Er hat dort wieder einmal “Europa” beschworen und Deutschland gemahnt. Vor “deutscher Kurzsichtigkeit, die ins Abseits führe und die Europäische Union im schlimmsten Fall zerstören könnte.” So protokolliert es Cerstin Gammelin in der SZ. Deutschland, meint Habermas, spiele derzeit die Schlüsselrolle und trage insofern die Verantwortung fürs Ganze. Wie immer. Und wir sollen wissen: Meist, eigentlich immer, hätte es total versagt.
Man darf das als politisch engagierter Philosoph sicher so sehen, insbesondere wenn der eigene Beitrag zur Philosophiegeschichte in diskurs‑, handlungs- und rationalitätstheoretischen Herleitungen besteht, die versuchen, das Erbe der Aufklärung weiterzutragen – ganz Optimismus der westeuropäischen Nachkriegszeit, verstärkt durch amerikanischen Pragmatismus. Allerdings erscheint es fragwürdig, wenn gerade dafür ein Bezug zu 1871 hergestellt wird, der Ludwig Dehios Diktum folgt, Deutschland wäre mit Wiedervereinigung und seiner neuen Rolle in Europa wieder mal in eine fatale Position geraten – zu schwach, den Kontinent zu dominieren, aber zu stark, sich darin einzuordnen.
Jürgen Habermas beargwöhnt den Nationalismus, insbesondere den deutschen: “Wir Deutschen sollten aus den Katastrophen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelernt haben, daß es in unserem nationalen Interesse ist, permanent das Dilemma des halbhegemonialen Status zu vermeiden.” So schreibt es Cerstin Gammelin mit. – Nun ist es zwar gar nicht angezeigt, im Jahr 2013 die europäische Lage von 1871 bilanzieren zu müssen, aber wie Habermas mit diesem Datum umgeht, erhellt eine Menge über linke Auffassungen zur deutschen Geschichte. Demzufolge stand das relativ spät zum Nationalstaat gewordene Deutschland 1871 plötzlich als imperialistischer Lümmel mit Pickelhaube mitten auf dem Kontinent und provozierte allein durch seine Existenz alle Nachbarn. Keine Rede von Bismarcks ehrlicher Saturiertheitserklärung oder davon, daß alle anderen wirtschaftlich leistungsfähigen Staaten damals nicht nur ebenso nationalen Interessen folgten, sondern ein imperialistisches Machtgepränge und Sendungsbewußtseinentwickelten, das dem Deutschlands ab 1890 in nichts nachstand. Im Gegenteil, die Großmächte unterwarfen sich die Welt. Statt dessen soll gelten: Die anderen, hervorgegangen aus bürgerlichen Revolutionen, waren die genuinen Demokraten und Menschenrechtler, Deutschland jedoch der militaristische Störenfried in Gestalt eines tölpelhaften Kraftprotzes mit preußischem Schnätteretäng.
In diesem Zusammenhang folgen all die Konjunktive zum vermeintlichen “Sonderweg”: Ja, wenn Deutschland den Weg von 1848 weitergegangen wäre! Es hätte ein viel freundlicheres Antlitz vorgewiesen und wäre von den anderen problemlos anerkannt und herzlich begrüßt worden! Chance vertan! Und durch die Weimarer Republik nicht nachgeholt, denn diese Republik ist nur von ihrem Ende, vom 30. Januar 1933 her, zu betrachten. Ebenso fatal! Denn was dann folgte, häufte eine geschichtliche Hypothek auf, die kaum mehr abzutragen ist. – Es sei denn mit Euro-Bonds.
Obwohl die Ursachen des Ersten Weltkrieges seit Jahrzehnten diskutiert und von allen Seiten sehr differenziert beurteilt werden, kann man immer noch das Klischee durchreichen, Deutschland hätte 1914 aggressiv den Dreißigjährigen Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts losgetreten. Keine Rede vom Entente-Siegfrieden in Versailles, wo die Chefdemokraten Europas und Amerikas den Ausgleich ausschlossen und so genau die Republik beschwerten, die den Weg von 1848 ja zu gehen versuchte.
Habermas und sein politischer Anhang meinen immerfort, Deutschland hätte trotz des Dritten Reiches bis heute nicht genug über sein Bedeutung und Schuld in Europa gelernt, was man insbesondere an Merkels allzu starrer Haltung in der Euro-Krise ablesen könne. Deutschland, so die Intention dieser Argumentationsweise, müßte zu seinem eigenen Schutz und Vorteil unbedingt in Europa eingebunden werden. Offenbar im Sinne eines prophylaktischen Erziehungs- und Rehabilitationsprogramms.
Das bedeutet jetzt zuerst: Es hätte dringlich die Vorstellungen seiner Nachbarn in sachen Haushaltsrettung gefälligst zu verstehen und schnellstmöglich zu erfüllen! So und nur so würde es seiner Verantwortung nachkommen und gleichzeitig nachweisen, daß es seine Hausaufgaben in Geschichte zur Zufriedenheit aller Wohlmeinenden erledigt hätte. Endlich.
Helmut Kohl, so lobte Habermas in Löwen, der hätte das verstanden. “Das Verdienst des früheren Bundeskanzlers”, protokolliert Frau Gammelin den Philosophen, “sei nicht die Wiedervereinigung und die Wiederherstellung einer Art nationaler Normalität, sondern die Tatsache, dass dieses freudige Ereignis verbunden wurde mit der konsistenten Werbung für die enge Einbindung Deutschlands in Europa.”
Vielleicht ist es ein genereller Irrtum der Linken, zu schnell an “freudige Ereignisse” zu glauben, anstatt den kalten Pragmatismus der Politik zu prüfen und noch mal nachzuschlagen, was damals u. a. die Bedingungen des französischen Präsidenten Mitterand waren.
Habermas fordert mehr Solidarität. Die drücke sich nicht allein in Geldtransfers aus, sondern in der Bereitschaft, politischen Einfluß zu teilen: “Was stattdessen nötig ist, ist Solidarität, also eine gemeinsame Anstrengung aus einer gemeinsam geteilten politischen Perspektive heraus, um Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in der Euro-Zone als einem Ganzen zu erreichen.” Auch das ist symptomatisch für die neue alte Linke: Man möchte die kapitalistischen Volkswirtschaften mit sozialistischer Solidarität beseelen, auf daß sie sich endlich zu einer großen Völkerfamilie, ja globalhumanistischen Weltgemeinschaft zusammenfänden, womit der Große Frieden, der Ewige Frieden Immanuel Kants, ausbräche, regiert vom Hegelschen Weltgeist.
Keine Rede davon, daß die Bürger ein “gemeinsames Haus Europa” wohl kulturell und geschichtlich empfinden können, nicht aber als das technokratisches Abstraktum mit Brüssel und EZB. Noch einmal sozialistisch mit Habermas gedacht: Ja, wenn nur die demokratischen Gremien entschieden, dann wäre alles vernünftig und sehr humanitär legitimiert! – Wie aber soll das obskure Europaparlament mit der B- und C‑Prominenz seiner Abgeordneten dies leisten für ein vielgestaltiges Terrain von der portugiesischen Atlantikküste bis zur polnischen Ostgrenze und von Skandinavien bis Sizilien und Kreta? Was bloß wäre eine “politische Union” dieses Kontinents? Wie sähe sie aus? In Gestalt der EWG hatte es diese Gemeinschaft ganz praktisch gegeben. Sie funktionierte. Und endete 1992 mit dem Vertrag Maastricht, der in wesentlichen Bestandteilen gebrochen wurde.
Irrlicht
Gibt es einen inhaltlichen Grund, warum ständig "Neuinterpretationen" von Artikeln aus dem Feuilleton der SZ in auf Sezession.de erscheinen? Habermas' Ansichten sind seit Jahrzehnten bekannt und konstant, er ist samt Frankfurter Schule (zu Recht) nicht nur fast vollständig aus der akademischen Philosophie verschwunden, er findet selbst in den Mainstream-Medien kaum mehr Gehör. Selbst in der ZEIT, seinem einstigen Hausblatt, sind seine europapolitischen Ansichten vor einigen Jahren als "autoritär" kritisiert worden. Diese seltame Alt-BRD-Erscheinung wird in der Bundesrepublik des Jahres 2013 kaum mehr wahrgenommen, außer natürlich in der Sezession - mit einem pseudo-kritischen Artikel.