“Mut zur Geschichte!” – Bericht vom 22. Berliner Kolleg

von Sebastian Pella

Im Jahr 1983 veröffentlichte der große nationalkonservative Historiker Hellmut Diwald sein programmatisches Buch Mut zur Geschichte.

Ange­lehnt an die­sen Titel fand am 13. April das 22. Ber­li­ner Kol­leg des Insti­tuts für Staats­po­li­tik statt, das die Kon­ti­nui­tät „1813 – 1913 – 2013“ the­ma­ti­sier­te und somit der Fra­ge nach­ging, wie die Rezep­ti­on des schick­sal­haf­ten und die deut­sche Nati­on einen­den Jah­res 1813 bis in unse­re Tage hin­ein aussieht.

Hell­mut Diwalds Wor­te von 1983 sind gera­de­zu prä­de­sti­niert, als Hin­füh­rung zu einer nati­ons­be­ja­hen­den und patrio­ti­schen Erin­ne­rung an das Jahr 1813 zu dienen:

Mit der „geschicht­li­chen Stel­lung“ ist nichts ewig Gleich­blei­ben­des, ein gewis­ser­ma­ßen expe­ri­men­tell nach­weis­ba­rer fes­ter Ort inner­halb des his­to­ri­schen Ablaufs gemeint. Es han­delt sich viel­mehr um die all­ge­mein-poli­ti­sche und kul­tu­rell-geis­ti­ge Inter­pre­ta­ti­on, die sich aus dem eige­nen his­to­ri­schen Weg ergibt: um eine Aus­deu­tung des bis­he­ri­gen Ver­gan­gen­heit, um die Auf­ga­ben inner­halb der Gegen­wart und um die Ziel­set­zung in der Zukunft.

In dem die­ses Zitat abschlie­ßen­den Satz sind im Grun­de auch die Kern­an­lie­gen des Ber­li­ner Kol­legs zusam­men­ge­faßt. Zur Ein­füh­rung begrüß­te Dr. Erik Leh­nert, Geschäfts­füh­rer des Insti­tuts für Staats­po­li­tik, die anwe­sen­den 120 Zuhö­rer und zeig­te anhand von Bei­spie­len auf, daß es heu­te „offen­bar gelun­gen ist, eines der erhe­bends­ten Ereig­nis­se der deut­schen Geschich­te zu einer natio­na­len Ursün­de umzu­deu­ten“. Dem­ge­mäß soll­te das Ber­li­ner Kol­leg eine fun­dier­te Gegen-Öffent­lich­keit her­stel­len und das Jahr 1813 als das dar­stel­len, was es war: die Geburts­stun­de des gesamt­deut­schen Natio­nal­be­wußt­seins. Herrsch­te noch zum hun­dert­jäh­ri­gen Jubi­lä­um 1913 eine patrio­ti­sche und aus dem Volk erwach­se­ne Erin­ne­rungs- und Gedenk­kul­tur, fehlt 2013 der „Mut zur Geschich­te“ völ­lig und die Gedenk­ver­an­stal­tun­gen müs­sen mit der Lupe im erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Nie­mands­land gesucht werden.

Als Gip­fel der Dreis­tig­keit führ­te Leh­nert die Frank­fur­ter Rund­schau sowie die Zeit­schrift GEO (03/2013) an, in denen der Befrei­ungs­kampf gegen die napo­leo­ni­sche Fremd­herr­schaft gera­de­zu als Beginn des mit Hit­ler enden­den deut­schen Son­der­wegs dar­ge­stellt und des­halb die Natio­na­le Erhe­bung von 1813 gänz­lich infra­ge gestellt wird: „Wenn man zurück­schaut auf die Kos­ten, wäre die ande­re Tri­ko­lo­re, die blau-weiß-rote, viel­leicht gar kei­ne so schlech­te Wahl gewesen.“

Hier­nach refe­rier­te der Ber­li­ner His­to­ri­ker Jan von Flo­cken kennt­nis­reich und kurz­wei­lig über „Die Befrei­ungs­krie­ge und die Geburt einer Nati­on“, der aus­ge­hend von all­tags­ge­schicht­li­chen Epi­so­den aus der napo­leo­ni­schen Besat­zung in Ber­lin den Bogen zu dem wach­sen­den Wider­wil­len und teils offe­nen Haß gegen­über der fran­zö­si­schen Fremd­herr­schaft schlug. In sei­nen Vor­trag über die Ent­ste­hung des „deut­schen Ein­heits- und Frei­heits­wil­len“ bau­te Flo­cken zahl­rei­che Zita­te der gro­ßen deut­schen und preu­ßi­schen Geis­ter aus der Zeit der Befrei­ungs­krie­ge ein und prä­sen­tier­te dem Publi­kum so leb­haf­te Begeg­nun­gen mit Fich­te, Arndt, Kleist und Kör­ner. Ins­be­son­de­re die Rol­le des Gene­ral­leut­nants York von War­ten­burg zum Jah­res­wech­sel 1812/13 wür­dig­te der Refe­rent aus­gie­big und stell­te des­sen Befehls­ver­wei­ge­rung gegen­über sei­nem König als Akt des Frei­heits­kamp­fes und ‑wil­lens her­aus. Die­ser erst mach­te den Weg für den berühm­ten Auf­ruf An Mein Volk des preu­ßi­schen Königs Fried­rich Wil­helm III. frei, der als Anfangs­punkt für die Befrei­ungs­krie­ge gilt.

Zu recht wies Flo­cken dar­auf hin, daß zunächst nur Preu­ßen, Meck­len­burg und Anhalt die Erhe­bung gegen Frank­reich wag­ten und sich die ande­ren deut­schen Ein­zel­staa­ten erst nach und nach anschlos­sen. Das Ver­dienst der Natio­na­len Erhe­bung und der Besei­ti­gung der Fremd­herr­schaft in einem gemein­sa­men Kampf der deut­schen Stäm­me lag dar­in, die Deut­sche Fra­ge auf die stän­di­ge Tages­ord­nung gesetzt zu haben. Trotz man­nig­fal­ti­ger Rück­schlä­ge im Zeit­al­ter der Restau­ra­ti­on war doch die Saat gelegt, die 1871 mit der Reichs­ei­ni­gung auf­ge­hen soll­te und zumin­dest eine klein­deut­sche Lösung bereithielt.

Den nächs­ten Pro­gramm­punkt setz­te der eme­ri­tier­te Pro­fes­sor für Alte Geschich­te, Dr. Micha­el Stahl, der über „Karl Fried­rich Schin­kel und die ästhe­ti­sche Erzie­hung der Deut­schen“ vor­trug. In sei­nen ein­füh­ren­den Wor­ten leg­te Stahl die Beweg­grün­de für sei­ne Beschäf­ti­gung mit Schin­kel dar. Er wol­le einen Drit­ten Weg fern­ab von den anti­quier­ten Kate­go­rien rechts und links auf­zei­gen, der sich für ihn im Kon­ser­va­tis­mus als Garant der Frei­heit und Ver­ant­wor­tung mani­fes­tie­re. Bezug­neh­mend auf die Grie­chi­sche und Römi­sche Anti­ke plä­dier­te Stahl für einen Kon­ser­va­tis­mus (und damit Drit­ten Weg), der die Bil­dung zur ästhe­ti­schen Selbst­er­zie­hung in den Mit­tel­punkt des Han­delns rückt. Hier­aus erwach­se das poli­ti­sche Ethos von Frei­heit und Ver­ant­wor­tung sowie das ästhe­tisch Schö­ne, mit­un­ter „das Wah­re und das Gute“. Denn in die­sem Schö­nen und Ästhe­ti­schen wer­de das Gött­li­che für den Men­schen greif­bar und somit eine inte­gra­le Kraft frei­ge­setzt, die kei­nen staat­li­chen Ein­griff nötig mache, um eine sta­bi­le und soli­da­ri­sche Gemein­schaft zu begrün­den, son­dern hier­für ein Bewußt­sein im Volk erwach­sen ließe.

Bezug­neh­mend auf Win­ckel­mann und Schil­ler schlug der Refe­rent dann den Bogen zu sei­nem Unter­su­chungs­ge­gen­stand Karl Fried­rich Schin­kel, des­sen bau­li­che Haupt­wer­ke alle­samt Bil­dungs­stät­ten gewe­sen sind und der das Ide­al eines sich in Geist und Schön­heit selbst bil­den­den Bür­gers vor Augen hat­te. Stahl erblick­te in sei­nem mit reich­lich Bild­ma­te­ri­al illus­trier­tem Vor­trag eine Ein­heit von Schin­kels Idee der Schön­heit mit Schil­lers Idee der ästhe­ti­schen Erzie­hung. Detail­reich wur­de dar­ge­legt, wie Schin­kel die Ein­heit des Vol­kes in einer Nati­on anstreb­te, die­se aber in einer „repu­bli­ka­ni­schen Mon­ar­chie“ ver­wirk­licht sehen woll­te. Im Grun­de ging es Schin­kel dar­um, ein poli­ti­sches Ethos im Volk zu stif­ten, das die Vor­aus­set­zun­gen für eine kon­ser­va­ti­ve Sozi­al­mon­ar­chie schaf­fen wür­de. Doch mit dem Impuls der Natio­na­len Erhe­bung 1813 kon­zen­trier­te sich Schin­kels Wir­ken dar­auf, eine neue Ord­nung mit­tels der Kunst zu ent­wer­fen, in deren Zen­trum eine Bür­ger­ge­sell­schaft aus Kraft, Frei­heit und Ein­heit ste­hen soll­te, die ganz dem Geni­us Preu­ßen ver­pflich­tet sein müsse.

Wei­ter führ­te Stahl aus, wie Schin­kels „Stre­ben nach dem Ide­al“ die umfas­sen­de Lebens­welt in den Blick nahm und an alte Tra­di­tio­nen anknüpf­te, um Neu­es zu erschaf­fen: die ästhe­ti­sche For­men­welt Alt-Euro­pas nutz­te Schin­kel in die­sem Sin­ne, um eine deut­sche Iden­ti­tät zu stif­ten. Auch the­ma­ti­sier­te Stahl den von Schin­kel ent­wor­fe­nen Memo­ri­al­bau für die deut­schen Gefal­le­nen von 1813, der aus dynas­ti­schen Grün­den und den unheil­vol­len Vor­bo­ten der Restau­ra­ti­on nur in klei­nem Rah­men als Denk­mal (für die preu­ßi­schen Gefal­le­nen) auf dem Ber­li­ner Kreuz­berg rea­li­siert wur­de. Abschlie­ßend erin­ner­te der Vor­tra­gen­de noch an das von Schin­kel ent­wor­fe­ne Eiser­ne Kreuz, das die­ser als Zei­chen der Kraft­an­stren­gung eines geein­ten Volks kreierte.

„1813–1913-2013. Die gelun­ge­ne Rezep­ti­on eines Mythos und der feh­len­de Mut zur Geschich­te“ lau­te­te der Titel von Dr. Karl­heinz Weiß­manns Vor­trag. Der Wis­sen­schaft­li­che Lei­ter des Insti­tuts für Staats­po­li­tik begann mit der von Dr. Leh­nert in der Ein­füh­rung dar­ge­leg­ten Geschichts­ver­ges­sen­heit der deut­schen Gesell­schaft im Jahr 2013. Dem Geden­ken an 200 Jah­re Befrei­ungs­krie­ge sind in die­sem Jahr nur loka­le Ver­an­stal­tun­gen im Leip­zi­ger Raum gewid­met, doch ein gesamt­deut­scher Bezug wird auch hier nicht her­ge­stellt. Das offi­ziö­se Schwei­gen erklärt sich gemäß Weiß­mann damit, daß das kol­lek­ti­ve Bewußt­sein der Deut­schen für das Schick­sals­jahr 1813 von den Besat­zungs­mäch­ten nach 1945 sys­te­ma­tisch aus­ge­merzt wur­de. Dies war im Jahr 1913 voll­kom­men anders.

Als der ideo­lo­gi­sche Kul­tur­krieg gegen das Deut­sche Reich im Jahr 1914 aus­brach, war sich das Deut­sche Volk gewiß, an die „Ideen von 1813“ nun­mehr mit den „Ideen von 1914“ anzu­knüp­fen und die­se in Front­stel­lung zu den „Ideen von 1789“ zu stel­len. Erneut wur­de die Natio­na­le Erhe­bung beschwo­ren und eine aber­ma­li­ge Ent­fes­se­lung der Deut­schen Bewe­gung pro­pa­giert. Dies vor dem Hin­ter­grund einer Wel­le von vater­län­di­schen Ver­an­stal­tun­gen im Jahr 1913, der Hun­dert­jahr­fei­er der Befrei­ungs­krie­ge, die mit der Ein­wei­hung des Völ­ker­schlacht­denk­mals in Leip­zig ihren Höhe­punkt fan­den. Weiß­mann knüpf­te in der fol­gend dar­ge­leg­ten Rezep­ti­ons­ge­schich­te von 1813 an einen im Jahr 2006 anläß­lich des 12. Ber­li­ner Kol­legs gehal­te­nen Vor­trag zum The­ma „Die Preu­ßi­sche Revo­lu­ti­on: 1806 – 1809 – 1813“ an und zeig­te auf, wie in Kai­ser­reich, Wei­ma­rer Repu­blik und Natio­nal­so­zia­lis­mus Bezugs­punk­te zu 1813 her­ge­stellt wurden.

Hier­nach beleuch­te­te er das durch­aus posi­ti­ve Ver­hält­nis der DDR zu ihrem preu­ßisch-deut­schen Erbe und ende­te mit einem Blick auf die west­deut­sche Nati­ons­ver­ges­sen­heit, die im Hin­blick auf das Tot­schwei­gen des 200. Jubi­lä­ums ihren trau­ri­gen Höhe­punkt fin­det. Weiß­mann beklag­te abschlie­ßend den deut­schen Erin­ne­rungs­ver­lust, hält die­sen aber in einem Staat wie die­sem für fol­ge­rich­tig, da die natio­nal-revo­lu­tio­nä­ren und preu­ßisch-patrio­ti­schen Anklän­ge der Erhe­bung von 1813 zutiefst reak­tio­när und ver­däch­tig wir­ken müs­sen. Doch wäre die Erin­ne­rung an unse­re Tra­di­tio­nen für die poli­ti­sche und volk­li­che Gemein­schaft essen­ti­ell, da der Mensch ohne Erin­ne­rung und Tra­di­ti­on iden­ti­täts­los würde.

Das Schlüs­sel­jahr 1813 müs­se wie­der Bezugs­punkt für die gemein­schafts­stif­ten­de Iden­ti­tät des Deut­schen Vol­kes und damit unse­res Natio­nal­be­wußt­seins wer­den. Des­halb ist das Nicht­er­in­nern an die Befrei­ungs­krie­ge („1813 als Geburts­stun­de unse­res Vol­kes“) kei­ne geschichts­po­li­ti­sche Klei­nig­keit, son­dern die mut­wil­li­ge Zer­stö­rung des deut­schen Erbes, unse­rer Geschich­te und damit Iden­ti­tät! Des­halb for­dert Weiß­mann abschlie­ßend: „Habt Mut zur Geschichte!“

Oder mit Hell­mut Diwald gesprochen:

Ein Volk, das sich sei­ner Ver­gan­gen­heit berau­ben, sei­ne Erin­ne­rung ver­zer­ren und sei­nen Selbst­wert ver­stüm­meln läßt, ent­wur­zelt sei­ne Exis­tenz. Wer dies ein­sieht und ent­spre­chend han­delt, für den kann die Geschich­te wie­der zum Nagel wer­den, an dem unser Bild hängt.

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