und Ereignissen „Authentizität“, das Echte und Unverwechselbare, vermißt und also unbewußt ersehnt? Alles Ursprüngliche wurde längst zugeplattet, gedämpft und gedämmt, umzäunt und entschärft
Offenbar verheißen Sterilisation und hermetische Systeme Sicherheit. Wirklich Authentisches gilt mittlerweile als unberechenbar. Es widersetzt sich den Normierungen. Natürliche Herzlichkeit etwa weckt Befremden: Was ist denn mit dem los? – Überhaupt fällt die Natur wieder ins Unbekannte zurück und erscheint dabei immer gefährlicher. Überall Keime! Und wie man hört, kehren sogar die Wölfe zurück. Also schnell die Schüler aktenkundig belehren!
Kinder werden auf den Rücksitzen gepflegter Mittelklasse-Wagen groß, festgeschnallt wie Astronauten in TÜV-zertifizierten Sitzen. Sie haben bereits eine Menge Termine. Vielleicht geht’s gerade zu einer Kids-Party im Indoor-Spieleland „Adventure-Park“. Die natürliche Welt bleibt sicherheitshalber hinter Sicherheitsglas verborgen. Statt Kaninchenfutter zu besorgen, kann man auf dem Smart-Phone seinen gliederlosen Pou mit virtuellem Sushi füttern. Und das Faszinosum Technik? Gibt’s da noch was über Media-Markt hinaus? Der Motor von Papas Auto ist wohl leistungsstark, ein säuselndes Kraftpaket verläßlich summender Hochtechnologie, aber verborgen und fremd, so unbekannt wie draußen der blühende Ahorn der Allee, von dem keiner im Wagen auch nur den Namen weiß. Ahorn kennt man vom Frühstückstisch, als Ahornsirup, aus Kanada wohl.
Ach, Kanada! Ja, das wäre mal was ganz anderes! Indian Summer! Traumhaft exotisch! Oder Australien. Oder Neuseeland. Hauptsache, weit weg, möglichst bei den Antipoden, fern wie die Schlachten aus dem „Herrn der Ringe“, die von DVD laufen. Obwohl die schon auf alt- und mittelhochdeutsch geschlagen wurden. Mythos und „Fantasy“ sind beliebt. Man sehnt sich nach Erlebnis, Bewährung und Heldentaten, obwohl man kaum mehr einen 3000-Meter-Lauf durchstünde. Man trägt ja auch Jack-Wolfskin-Kleidung, ohne je in die Wildnis zu kommen; blickt auf bombsatische Fliegeruhren, ohne abzuheben, und bevorzugt starke Landrover, ohne daß man deren Chrom je eine Strecke Schlamm zumuten würde.
In Deutschland tragen die Chausseebäume Nummern aus Plastik. Sicher zu ihrem eigenen Schutz. Und die Vertragswerkstätten fürs Auto erscheinen heute so sauber wie früher die Kliniken. Sind die in den weißen Kitteln eigentlich noch richtige Schlosser? Alles so glatt, abwischbar und geruchsneutral. Kein Ölgeruch, nein, weißes Apple-Design, schöne, neu verputzte Welt. Sein Auto fährt man nicht mehr zur Reparatur, man bringt es – scheckheftgepflegt – zur Diagnose. So wie man sich selbst eben ab und an „durchchecken“ läßt, um mit erneuerter Garantie weiter seinen Konsumentenstoffwechsel zu betreiben.
Starteten wir, Ostjahrgang Mitte Sechziger, im Unterricht „Einführung in die sozialistische Produktion“, dem Technikunterricht der DDR, mit vierzehn, fünfzehn endlich den Ausbildungstraktor, um damit erst fahren und dann Anhänger ziehen oder gar pflügen zu lernen, passierte mit dem Viertakt-Diesel richtig was. Er ballerte los und stieß eine schwarze Wolke aus. Erst bekam man es mit der Furcht, dann aber wuchs der Stolz, eine kräftige Maschine steuern zu können. Sie im Griff zu haben. Das war der Ritt auf einem Drachen durchs Dorf und, gewaltigen Eindruck schindend, an den Weibern auf der Kartoffelkombine vorbei. Ein Traktor mit hundert Pferdestärken war ein ganz anderes Stück Technik als der Föhn, mit dem sich heutzutage Justin oder Kevin im Bad die Haare machen. (Und wer von uns Dreckfinken brauchte oder hatte schon ein Bad?)
Aber nicht erst mit Maschinen und Traktoren initiierten uns die Alten. Ich vergesse nicht den Geruch der Erde bei all dem Umgraben, Grubbern, Harken, Jäten, Rüben verziehen, Kartoffeln sammeln, Rote Beete ernten – diesen einfachen Tätigkeiten, die einem mit hohem, ja weihevollem Ernst erklärt wurden. Und mit einer Strenge, die heute vermutlich als faschistisch gelten würde: Mach’s richtig! Oder gar nicht! Erklären wir dir einmal, vielleicht zweimal, aber dann muß es klappen. – Und mach bloß keinen Schrott!
Alles duftete. Die Ställe rochen nach Mist, nach Futterschrot und Milch, so wie die Männer und Frauen, die dort arbeiteten. Überhaupt duftete alles. Werden und Vergehen, Fäulnis und Zeugung noch dicht beieinander. Selbst der Diesel der Sowjetarmee duftete. Anders. Regelmäßig grollten deren Kolonnen durchs Dorf. Russische Gesichter und jene ihrer Anhangsvölkerschaften, alle Gesichter Eurasiens, kaukasische, asiatische, orientalische, sibirische, also beinahe indianische. Wir winkten. Sie hätten uns den Frieden gebracht, erklärte die Schule. Mein Vater erklärte es umfassender und leiser; er winkte auch nicht. Jedenfalls hielten uns diese Panzer in einer weltgeschichtlichen Pause von ein paar Jahrzehnten gefangen, in denen die Welt noch duftete.
Verklärung! Postindustriell romantischer Blick aufs industrielle Zeitalter! Idyllisierung der Diktatur! Blut-und-Boden-Propaganda auf sozialistisch! Mauerromantik! – Mag sein. Gewissermaßen wurden wir ja in der Reservation geboren. Bis die Freiheit kam, also das Recht und der Markt – und damit all die Waren mit dem Intershop-Duft, der dann die anderen Gerüche überlagerte. Und die Kinder endlich zu McDonalds konnten, die Männer Bier aus bunten Büchsen tranken statt Pritzwalker Hell und die Frauen sich die Achselhöhlen rasierten. Gut so.
Nur, wo sind die Abenteuer hin? Und weshalb haben so viele zum “hyperkinetischen Syndrom” noch diese Laktoseunverträglichkeit und all die Hausstaub- und sonstige Allergien? Und weshalb stehen alle so auf Ganztagsschule, anstatt nachmittags an der Löcknitz Hechte zu blinkern – für sonntags, für gedünsteten Hecht auf Gemüse? Und weshalb will kaum mehr einer richtig Trecker fahren?
Hesperiolus
Für die Bedeutungsherkunft von "authentisch" verweist das Wörterbuch uns auf den "zuverlässigen Gewährsmann". Woher diese Gewähr kommt sagt das "Echte": "echt", althochdeutsch eohaft, heißt "der Sitte entsprechend", "fromm". Ewe klingt an, die das alte und Gewohnheitsrecht meint. Ewe, das ist zeitliche Ewigkeit eines Volkes, seine Dauer und Lebenszeit, solange seine Überlieferung reicht und gelten mag. "Ewig" ist ein Volk, das und solange seine Sitte waltet, solange seine Nachkommen "ehelich", d.h. aus dieser Treue geboren werden. Echt ist keiner mehr, dessen Herz und Seele durch american cool, das tödlichste Ethno-Psychozid, vergiftet worden sind. Identitäre müssten echt, müssten ehelich in diesem Sinne werden, gegen das cool im Brei des Pop immun geworden sein, um einen neuen, den "authentischen" Anfang und Ausweg wagen zu können.