokratismus (staatliche Herrschaft), der Skandalokratie (mediale Herrschaft) und der Finanzoligarchie (ökonomische Herrschaft).
Am Bürokratismus und der Finanzoligarchie arbeiten sich bereits etliche Experten ab. Ein eigenartiges Schattendasein führt hingegen die Skandalokratie, was ihre Macht weiter verstärkt. Gerade die Wissenschaft hat bisher den Schritt von der Analyse der Mechanismen des Skandals (vgl. Sezession 41, Hans Mathias Kepplinger: »Tabus bis zur Verlogenheit«) zur Durchdringung der dahinterstehenden Herrschaftsmethodik nicht gewagt. Das muß nachgeholt werden – deshalb für den Anfang vier Thesen:
These I |
Die entideologisierte Konsensdemokratie gerät nach Skandalen in einen Ausnahmezustand. Die Enthüllungen in Echtzeit setzen die Politik unter enormen Handlungsdruck, den es ansonsten nicht gibt. Politische Konsequenzen mit verheerenden persönlichen Folgen für die Beschuldigten werden deshalb meistens bereits dann gezogen, wenn die Ermittlungen und die Aufklärung des Skandals noch nicht abgeschlossen sind. Es ist also zum Zeitpunkt der Beschlüsse noch unklar, was nur ein öffentliches Gerücht ist und was der Wahrheit entspricht. Diese Herrschaftsmethodik hat mit der Grundidee des Parlamentarismus, der Idee von offener Debatte um die richtigen Lösungen, nichts mehr zu tun.
Erläuterung: Im freiheitlich-demokratischen Weltbild sorgen Medien dafür, Mißstände der Politik aufzudecken und somit an ihrer Aufarbeitung mitzuwirken. Der Soziologe Karl-Otto Hondrich, ein Vertreter der funktionalistischen Skandaltheorie, meint etwa, daß nichts den guten Sitten und der Demokratie zuträglicher sei als der Skandal, weil er im entscheidenden Moment wirksamer zupacke als normale Wahlen. Im Einzelfall läuft es genau so, wie etwa bei der Enthüllung der zusammenplagiierten Doktorarbeit des ehemaligen Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU). Aber der blinde Fleck ist riesig: Die Frage ist doch, »warum Hohmann geht und Friedman bleibt« (Arne Hoffmann). Der Medienwissenschaftler Steffen Burkhardt findet in seiner Promotion über Medienskandale zu einem beunruhigenden Befund: »Der Schritt von der Skandalisierung des Anderen zu dessen Vernichtung aus kollektiver Notwehr ist symbolisch äußerst marginal.« Getroffen hat es in dieser Weise in den vergangenen Jahren mutmaßliche Vergewaltiger wie Jörg Kachelmann, ideologische Abweichler wie Eva Herman und Politiker mit ausgeprägten (aber wohl völlig alltäglichen) Seilschaften wie Christian Wulff. Von einer solchen Skandalisierung, die einer symbolischen Vernichtung gleichkommt, kann gesprochen werden, wenn das Medienopfer von allen mächtigen Gruppen der Gesellschaft gemeinsam erlegt wird und eine Rehabilitierung von Vornherein ausgeschlossen ist, obwohl das Ausmaß des vermeintlichen Mißstandes noch unklar ist.
Der Regierung würde von Opposition und Öffentlichkeit Untätigkeit vorgeworfen, wenn sie in medialen Ausnahmezuständen nicht voreilig handelte: Gefahr könnte im Verzug sein, und schlechte Karten hat, wer stündlich nach Konsequenzen gefragt werden kann, und noch immer keine gezogen hat. Medien haben zudem ein »Gefahrenerfindungsrecht« (Günter Frankenberg). Sobald der Staat auf dieses mit einer hyperpräventiven Logik antwortet, gibt er seine Souveränität auf. Hier offenbart sich ein Grundproblem der Gewaltenteilung im modernen Staat. Die Medien haben ständig gut klagen. Sie üben durch ihr agenda setting sowie die Fähigkeit, das Ansehen von Führungspersonen entscheidend zu prägen, eine enorme Macht aus, für die sie keine Gegenleistung zu erbringen haben. Noch nicht einmal besteht für sie die Pflicht, sich an die Wahrheit zu halten, da die juristischen Sanktionen für falsche Anschuldigungen harmlos sind. Dadurch hat sich ein »System der organisierten üblen Nachrede« (Mappes-Niediek) entwickelt, von dem überschießende Impulse in Richtung öffentlichkeitswirksamen Handelns ausgehen, denen die Politik immer dann nachgibt, wenn sie keine standfesten Positionen entwickelt hat. Diese Praxis ist inzwischen zur Regel geworden: Den Technokraten in Deutschland fehlt ein ausgeprägtes historisches Langzeitgedächtnis und eine philosophische Weltanschauung. Sie entscheiden deshalb aus einem unhinterfragten Sinn heraus. Ihre Ideologie ist die Ideologielosigkeit, die dazu führt, daß die herrschenden Eliten Grundsatzfragen scheuen und alle Freigeister, die noch unbequem fragen, ins Abseits stellen.
Beispiel: Nach der Naturkatastrophe in Japan und den dadurch verursachten Schäden am Atomkraftwerk in Fukushima vollzog die Bundesregierung eine beispiellose Kehrtwende in ihrer Energiepolitik und beschloß wenige Monate nach einer Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke deren schnellstmögliche Abschaltung. Wie kurzsichtig dieser Schritt war, sieht man daran, daß Großbritannien, Frankreich, Polen und Tschechien derzeit den Ausbau der Atomkraft forcieren und so der Verzicht der Bundesregierung auf Atomkraft nur einen Wettbewerbsvorteil für die europäischen Nachbarn bewirkt hat.
These II |
Diese Herrschaft des Skandals gefährdet den Rechtsstaat und setzt ihn zuweilen außer Kraft. In der Skandalokratie fällt die »Rechts-Ordnung« auseinander. Das Recht wird notfalls suspendiert, um die alte Ordnung zu bestätigen oder eine neue auf den Weg zu bringen. Hier wird der Unterschied zwischen Legalität und Legitimität sichtbar.
Erläuterung: Mit ihrem Gefahrenerfindungsrecht versuchen die Akteure der Öffentlichkeit auf Mißstände hinzuweisen, bei denen der Staat aus ihrer Sicht zu lange tatenlos weggeschaut hat. Überwiegen bei dieser Anklage moralische Argumente, droht eine Ausweitung dieses Rechts ins Unendliche. Journalisten, Politiker und Lobbyisten fordern allzugern, ihre hypermoralischen Vorstellungen auf die Allgemeinheit anzuwenden, um fragwürdiges Verhalten, das rechtlich straffrei ist, dennoch zu verfolgen. Sobald diese Forderung auf den Staat übergreift, erleben wir die Geburt des Siamesischen Zwillingspaars von »gesetzestreuem Verfassungsfeind« und »legalem Gesetzesmißbrauch« (Frankenberg). Egal, ob es »nur« zu einer medialen Hexenjagd kommt oder auch zu einer staatlichen Verfolgung, Fakt ist, daß hier eine Scheinlücke im Normengefüge und eine Rechtsleere geschaffen wird, durch die außerrechtliche Sanktionen als legitim erscheinen sollen.
Beispiel: Die mediale und strafrechtliche Verfolgung der sogenannten Zwickauer Terrorzelle NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) geht weit über die gesetzlichen Grenzen hinaus. Die BILD hat in den letzten Monaten reihenweise Unterlassungserklärungen unterschreiben müssen, weil sie zu Unrecht Personen aus dem rechten Lager verdächtigte. Während die Opfer dieser Kampagne als mutmaßliche Terroristen stigmatisiert wurden, kann die BILD ihre juristischen Niederlagen unter »Sonstiges« abheften. Zugleich reagierten die Behörden auf den öffentlichen Druck, indem sie auf den Modus einer »Herrschaft des Verdachts« umschalteten. In der medialen Wahrnehmung erscheint so die »mutmaßliche Rechtsterroristin« Beate Zschäpe auch deshalb bereits als vorverurteilt, weil die Bundesanwaltschaft den Eindruck ihrer bewiesenen Schuld erweckt und nur über ein noch größeres Ausmaß des Falls spekuliert. Die Verteidiger von Zschäpe hingegen werfen der Bundesanwaltschaft vor, noch kein belastendes Material vorgelegt zu haben. Die Akten hätten bisher noch keine Beweise dafür geliefert, daß Zschäpe an der Bildung einer terroristischen Vereinigung mitgewirkt habe. Die Bundesanwaltschaft konterte das mit dem Hinweis, Zschäpe sei »Kopf und Herz« der NSU gewesen, weil sie »Hitlers Mein Kampf und einschlägige Nazi-Literatur gelesen« haben soll.
These III |
Die Skandalokratie verdrängt in der öffentlichen Wahrnehmung die eigentlichen Herausforderungen unserer Zeit und ist damit eine Debattenverhinderungskultur. Es findet ein Informations-Overkill bei gleichzeitigem Totschweigen der Hintergründe und Ursachen von Problemen statt. Souverän ist folglich, wer die permanenten Ausnahmezustände auslösen und steuern kann und wem es gelingt, im normalen Tagesgeschäft politische Entscheidungen und Debatten zu verhindern.
Erläuterung: Der liberale Staat verdrängt die Krise, weil er einen Regelungsoptimismus an den Tag legt. Durch »souveräne Nicht-Entscheidungen« (Giorgio Agamben) wird die Lage so immer prekärer und irgendwann nicht mehr mit den vorhandenen Staatstechniken zu lösen sein. Souveräne Nicht-Entscheidungen finden immer dann statt, wenn statt einer einfachen Lösung ein bürokratischer Popanz veranstaltet wird, der sich damit begnügt, die Behebung der Probleme an die ominöse Zivilgesellschaft (im Klartext: Lobbyorganisationen), an Kommissionen, »Runde Tische« oder Ausschüsse zu delegieren. Diese haben dann eine Legitimation solange an Einzelteilen herumzuschrauben, bis die Öffentlichkeit ein anderes Thema zerpflückt. Das große Ganze steht damit nie zur Diskussion.
Beispiel: Statt über den demographischen Niedergang zu sprechen, diskutiert die Öffentlichkeit hochemotional, wann man eine Frauenquote für Aufsichtsräte und Vorstände einführt. Statt über das überfremdete Deutschland zu sprechen und dazu die Gesamtheit aller in Deutschland lebenden Ausländer zu betrachten, wird diese Diskussion durch einzelne Beispiele gelungener Integration unterdrückt. Hier schlägt die Strategie der Personalisierung die Brisanz des Gesamtthemas. Genauso lief es auch in der Debatte um den zurückgetretenen Bundespräsidenten: Statt über die Führungskrise des Staates zu sprechen, probten Opposition und insbesondere die BILD den Aufstand gegen Christian Wulff wegen eines Privatkredits. Dabei durchleuchteten sie sein Privatleben mit einer Intensität, die in der Geschichte der Bundesrepublik nie zuvor ein Spitzenpolitiker so erleben mußte. Die Forderung nach Transparenz hat hier ihre Schattenseite offenbart. Der Philosophen Byung-Chul Han ist sogar der Meinung, daß wir auf dem besten Weg sind, »Sklaven der Sichtbarkeit« zu werden. Da Wulff die Berichterstattung über diesen Kredit und sein Privatleben mit ein paar Anrufen im Hause Springer entweder verhindern oder verzögern wollte, wurde ihm zudem ein Angriff auf die Pressefreiheit unterstellt. Auch dieser Vorwurf ist eine Nebelkerze, die tatsächliche Bedrohungen unserer Freiheit übertünchen soll.
These IV |
Unsere Wahrnehmung ist so sehr von Boulevardisierung, Personalisierung, Ritualisierung, Beschleunigung der Neuigkeiten sowie Virtualisierung bzw. Anonymisierung geprägt, daß die eigentlichen Herausforderungen der Gegenwart nur auf die Agenda kommen, wenn jemand sie skandalös thematisiert. Neben moralischen Verfehlungen und tatsächlichen Straftaten reicht in traumatisierten Nationen häufig bereits eine ungeschminkte Schilderung der Wirklichkeit.
Erläuterung: Selbstverständlich gibt es täglich auch unzählige (angenommene und verweigerte) Skandalisierungsangebot an die Öffentlichkeit, die die Dominanz der Debattenverhinderungskultur brechen wollen. In einem Essay über das weltberühmte Skandalgemälde »Der Ursprung der Welt« von Gustave Courbet definierte Springer-Vorstand Mathias Döpfner in der Welt am Sonntag vom 9. Januar 2011, der größte Skandal sei der »direkte, realistische Blick auf die ersten und letzten Dinge«. Auf die politische Lage Deutschlands übertragen, würde dies bedeuten, daß eine prominente, charismatische Persönlichkeit die Nacktheit des Kaisers anprangern muß. Erfolg dürfte aber auch diese Anklage nur mit viel Glück haben und wenn sie an der Grenze zur Überzeichnung steht. Der Skandalisierer muß also auch noch ganz genau schildern, wie fett, häßlich und widerlich der Kaiser aussieht.
Beispiel: Den »Fall Sarrazin« hätte es nicht gegeben, hätte er nicht vorab von den »Kopftuchmädchen« gesprochen. Dies war eine bewußte Skandalisierung. Wenn man nichts zu verlieren hat und zudem noch ein dickes Fell besitzt, kann man einen Skandal provozieren, weil nur über ihn heutzutage noch neue Themen ansprechbar sind. Die Skandalisierung von Sarrazin hat danach nur noch partiell funktioniert. Zwar hat er seine Position als Bundesbanker verloren (personelle Skandalisierung), aber eine thematische Verschiebung im Diskurs über Ausländer in Deutschland hat es trotzdem gegeben. An die Stelle der Multikulti-Utopie ist die Utopie einer gelingenden Integration getreten. Am deutlichsten hat sich dies an zwei Aussprüchen der Kanzlerin gezeigt. Sie fand Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab »wenig hilfreich«, und trotzdem erklärte sie kurze Zeit später, Mulitkulti sei gescheitert.
Ebenfalls einen Skandal provozieren wollte Günter Grass im April 2012 mit seinem stümperhaften Gedicht »Was gesagt werden muss«. Darin teilt er mit, warum er so lange über die Bedrohung des »Weltfriedens« durch Israel geschwiegen habe. Er empfinde das als »belastende Lüge«, die er bisher nur aufrechterhalten habe, weil seine »Herkunft« mit einem »nie zu tilgendem Makel behaftet« sei. Trotz des Dilettantismus, mit dem Grass seinen Angriff vortrug, ist es ihm gelungen, sein Thema zumindest gute zehn Tage zum Leitthema der Massenmedien zu machen und die politischen Talkshows und Feuilletons der Republik zur Beschäftigung mit seinen Thesen zu bewegen.