Günter Grass – ein Machtdiskurs

48pdf der Druckfassung aus Sezession 48 / Juni 2012

von Günter Scholdt

Schon 2007, in der Sezession 19, schrieb ich über Grass, und auch diesmal habe ich das Charakterrätsel seiner Handlungsweise nicht gelöst. Immerhin glaube ich, daß er sich in seiner selbstgewählten Rolle als praeceptor Germaniae et orbis dem Weltfrieden verpflichtet fühlt und schließlich dem Wagnis stellte, weil er es zugleich als persönlichen Emanzipations- und Befreiungsakt empfand. Ich schließe also nicht aus, daß der Autor bei dieser Entscheidung seit langem erstmals er selbst war. Offen bleibt, ob das tiefste Motiv nicht vornehmlich doch in einer langsam zur Gewohnheit gewordenen, mittelpunktsbesessenen Provokationslust lag, die ihn alle paar Jahre dazu treibt, einen sicherlich geschäftsfördernden, aber zunehmend riskanten Medien-Tsunami zu entfesseln.

Dies­mal aller­dings erwuchs ihm ein Geg­ner, der über beacht­li­che Sank­ti­ons­in­stru­men­te ver­fügt. Traf er doch nicht mehr auf einen durch jahr­zehn­te­lan­ge Schuld­dis­kus­sio­nen zer­mürb­ten, wider­stands­un­fä­hi­gen Volks­cha­rak­ter, son­dern auf Men­ta­li­tä­ten, Insti­tu­tio­nen und Netz­wer­ke, die sich erfah­rungs­ge­mäß zu weh­ren wis­sen. Und die Far­ce, daß man ihm, wenn auch ver­geb­lich, sogar sei­nen Nobel­preis strei­tig mach­te oder sei­ne nah­öst­li­che Rei­se- und hei­mi­sche Wahl­kampf­lust ein­schränk­te, belegt die Tole­ranz­gren­zen eines Men­tal­im­pe­ri­ums, das bekannt­lich zurückschlägt.

Wie das geschieht, sei im fol­gen­den erläu­tert. Dabei fin­den sich in der Hun­dert­schaft der Debat­ten­bei­trä­ge frag­los auch dif­fe­ren­zier­te und wei­ter­füh­ren­de. Doch im Kern han­delt es sich nicht um einen Problemlösungs‑, son­dern einen Macht­dis­kurs. Mein am Grund­sätz­li­chen ori­en­tier­ter Rück­blick erstellt dar­aus die Streit­ty­po­lo­gie bei Ver­stö­ßen gegen die herr­schen­de Polit­mo­ral. Im Modell betrach­tet, steht die Grass-Schel­te näm­lich für Dut­zen­de hier­zu­lan­de übli­cher »Dis­kus­sio­nen«. Ver­gan­gen­heits­po­li­ti­sche Dau­men­schrau­ben wur­den sei­ner­zeit ganz ähn­lich einem Nol­te, Syber­berg, Wal­ser, Botho Strauß, Möl­le­mann, Hoh­mann oder einer Eva Her­man ange­legt. Inso­fern mag es nüt­zen, sich im Arse­nal der Argu­men­ta­ti­ons­fi­gu­ren und rhe­to­ri­schen Knif­fe ein wenig umzu­se­hen und zehn der am meis­ten ver­brei­te­ten kurz zu mustern.

1. Mei­nung vor Nachricht

Dazu pas­sen schon die äuße­ren Vor­aus­set­zun­gen. Denn in aller Regel hat die Pres­se den Grass-Text nicht ver­öf­fent­licht, son­dern güns­tigs­ten­falls aufs Inter­net ver­wie­sen. Wir erhiel­ten also fast durch­weg zunächst eine Auf­lis­tung ver­meint­li­cher Irr­tü­mer und »Gedan­ken­ver­bre­chen« des Autors. Der unmit­tel­ba­re Ein­druck des Gedichts war weni­ger erwünscht. Sei­ne Publi­ka­ti­on galt offen­bar als anrü­chig. Meh­re­re Zei­tun­gen kon­sta­tier­ten fast tri­um­phal, daß die New York Times den Text abge­lehnt habe, und der US-Schrift­stel­ler Lou­is Begley sah im Abdruck der Süd­deut­schen Zei­tung sogar den eigent­li­chen Skandal.

2. Die am meis­ten ver­fäng­li­che Lesart

Vie­le Angrif­fe spei­sen sich aus selek­ti­ver Text­lek­tü­re unter Favo­ri­sie­rung der jeweils ungüns­tigs­ten Les­art. Daher ein kur­zer Blick auf die Kern­aus­sa­gen des Gedichts. Jen­seits der Begrün­dung für Grass’ lan­ges Schwei­gen sind es drei:

Ein israe­li­scher Angriff kön­ne das ira­ni­sche Volk auslöschen.

Die (durch deut­sche Waf­fen gestütz­te) Atom­macht Isra­el gefähr­de den Weltfrieden.

Zum Nut­zen aller emp­fiehlt Grass, statt eines kaum legi­ti­mier­ten Prä­ven­tiv­schlags, Gewalt­ver­zicht und inter­na­tio­na­le Atom­kon­trol­le in bei­den Ländern.

Sind das uner­hört skan­da­lö­se Ein­schät­zun­gen? Oder liegt es nicht näher, die­sen zwi­schen Hor­ror­sze­na­rio und Pazi­fis­mus-Uto­pie pen­deln­den Warn­ruf zunächst ein­mal dort zu ver­or­ten, wo er gesin­nungs­mä­ßig behei­ma­tet ist? In der Frie­dens- und Anti-Atom-Bewe­gung näm­lich seit den 1980ern oder den Oster­mär­schen. Er illus­triert gewiß nicht die Kom­ple­xi­tät der Nah­ost­fra­ge, die – wie Thors­ten Hinz in sei­ner scharf­sin­ni­gen Ana­ly­se (JF, 13. April 2012) schrieb – »kein Gedicht der Welt erfas­sen kann«. Aber, kon­zen­triert auf die Ver­hin­de­rung des Prä­ven­tiv­kriegs, will er das ja auch gar nicht.

Wie sei­ner­zeit nur die Pers­hings, nicht die SS-20 als Frie­dens­be­dro­hung im Fokus stan­den und die Guhas und Pau­se­wangs sogleich den ato­ma­ren Holo­caust beschwo­ren, so ent­hält auch die­ser Text Ein­sei­tig­kei­ten und Über­trei­bun­gen samt einer gegen die Real­po­li­tik gerich­te­ten Schlu­ß­i­dyl­le. Doch der­glei­chen galt damals in den pro­gres­si­ven Medi­en als wün­schens­wer­tes Politenga­ge­ment. Und der Spott über die zuwei­len gefor­der­te Aus­ge­wo­gen­heit gehör­te zum par­tei­li­chen Lebens­ge­fühl. Auch hat sich dar­an im Grun­de ja bis heu­te wenig geän­dert, sofern es nur die »Rich­ti­gen« trifft. Man den­ke an die allei­ni­ge Reduk­ti­on des 8. Mai auf Befreiungs­aspekte sowie die pole­mi­schen Ver­kür­zun­gen bezüg­lich der Wehr­macht­aus­stel­lung oder der Stu­die Das Amt, die viel­fach als Erkennt­nis­fort­schritt gefei­ert werden.

Kurz: Man wünscht(e), wenn es der guten Sache dient, gera­de­zu Poin­tie­run­gen. Und selbst Grass’ kurz­schlüs­si­ge Ver­bin­dung vom (gewiß kon­ven­tio­nel­len) Erst­schlag zur ato­ma­ren Ver­nich­tung Irans – der Text ver­bie­tet übri­gens nicht, sich die »Aus­lö­schung« erst in letz­ter Eska­la­ti­ons­stu­fe nach wech­sel­sei­ti­gen Feind­se­lig­kei­ten vor­zu­stel­len – ent­spricht den gän­gi­gen apo­ka­lyp­ti­schen Zuspit­zun­gen. Die­se Dia­gno­se zu ver­sach­li­chen, wäre Auf­ga­be der Kri­tik gewe­sen. Statt des­sen flo­gen die Fet­zen, als habe Grass in Stra­te­gie­fra­gen mit gezink­ten Kar­ten gespielt, als bele­ge jede rhe­to­ri­sche Über­stei­ge­rung ver­bor­ge­ne see­li­sche Abgrün­de oder mora­li­sche Roß­täu­sche­rei­en noch dazu eines gan­zen Volkes.

Ver­ba­le Unge­nau­ig­kei­ten ver­stär­ken das Gan­ze. Grass’ Sor­ge etwa, der Iran könn­te ver­nich­tet wer­den, mutiert bei einer gan­zen Legi­on von Inter­pre­ten zum pre­kä­ren Wunsch: »Jetzt wer­den die Juden als die­je­ni­gen ima­gi­niert, die ein gan­zes Volk ver­nich­ten wol­len« (Sibyl­le Lewitschar­off). Nur eine win­zi­ge Wort­ver­tau­schung also, und wir gelan­gen vom Poten­tia­lis einer gro­ßen Gefahr zur (von Juden­feind­schaft gepräg­ten) Dämo­ni­sie­rung Isra­els, die den Autor ins völ­li­ge gesell­schaft­li­che Abseits stellt. Bewährt haben sich der­glei­chen exege­ti­sche Fall­stri­cke schon in zahl­rei­chen Kam­pa­gnen zuvor. Sie gehö­ren zum Tages­ge­schäft gut­mensch­li­cher Inqui­si­to­ren von heu­te und sind auch Durs Grün­bein geläu­fig. Ihm zufol­ge zeigt das Gedicht näm­lich Isra­el als »häß­li­chen Atom­waf­fen­staat, der in der Regi­on immer nur Unfrie­den sät«. Bezeich­nen­der­wei­se endet sein Hala­li denn auch mit dem Bann­spruch: »Weg du, Gün­ter Grass!«

3. Fata­le Gesellschaft 

Auch Bei­fall von fal­scher Gesell­schaft des­avou­iert. »Falsch« steht hier für Zustim­mung durch Ira­ner, Ara­ber, NPD oder ande­re des Extre­mis­mus Ver­däch­tig­te. Dar­über hin­aus bucht man ver­schie­dent­lich das Aus­schlach­ten der Mel­dung durch Rechts­par­tei­en in Isra­el zu Las­ten des Autors.

4. Du sollst nicht vergleichen!

Ein (geschichts-)politisches Tabu liegt offen­bar auf jeg­li­chem Ver­gleich im Kon­text mit Juden, der zudem in der Regel zur Gleich­set­zung sim­pli­fi­ziert wird. Unser unver­gleich­lich hell­sich­ti­ger Außen­mi­nis­ter nann­te es denn auch »absurd«, Isra­el und Iran mora­lisch auf die glei­che Stu­fe zu stel­len. Und Ver­gleich­ba­res äußer­ten vie­le, von Netan­ja­hu über Tom Segev und Fritz Stern bis Andrea Nah­les. Mer­ke: Kon­flik­te, in denen Juden/Israelis ver­wi­ckelt sind, erklä­ren sich gemäß den Wün­schen der ein­schlä­gi­gen Lob­by weit­ge­hend ursa­che­los-mythisch aus­schließ­lich aus dem Dua­lis­mus zwi­schen Unschulds­lamm und Wolf.

5. »Gera­de der nicht …«

Größ­te Wir­kung ent­fal­ten Angrif­fe ad per­so­nam, machen Sach­er­ör­te­run­gen fast ent­behr­lich. Grass’ Jugend­sün­de in der SS bie­tet die gewünsch­te offe­ne Flan­ke, die ihn als Kri­ti­ker dis­qua­li­fi­zie­ren soll. Jahr­zehn­te­lang hat­te man sich mit sei­nen schril­len Deutsch­land-Ana­ly­sen muni­tio­niert. Doch bei Wider­spruch fällt er sofort in den Sta­tus eines inak­zep­ta­blen Gesprächs­part­ners zurück. »Der nicht«, lau­tet der Tenor von Anklä­gern wie Robert B. Gold­mann: Isra­el sei zwar neu­er­dings »legi­ti­mer Dis­kus­si­ons­ge­gen­stand«, »aber nicht für Grass und sei­ne SS-Kol­le­gen, die ihre eige­ne Ver­gan­gen­heit so lan­ge ver­leug­net haben.« Jacob Heil­brunn sekun­diert: »Ein ehe­ma­li­ges Mit­glied der SS … hat nicht das mora­li­sche Recht, Isra­el zu kri­ti­sie­ren.« Und wo das so ist, lie­gen offen­bar auch des­sen Aus­sa­gen im Bereich der Gedan­ken­kri­mi­na­li­tät. Daß sol­che har­sche Reak­ti­on gera­de das bestä­tigt, was das Gedicht bereits vor­aus­sag­te, stört offen­bar wenig.

6. Die Antisemitismus-Keule

Wir befin­den uns damit im Zen­trum des »argu­men­ta­ti­ven« Arse­nals: bei den Ver­nich­tungs­waf­fen. Eine klei­ne Kost­pro­be: »Was gesagt wer­den muß, ist, daß es zur euro­päi­schen Tra­di­ti­on gehört, die Juden vor dem Pessach-Fest des Ritual­mords anzu­kla­gen«, höhn­te Isra­els Bot­schaf­ter in Ber­lin. Auch der frü­he­re Gesand­te, Shi­mon Stein, Netan­ja­hu oder Ralph Giord­a­no (»Anschlag auf Isra­els Exis­tenz«) äußer­ten sich ent­spre­chend. Für den Zen­tral­rat der Juden in Deutsch­land resü­mier­te Die­ter Grau­mann: »Wer anti­se­mi­tisch agi­tiert, wer juden­feind­lich argu­men­tiert, wer anti­se­mi­ti­sche Kli­schees zuhauf ver­wen­det – was wäre der denn ande­res als ein Antisemit?«

Ein sol­cher Vor­wurf hat zwei Dimen­sio­nen. Er wirkt als unbe­ding­te per­sön­li­che Wider­le­gung sowie als Signal zur Deso­li­da­ri­sie­rung, das ehe­ma­li­ge Gesin­nungs­ge­nos­sen von Unter­stüt­zung abhal­ten soll. »Sage mir, mit wem du gehst, und ich sage dir, wer du bist.« Und da man­gels tat­säch­li­cher oder gar beken­nen­der Anti­se­mi­ten sich das Jagd­ter­rain in Deutsch­land zuneh­mend ver­klei­nert hat, gera­ten auch schein­ba­re oder unschein­ba­re Gesin­nungs­ver­feh­lun­gen ins Visier. Man dia­gnos­ti­ziert sub­ku­ta­nen, unbe­wuß­ten, »gepfleg­ten« oder »Anti­se­mi­tis­mus light«. Der Delin­quent braucht sel­ber kein Ras­sist zu sein (wie etwa Tom Segev oder Avi Pri­mor kon­ze­die­ren), es genügt bereits, »anti­semitische Deu­tungs­mus­ter« (Brum­lik) zu trans­por­tie­ren oder auf ent­spre­chen­de »Nei­gun­gen in Tei­len der Bevöl­ke­rung« (Reich-Rani­cki) anzuspielen.

Sol­che gehei­men Abgrün­de gleich­wohl zu ermit­teln, sind metho­disch geschul­te Spe­zia­lis­ten­teams am Werk, deren geis­ti­ges Rüst­zeug zuwei­len dem Hexen­ham­mer ent­lehnt scheint – allen vor­an Hen­ryk M. Bro­der, des­sen peri­odisch erup­ti­ve pole­mi­sche Schlicht­heit nur durch sei­ne Unbe­re­chen­bar­keit über­bo­ten wird: »Hieß es frü­her ›Die Juden sind unser Unglück!‹, so wird es ab heu­te ›Isra­el ist unser Unglück!‹ hei­ßen. Jetzt fehlt nur noch ein Update für ›Juda verrecke!‹«

Vie­le Kri­ti­ker bedie­nen sich exzes­siv der Psy­cho­ana­ly­se, bei der man ja ohne­hin kaum weiß, ob ihre The­ra­pie tat­säch­lich Frem­den gilt. Zumin­dest hat die Metho­de den Vor­teil, daß man, abseits von wört­li­cher Text­ex­ege­se, vor­wie­gend über ver­bor­ge­ne Moti­ve und Sub­tex­te spe­ku­lie­ren bzw. urtei­len kann. Nach Jeo­shua Sobol etwa erfand der ehe­ma­li­ge SS-Sol­dat Grass eine »wahn­haf­te Rea­li­tät«, die ihn ent­las­ten soll, weil Isra­el nun 80 inten­dier­te, statt 50 Mil­lio­nen rea­ler Toter, ange­dich­tet wür­den. (Daß der Blech­tromm­ler respek­ti­ve Deutsch­land übri­gens bei sol­chen Zah­len für den asia­ti­schen Kriegs­schau­platz mit­haf­tet, wen kümmert’s.)

7. Der kol­lek­ti­ve Böse?

Das »Der nicht« umfaßt zuwei­len ganz Deutsch­land, sofern es sich nicht einem per­ma­nen­ten Reue­ri­tu­al ergibt und gar sei­ner­seits Moral ein­for­dert. Von der Welt über Com­men­ta­ry bis Maa­riv kön­nen wir lesen, Grass’ Gedicht ver­lei­he »dem deut­schen Geist Aus­druck. Anti­zio­nis­mus ist ›koscher‹ und der poli­tisch kor­rek­te Ersatz für den alten Anti­se­mi­tis­mus gewor­den.« (Ben-Dror Yemi­ni) »Dank Gestal­ten wie Grass« sei­en »für Anti­se­mi­ten die bes­ten Tage in Euro­pa ange­bro­chen« (Jona­than S. Tobin). Und auch die Grü­nen-Abge­ord­ne­te Marie­lui­se Beck liebt Gemein­plät­ze: »Die­ser Text offen­bart die gan­ze Wahr­heit des Sat­zes ›Die Deut­schen wer­den den Juden Ausch­witz nie verzeihen.‹«

Deut­sches Über-die-Ban­de-Spie­len unter­stellt auch Man­fred Klei­ne-Hart­la­ge in einem bemer­kens­wert scho­nungs­lo­sen Bei­trag (SiN, 10. April 2012). Danach weh­re sich ein durch Schuld­kult dau­er­trau­ma­ti­sier­tes Volk durch Kri­tik an Isra­el, bestrei­te ihm in real­po­li­ti­scher Nai­vi­tät die robus­te Selbst­be­haup­tung und ver­üb­le ihm qua­si, daß es »nicht bereit ist, in Schön­heit zu ster­ben«. Viel­leicht gibt es sol­che Denk­mus­ter, aber ver­mut­lich weni­ger als Mehr­heits­mo­tiv. In der Brei­te bewegt die Deut­schen vor allem eines. Seit Jahr­zehn­ten wur­de ihnen ein­ge­bleut, daß Krieg­füh­ren und gar Angrei­fen böse ist und Isra­el gut. Der Umstand aber, daß nun Tel Aviv offen mit Prä­ven­tiv­schlag droht, führt (im Ver­ein mit frü­he­ren Aktio­nen im Irak, Liba­non oder West­jor­dan­land) zu gro­ßen Irri­ta­tio­nen. Im Irak-Krieg durf­te der Durch­schnitts­deut­sche noch (zu Schrö­ders Wahl­glück) gemäß sei­nem pazi­fis­ti­schen Pri­mär­re­flex emp­fin­den. Es waren ja bloß Ame­ri­ka­ner. Was aber, wenn die Guten angrei­fen? Da bre­chen Lebens­lü­gen einer über alle Zwei­fel erha­be­nen sitt­li­chen Weg­wei­sung zusam­men. Und die­sem Grund­ge­fühl hat Grass Aus­druck ver­lie­hen, in Kon­trast zu den Eier­tän­zen unse­rer poli­tisch-media­len Klas­se, die sich wegen der bekann­ten Zwän­ge nicht offen äußern darf oder will.

Für die­se Gesin­nungs­len­ker wird es künf­tig zuneh­mend schwe­rer, die Kluft zwi­schen öffent­li­cher und ver­öf­fent­lich­ter Mei­nung zu schlie­ßen. Denn die Wider­sprü­che meh­ren sich neu­er­dings aus ihren eige­nen Rei­hen, von Wal­ser bis Sar­ra­zin. Und es fragt sich, ob der Durch­schnitts­bür­ger auch künf­tig noch so reflex­haft spei­chelt, wenn die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gungs­glo­cke ertönt.

Für jüdi­sche Inter­es­sen­ver­tre­ter böte dies Anlaß zum Umden­ken. Ein biß­chen weni­ger ideo­lo­gi­scher Schraub­stock könn­te ein biß­chen mehr deut­sches Selbst­be­wußt­sein bewir­ken und ehr­li­che­re, von tat­säch­li­chem Ver­ständ­nis getra­ge­ne Bezie­hun­gen, was übri­gens von nicht weni­gen Juden außer­halb der Funk­tio­närs­ebe­ne begrüßt wür­de. Dann käme zwar kei­ne regie­rungs­amt­li­che Nibe­lun­gen­treue her­aus, aber viel­leicht auch kein ver­bo­ge­ner Men­schen­schlag, der sich pau­sen­los ver­stel­len muß oder, wie bei allen Glau­bens­ei­fe­rern, irgend­wann zum laut­star­ken Rene­ga­ten­tum neigt. Auch das sind – wie Grass zeigt – nicht immer ange­neh­me Zeitgenossen.

8. Böse Men­schen dich­ten schlecht

Eine kur­ze Blü­ten­le­se kenn­zeich­net das ästhe­ti­sche Tri­bu­nal: »Wenn der Grass-Text ein Gedicht sein soll«, habe sie gera­de, schrieb Sibyl­le Lewitschar­off, mit »drei melo­di­schen Für­zen eine neue Mat­thä­us-Pas­si­on kom­po­niert.« Ande­re Ver­glei­che bemü­hen ein »Por­zel­lan-Uri­nal« (Begley) oder »intel­lek­tu­el­le Senk­gru­ben« (Gil Yaron). Schirr­ma­cher sieht den Text »sprach­lich Licht­jah­re von irgend­ei­ner Art heut­zu­ta­ge prak­ti­zier­ter Lite­ra­tur ent­fernt«, und Klei­ne-Hart­la­ge will des­halb gar den Nobel­preis kassieren.

Ein­spruch, Euer Ehren! Zwar hat Grass bei sei­nem leicht rhyth­mi­sier­ten, ver­si­fi­zier­ten Appell wohl mehr an aktu­el­le Wir­kung als an Artis­tik gedacht. Aber ein Groß­teil der kol­lek­ti­ven Häme ent­springt per­sön­li­chen bzw. poli­ti­schen Aver­sio­nen. Das Gedicht ist kein Kunst­werk, aber auch nicht so abgrund­tief schlecht, wie es in durch­sich­ti­ger Her­ab­set­zung par­tei­über­grei­fend ein­ge­schätzt wird. Es reprä­sen­tiert eher ein durch­schnitt­li­ches Niveau poli­ti­scher Lyrik, z.B. im Bereich von Frie­dens­be­we­gung, Viet­nam-Gedich­ten oder der (anti-)faschistischen Agi­ta­ti­ons­li­te­ra­tur. Auch der »gro­ße Brecht« schuf wahr­lich nicht nur Meis­ter­wer­ke wie etwa »An die Nach­ge­bo­re­nen«, son­dern gar nicht so wenig unre­fle­xi­ve »Gebrauchs­tex­te« als Dutzendware.

Auch inhalt­lich han­delt es sich – bei allen etwas fah­ri­gen Über­trei­bun­gen, Feh­lern, Halb­her­zig­kei­ten oder anbie­dern­den Absi­che­run­gen – um kein Kloa­ken­pro­dukt. Es wider­spricht der all­zu simp­len Annah­me, daß man die­sen Teil der Welt auf Dau­er mit Bom­ben befrie­den kön­ne und daß der stän­di­ge Rekurs auf ver­meint­li­che Appease­ment-Leh­ren der Weis­heit letz­ter Schluß sei. Wen Grass’ Pro­phe­ten-Ges­tus, sein ego­zen­tri­sches Pathos (»mit letz­ter Tin­te«) oder die Rat­schlä­ge stö­ren, mag dem Gan­zen immer­hin ent­neh­men, daß in die­ser Kri­se etwas mehr deut­sche Zurück­hal­tung ange­bracht wäre. Weit vom Schuß und von Nach­rich­ten abhän­gig, die alles ande­re als objek­tiv oder inter­es­se­los gefer­tigt wer­den, geht es für uns ja auch weni­ger um Lösungs­vor­schlä­ge oder Rezep­te. Aus­ge­nom­men, die an die Bun­des­re­gie­rung, nicht gar zu voll­mun­dig mit der Staats­rai­son umzu­ge­hen, zumal uns in die­sem Rän­ke­spiel jen­seits der Kos­ten in der Tat nur ein Fuß­no­ten­da­sein zuge­bil­ligt ist.

9. Mei­nungs­frei­heit ja, aber so nicht …

Natür­lich keil­te ein Grass auf Kri­tik hin zurück. Er asso­zi­ier­te dabei Goeb­bels und Miel­ke, was erwart­ba­re Reak­tio­nen her­vor­rief. »Bewußt etwas Fal­sches sagen, um eine Wir­kung zu erzie­len«, schimpf­te Wer­ner Kol­hoff, »das nennt man Dem­ago­gie. Grass ist dabei ertappt wor­den. Man muß schon sehr dreist oder sehr hals­star­rig sein oder bei­des, um sich nun als Opfer einer gleich­ge­schal­te­ten Pres­se zu ver­kau­fen«. Thors­ten Hinz wie­der­um nann­te es »pos­sier­lich, wie auf den Vor­wurf, die Pres­se sei gleich­ge­schal­tet, eine Schafs­her­de deut­scher Jour­na­lis­ten sich wie ein Mann erhebt und mit einem ohren­be­täu­ben­den Blö­ken das Gegen­teil behauptet.«

Plu­ra­lis­mus-Ver­tei­di­ger argu­men­tie­ren, was Grass angeb­lich auf­de­cke, hät­ten im Prin­zip schon vie­le geschrie­ben. Unstatt­haft und unent­schuld­bar sei nur sei­ne völ­lig ver­fehl­te Aus­le­gung. Im übri­gen dür­fe man hier alles sagen. Tat­säch­lich sind auch hier­zu­lan­de Isra­el-kri­ti­sche Arti­kel erschie­nen. Doch eine ähn­li­che poli­ti­sche Zuspit­zung wie Grass, der über ein beträcht­li­ches Netz­werk ver­fügt, hät­te sonst nie­mand im deut­schen Feuil­le­ton zu Gehör brin­gen kön­nen: die Beschwer­de näm­lich, wie es nervt, Woche für Woche lesen zu müs­sen, daß aus­ge­rech­net an einem so sen­si­blen Kno­ten­punkt des Welt­ver­kehrs ein Mili­tär­schlag bevor­stün­de. Daß mit größ­ter Selbst­ver­ständ­lich­keit erör­tert wird, ob man bes­ser vor oder nach der US-Wahl angrei­fen soll­te, und Deutsch­land dis­kus­si­ons­los Waf­fen lie­fert. Und unan­ge­bracht scheint den Reak­tio­nen nach auch die Fest­stel­lung, daß Prä­ven­tiv­schlä­ge zunächst ein­mal den Welt­frie­den bedrohen.

Es mag ja Grün­de dafür geben, daß die­ser nicht »der Güter höchs­tes« ist. Aber die Besorg­nis davor muß unge­schminkt benannt wer­den dür­fen – auch gegen Inter­es­sen der Regie­rung in Tel Aviv, der das Gedicht zwei­fel­los zur Unzeit kommt. Es stört eine pro­pa­gan­dis­ti­sche Kriegs­vor­be­rei­tung, einer­lei, ob die­ser Angriff tat­säch­lich geplant oder nur eine Droh­ku­lis­se auf­ge­baut wer­den soll um bestimm­ter Abma­chun­gen oder sons­ti­ger Vor­tei­le wil­len, wie van Cre­feld schon län­ger ver­mu­te­te, der übri­gens von der unmit­tel­ba­ren Gefähr­dung durch Irans Nukle­ar­pro­gramm weni­ger beein­druckt scheint.

10. Pseu­do­li­be­ra­le Weichspülung

Zu den Keu­len­schwin­gern der Grass-Kon­tra­hen­ten gesell­ten sich mit fort­schrei­ten­der Debat­te kurio­ser­wei­se ver­mehrt (vor­geb­li­che) Isra­el-Kri­ti­ker, zumin­dest aber Netanjahu‑, Sied­lungs- oder Prä­ven­tiv­schlag-Geg­ner. Die ver­wahr­ten sich dann welt­män­nisch gegen ein illi­be­ra­les Ein­rei­se­ver­bot oder Pau­schal­ver­däch­ti­gun­gen bei Kri­tik, aber – und nun kommt das Ent­schei­den­de – so ein Gedicht, das gehe wirk­lich nicht. Bei aller hono­ri­gen Mus­te­rung (exem­pla­risch Fritz Sterns abwä­gen­des FAZ-Inter­view vom 14. April 2012) läuft die­se Hal­tung nun aber fak­tisch lei­der dar­auf hin­aus, sozu­sa­gen mit hal­ber Ladung das glei­che Ziel zu beschie­ßen. Denn zusam­men mit obi­gen Ver­dik­ten wir­ken sol­che State­ments ledig­lich als sub­ti­le­re Kam­pa­gnen-For­men einer Arbeits­tei­lung, wobei den geis­tig unbe­darf­te­ren Kol­le­gen der Part fürs Gro­be zufällt.

Doch wo man Grass und ande­ren im Kern die (mora­li­sche) Legi­ti­mi­tät ihrer Mei­nung bestrei­tet, also nicht nur sagt: »Du liegst gewal­tig dane­ben«, son­dern unter­schwel­lig ver­mit­telt: »Du bist ein Schur­ke«, inter­es­siert es wenig, wie dif­fe­ren­ziert dies geschieht. Der – wie ver­hal­ten auch immer – lan­cier­te Anti­se­mi­tis­mus-Vor­wurf ist kein Gesprächs­an­ge­bot, son­dern des­sen geis­tig erbärm­li­cher Abbruch. Er mar­kiert die Zone, wo Staats­an­wäl­te dro­hen, macht qua­si vogel­frei, dis­qua­li­fi­ziert Kon­tra­hen­ten im Kreis der Gesit­te­ten und zielt auf Ein­schüch­te­rung ähn­lich Emp­fin­den­der. Es ist auch fast zweck­los, sich dage­gen zu weh­ren, da immer »etwas hän­gen­bleibt«. Wer das ohne hin­rei­chen­de Bele­ge auch nur zuläßt, soll­te von auf­ge­klär­ter Dis­kus­si­ons­kul­tur schweigen.

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