Precht, der Mann mit dem zarten Gesicht, der sich mal drüber beklagte, daß die Deutschen Schönheit und Intellekt so schwer zusammendenken können, verkauft sich wahnsinnig gut, Träume von pädagogischen Revolutionen ebenfalls.
Prechts neues Buch hat auch einen traumhaft schönen Titel: Anna, die Schule und der liebe Gott. Aus Vorabdruck und Interview erfahren wir seine „zehn Prinzipien für eine Bildungsreform“; alles schon dagewesen. Kinder sollen „nicht mit schlechtem Unterricht traktiert“ werden, Kinder sollen spielerisch und vor allem „individuell“ lernen („es gibt mittlerweile so spannende Lernprogramme“), sie sollen in „nachvollziehbaren“ „Projekten“ lernen, „zum Beispiel zum Thema Klimawandel“.
Noten sollen abgeschafft, der Lehrer zum Lerncoach werden, Deutsch müsse ab der sechsten oder siebten Klasse nicht mehr als Fach angeboten werden. Die Coaches sollten alle vier Jahre ein „halbjähriges Sabbatcial“ einlegen, „damit sie neue Erfahrungen machen, etwa bei den Ureinwohnern in Australien.“
Mit dem ersten Lebensjahr sollen Krippen flächendeckend angeboten werden, ab dem 2. Geburtstag verpflichtend. „Ein Kind von der öffentlichen Gesellschaft fernzuhalten, in der es später leben muß, schadet sowohl dem Kind als auch der Gemeinschaft.“ Solche Sachen wünscht sich Herr Precht, und man hat dergleichen in den vergangenen Jahren wahrlich schon häufig gelesen. Aufregung darüber?, ach wo.
Am Anfang meiner Laufbahn als Schulkindmutter zählte ich mich noch zu den engagierten Eltern. Beobachtete die Lehrplanänderungen bei Regierungswechseln, sprach bei Lehrern vor, um solche Fragen zu klären: Wie denn genau, mit welchen Materialien, Inhalten und Zielsetzungen, in der Grundschule der Sexualaufklärungsunterricht vonstatten gehe? Weshalb so vehement „Schulmilch“ propagiert werde, wenn es sich dabei um sterilisierte, überzuckerte und mit künstlichen Geschmacksstoffen angereicherte Produkte handle? Warum selbst die Kartoffeln beim Schulessen nicht ohne Farbstoff auskämen? Warum aus der Quelle im Geschichtsunterricht eine wesentliche Passage herausgekürzt würde? Warum a) Vorsingen benotet werde und b) stets englischsprachige Popliebeslieder aus den frühen Neunzigern zur Auswahl stünden? Warum der Wandertag in einer fünfstündigen Busfahrt – Hin- und Rückfahrt zusammengerechnet) ‑mit dreistündigem Aufenthalt in einem interaktiven Museum bestehen müsse? Was sich die Damen und Herren der Behörde dabei dächten, Drittkläßlern zur landesweiten Lernstandskontrolle einen Text vorzulegen, in dem es darum geht, daß eine Schule illegal mit Grafitti verziert wurde und die Aufgabe sinngemäß lautet: Begründe in einem Brief an den verärgerten Rektor, warum die Grafitti-Aktion sinnvoll war!
Ach je, war man früher empfindlich! Geradezu weltverbesserisch! Mittlerweile bin ich gelassener. Die eigenen Kinder müssen die „Milch“ ja nicht trinken und die „Kartoffeln“ nicht essen. Sie können auch mal plötzlich erkranken, wenn fragwürdige Kulturtrips anstehen. Und vor allem: Sie überstehen das alles, die Lektüren, die Mißwahlen, die Lieder. Dem Wort eines berühmten Sohnes unserer Region getreu: „Was mich nicht umbringt, macht mich nur stärker.“
Nein, ich rufe nicht mehr an, wenn mir eine Aufgabe oder ein Ausflug hirnrissig erscheint; wir kanzeln solche Dinge mit häuslicher Ironie ab. Heimlich brodelt´s manchmal doch, und zwar dann, wenn es um Gefühlspädagogik geht, ein extrem manipulatives Bildungsinstrument. Beispiele aus der vergangenen Woche, nach Klassen aufsteigend:
- In der Grundschule ist „Kinder dieser Welt“ Jahresmotto. Es geht um universelle Kinderrechte, die auswendig gelernt werden müssen. Jedes Kind hat ein Recht auf einen Namen, auf eine liebevolle Umarmung, auf Frieden etc.
Die sogenannten Kids müssen Blätter ausfüllen: Kreuze an, welche Gefühle Du mit dem Wort Zuhause verbindest: Geborgenheit? Unterdrückung? Zwang? Liebe? Oder: „ Hast Du eine Idee, wie man den Kindern dieser Welt zu mehr Rechten verhelfen könnte?“ Mein Sohn hat diese Arbeitsblätter in der Schule ausgefüllt. Drei Zeilen waren für die Antwort frei, er hat nur ein Wort geschrieben „Nein.“ Punktabzug?
- Unsere Fünftkläßlerin hat eine hervorragende und kluge Deutschlehrerin, ein sehr passables Deutschbuch (oldenbourg) und derzeit das Thema „Fremd sein – Anders sein“. Gelesen wird ein Ausschnitt aus dem Jugendbuch Milchkaffe und Streuselkuchen. Kurzinhalt: Sammy ist ein Skateboard-Talent und lebt im Asylantenheim.
Jugendliche belagern unter den Augen von gaffenden Zuschauern das Haus und werfen eine Brandbombe in Sammys Zimmer. Sammys Teddy brennt lichterloh. Als auch die Decke brennt, zieht Sammy sie zum Fenster und wirft sie hinaus. Das macht die Menschen da draußen wütend, und mit diesem Ausruf endet der Buchauszug: „Was fällt dir eigentlich ein? Hier unten stehen doch Kinder!“
Aufgabe 1: Die Schüler sollen sich vorstellen, es handele sich hierbei um eine Filmszene: „Überlege dir, welche Hintergrundmusik du wählen würdest. Wähle selbst ein Adjektiv: dumpf, getragen, heiter, fröhlich, drohend, eindringlich… ” Aufgabe 2: Finde eine Überschrift!
- Die Klasse meiner elfjährigen Tochter „geht“ zum „Wandertag“ ins Theater, ins preisgekrönte (dm-Autorenpreis) Stück Liebe. Liebe! Liebe?: „Wer bin ich eigentlich? Was ist mit meinem Körper los? Ist das, was ich da spüre, die sogenannte Liebe? Und wenn ja: was tun?“, so lauten die pädagogisch-rhetorischen Fragen auf dem Werbezettel.
Wenn Schulklassen ins Theater geschickt werden, geht es für gewöhnlich nicht um die Vermittlung eines Stücks Hochkultur. Bloß die „Kids“ nicht verschrecken! Mit ollem Zeug, mit dem man heut nicht mal ihre Eltern und Großeltern vor dem Fernseher hervorlockt! Macht´s ihnen saftig, macht´s ihnen deftig, holt sie vor allem da ab, wo sie stehen, sitzen, liegen, unsere junge Gymnasiasten.
Hier nun reden „drei junge Leute über Pubertät, Verliebt sein, Sex und Liebe. Mal betont cool, dann unerwartet emotional, spielen sie szenisch verschiedene Situationen rund um diese Themen durch und stellen Fragen, auf die einem Schule und Eltern die Antwort schuldig bleiben. Ein wichtiges Stück für junge Menschen in unserer Zeit zunehmender emotionaler Verarmung.“
Das Theaterstück des ungemein sympathisch wirkenden Autors Thomas B. Hoffmann will „Generationen- und Geschlechtergrenzen“ überspringen und dadurch „für einen vielfach differenzierten Blick auf das komplexe Thema“ sorgen. „Ein Plädoyer für die Liebe in all ihrer Vielfalt. Ein wichtiges Stück für junge Menschen in unserer Zeit zunehmender emotionaler Verarmung.“
Ja, die „emotionale“ Erziehung spielt heute eine Hauptrolle im Schulbusiness!
Im Deutschunterricht meiner Elfjährigen haben sie erst Harry Potter gelesen, dann den Klassiker Sonst kommst du dran von Maja Gerber-Hess (Thema Mobbing/Alkoholismus), den auch schon die älteren Geschwister samt „Lesetagebuch“ hinter sich gebracht haben. Aufgabenbeispiele: „Schreibe folgende Satzanfänge auf und ergänze sie: Liebe ist… Liebe schmeckt wie… Liebe hört sich an wie…“ ; oder „Meine Meinung zu Alkohol und Drogen:“
Nun ist, abermals alkoholproblemgetränkt Hau ab du Flasche dran, 47. Auflage. Literatur im Massengymnasium! Anschließend das erwähnte Emo-Sex-Pubertätsstückchen. Meine Tochter wird voraussichtlich dieses Bühnenerlebnis in ihrer kulturellen Biographie entbehren, das Stück ist für „Menschen ab 14 annonciert“, ich werde also guten Gewissens sagen können: Auf dem Niveau ist sie noch nicht.
Mit Empathietraining beschäftigen sich die beiden ältesten Töchter gerade im Französischunterricht: Bei einer ging es eben um Samia, die aus Algerien stammt, eine analphabetische, so liebevolle wie ehrgeizige Mutter hat und seit ihrer Kindheit in Frankreich nur ignoriert oder niedergemacht wird. Mittlerweile ist Samia eine Karrierefrau, stellt aber traurig fest: Für alle anderen ist sie immer noch bloß „L´Arabe“.
Die andere Große hat gerade im Klett-Französischbuch Découvertes einen Comic übersprungen: Ein farbiger Mensch wird von einer Gruppe Weißer erst überfallen, dann brutal zusammengeschlagen.
Szenen aus dem Leben, fraglos, alles. Möchte betonen: Das sind keine Sammelstücke aus den vergangenen Jahren, sondern exakt aus der letzten Woche. Herr Precht fordert, der Unterricht der Zukunft müsse „nachhaltigen positiven Effekt auf unsere Psyche“ haben. Da jedenfalls schließe ich mich an.
eulenfurz
Ja, das ist der realexitierende Psychoterror. Jene Ebenen der "Kids", die der Fernseher nicht erreicht, sollen von der Verwahranstalt ausgefüllt werden.
Die heutige Psychodressur ist subtiler, als die Holzhammerpropaganda der DDR-Schulen.