Debord, einst eine große Ikone der linken Intellektuellen, sah die Einwanderungsfrage vor allem unter dem Gesichtspunkt der Kritik der Entfremdung; ihr ginge ein selbstverschuldeter Kultur- und Identitätsverlust der Franzosen voraus, ein erniedrigender Ausverkauf an die Konsumgesellschaft amerikanischen Stils.
Er prophezeite, daß sich am Ende sowohl Einwanderer als auch autochthone Franzosen als Entwurzelte, quasi als Abfallprodukte des Kapitalismus in der Plastikramsch-Arena des “Spektakels” gegenüber stehen würden. “Kulturelle Unterschiede” sei nur mehr ein merkantiler Begriff. Eine Nation, die kein geistiges Zentrum und keinen inneren Halt mehr besitzt, könne keine Einwanderer in großen Mengen aufnehmen, ohne daß es zu ethnischen Konflikten, Ghettobildungen und Blutbädern kommt.
Und bei dieser Passage mußte ich an die Binnen‑I’s und sonstige linke Sprachmassaker denken:
Manche meinen, das Kriterium der Assimilation sei „die französische Sprache“. Lächerlich. Beherrschen etwa die heutigen Franzosen die französische Sprache? Können wir nicht vielmehr deutlich sehen, daß die sprachliche Artikulationsfähigkeit und die klaren Gedankengänge am Verschwinden sind, ohne das Zutun irgendeines Einwanderers?
Betrachtungen dieser Art werden heute als vorwiegend rechter “Diskurs” abgestempelt, womit sie auch schon als erledigt gelten. Knapp zwei Generationen nach 1968 ist der Großteil der heutigen Linken ist unfähig, die Dinge zu sehen, die Debord sah, oder auch nur seine Fragen zu formulieren, weil sie kaum einen Begriff mehr von seinen Bezugspunkten hat. Während sie gleichzeitig ununterbrochen von “Bildung” (“für alle”) faseln, blinzeln sie wie Nietzsches “letzter Mensch” und fragen achselzuckend: Was ist Kultur? Was ist Sprache? Was ist Nation? Was ist Geschichte?
Oder auch: was ist “Enfremdung”? Denn allzu leidend oder “entfremdet” kommen sie mir in ihrem bequemen Konformismus nicht vor, zumindest nicht an der Oberfläche. Die Linke liest heute nicht mehr Marx, Adorno oder Debord, sondern eher die “Gegen Rechts”-Pornos der Antifa, um sich in Fahrt zu bringen.
Ich räume ein, daß man sich in einer Wohlstandsfestung wie Österreich, wo bislang weder Wirtschaftskrise noch Einwandererproblematik besonders dringlich und nur lokal spürbar sind, und die Lage nach allgemeinem Dafürhalten als “hoffnungslos, aber nicht ernst” angesehen wird, es sich leicht machen kann wie die Kaulquappe, die in der Wasserpfütze locker-lustig vor sich hinschwänzelt und die Hitze der Sonne nicht fürchtet, die sie morgen schon auf Sand setzen wird.
Aber wenn die über die Identitäre Bewegung und die “Neue Rechte” dozierende antifaschistische Doppelmagistra, von der im ersten Teil dieses Beitrags die Rede war, beispielsweise mehrfach mit ironischem Zungenschlag vom “bösen, bösen Islam” redet, frage ich mich, was genau sie damit eigentlich sagen will – daß die Ausbreitung des Islams keine Gefahr für die europäischen Gesellschaften ist? Daß sie überhaupt nicht stattfindet, und darum nicht zu fürchten sei? Oder daß der Islam eigentlich gar nicht “böse” ist? Letzteres ist er für sie offenbar weitaus weniger als die “weißen, bürgerlichen Männer”, die sie explizit (und nicht gerade unrassistisch) als pathogene Rekrutierungsgruppe des Rechtsextremismus hervorhob, als hätte sie zuviele Stig-Larsson-Romane gelesen.
Und das ist die unangenehme Gretchenfrage an die Linke, die es vorzieht, sich mit ein paar Zügen an der antifaschistischen Shisha um ihre Beantwortung zu drücken. (Ähnliche Fragen könnte man angesichts der kommenden demographischen Entwicklungen stellen.) Nach linken Maßstäben sind gerade islamische Gesellschaften wahre Wundertüten aus Diskriminierung, Intoleranz, Fundamentalismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus, Patriarchalismus, Gewaltverherrlichung, autoritärer Erziehung und so weiter. Dennoch widmet sich die Linke der Kritik des Islams, wenn überhaupt, mit deutlich weniger Verve als der maßlosen Denunziation noch verbliebener konservativer Werte und Strukturen in unserer eigenen Gesellschaft. Genauso gut könnte sie tote Schafe verprügeln.
Das hat vielleicht mit Angst zu tun (wieviel lieber attackiert man einen Gegner, der ohnehin auf dem Rückzug ist), noch mehr aber tippe ich – guten Willens – auf etwas anderes: die instinktive Scheu vor einer fremden Kultur, deren Fremdheit man respektiert, während man bei der eigenen Mischpoke weniger Hemmungen hat, auf den Boden zu stampfen und das Porzellan zu zerteppern.
Denn ich bin überzeugt, daß trotz allem törichten und ohnehin nur inkonsequent betriebenem “dekonstruktivistischem” Gerede auch die Linken gefühlsmäßig und gedanklich wohl unterscheiden können zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Und mit dem Respekt vor der anderen Kultur treffen sie sich auch mit dem identitären “Diskurs”- denn es scheint mir ein völlig richtiger Gedanke zu sein, daß man es im Gegensatz zu gewissen liberalen Islamkritikern ablehnt, die molemische Welt missionieren zu wollen oder selbstherrlich in das Gefüge anderer Kulturen einzugreifen. Der komplementäre Respekt vor dem Eigenen und seinen historischen, sozialen und kulturellen Grundlagen setzt aber auch voraus, daß die Kompatibilität von Einwanderern überprüft wird und strenge Assimilierungsforderungen gestellt werden.
Und nun zum Schlüssel zu all diesen und anderen Verwirrungen: in Wahrheit begnügt sich auch die heutige Linke nicht mit dem langweiligen Traum eines sozialdemokratischen Versorgungstaates (siehe Teil 1 dieses Artikels). Ihr spezifisches Pathos kommt von anderswo. Auch sie dient mit religiöser, hohepriesterlicher und inquisitorischer Inbrunst einem Gott, der die Vernunft abtötet und blockiert, und das ist die Idee der “Gleichheit” als absoluter Wert. Sie ist außerstande, außerhalb dieses Rahmens zu denken, ja oft auch nur den Rahmen selber zu denken, und daraus leiten sich alle ihre Urteile und Vor-Urteile über Rechte jeglicher Art ab.
So hieß es in dem Vortrag, die Neue Rechte und die “Identitären” würden für eine “radikale Ungleichheit” eintreten. Das ist natürlich blühender Unfug, und es liegt auf der Hand, woher er stammt – nämlich aus dem Axiom der “radikalen Gleichheit”, das die radikale Linke vertritt. Es handelt sich um nichts anderes als einen bloßen Umkehrschluß, eine holzschnittartige Rückübersetzung in die eigenen binären Denkstrukturen. Und in diesen wird “Gleichheit” an und für sich mit dem Guten und Gerechten und “Ungleichheit” an und für sich mit dem Bösen und Ungerechten gleichgesetzt. Das ist auch die Wurzel ihrer notorischen Selbstgerechtigkeit: Gewalt, Emotionen, Wutrhetorik, Radikalismus, Intoleranz sind in den eigenen Reihen immer gerechtfertigt, während sie auf dem anderen Ufer als Gipfel der Verworfenheit gelten.
Nimmt man Gleichheit aber nüchtern als Relationsbegriff, dann ergibt sich, daß die Hypothese einer “radikalen” Ungleichheit der Menschen ebenso unsinnig und ungerecht wäre, wie die einer “radikalen” Gleichheit. Wenn man die Exzesse des Nationalsozialismus als Extremfall einer radikalen Auffassung von “Ungleichheit” interpretiert, so kann man analog die Exzesse des Sowjetkommunismus (die ein Vielfaches an Opfern forderten) als Extremfall einer radikalen Auffassung von “Gleichheit” interpretieren. Und während die Nationalsozialisten die “Gleichheit” der Volksgenossen kannten, kannten die Kommunisten die “Ungleichheit” der Klassenfeinde.
“Gleichheit” und “Ungleichheit” an sich sind entgegen der linken Verfälschung keine ethischen Begriffe. Gleich oder ungleich ist man nur in Bezug auf etwas oder jemand anderes. Ein einziger Mensch kann in sich eine Vielzahl von Stärken und Schwächen beherbergen, die ihn gegenüber anderen Menschen, auf bestimmten Gebieten, in bestimmten Zusammenhängen, relativ gleich oder ungleich machen. Ansonsten wäre er lediglich eine beliebig austauschbare Ameise. Damit ist weder seine grundsätzliche Menschenwürde angetastet (die auch unantastbar bleiben muß), noch sein Platz in der Gesellschaft fix festgelegt.
Faßt man Gleichheit als absoluten ethischen Wert auf, dann wird man auf lange Sicht auch jeglichen Arten von Qualität feindlich gegenüber stehen müssen, und nur mehr Quantitäten akzeptieren können. Das ist letztlich die Wurzel aller linken “-ismen”. (Sehr schön zeigt sich diese dialektische Falle im berüchtigten links-liberalen Begriff der “Vielfalt”, der eigentlich “Vielheit” meint.)
Weil “Gleichheit” als absoluter Wert gedacht wird, der zur Selbsterhöhung benutzt wird, ist die Linke auch nicht imstande, sich die Betonung einer Differenz, einer Grenze, eines So-Seins und eines So-Sein-Wollens als etwas zu denken, das frei von Chauvinismus und radikalen Ab- und Entwertungen ist, womit wieder das Gespenst des Faschismus in seinen finstersten Formen beschworen wäre.
Nun ist es freilich so, daß der Mensch das, was er vorzieht und was zu ihm gehört, in der Regel auch höher bewertet, als das, was er ablehnt und was nicht zu ihm gehört. Daß die Menschen das immer tun werden, und nie von Eigenliebe und einem natürlichen Gruppennarzißmus frei sein werden, ist ebensowenig aus der Welt zu schaffen wie die Schwerkraft.
Wahre Toleranz und Humanität beginnt aber erst dort, wo man die Universalität dieses Verhaltens anerkennt, und sie auch dem anderen zugestehen kann. Toleranz bedeutet nicht die Aufhebung jeglicher Distanz, wie sich die Linken das heute so vorstellen. Vielmehr ist Distanz sowohl Folge als auch Voraussetzung der Toleranz.
Die Vorstellung von der Gleichheit als absolutem Wert ist auch die Ursache des linken Affekts gegen “Eliten” und das “Elitäre”. Der Linke nimmt diese Begriffe offenbar als narzißtische Kränkungen wahr, wittert hinter ihnen stets seinen eigenen Ausschluß. Er übersieht, daß die Einsicht in die Notwendigkeit von “Eliten” für das Bestehen einer Gesellschaft noch lange nicht bedeutet, daß man sich selbst zu dieser oder jener Elite zählt. Die Ironie an dem Ganzen ist wie immer, daß die bekämpften Dinge durch die Hintertür hineinkommen. Schon Orwell hat beschrieben, wie per sozialer und machtpolitischer Gravitation irgendwann unweigerlich “manche Tiere gleicher sind” als andere.
Der linke “Standard”-Leser, der auf die massa damnata der primitiven Kronenzeitungdeppen von oben herabblickt, dünkt sich natürlich als geistige “Elite”, und auch die “geschlechtergerechte” Feministin, die Frauenquoten für ein unerläßliches Heilsmittel hält und in Diskussionsrunden bevorzugt Frauen zu Wort kommen läßt (so allen Ernstes während des Vortrags im Wiener Institut für Politikwissenschaften geschehen), hat eine Methode gefunden, sich selbst aufzuwerten und als Mitglied eines höherwertigen Stammes auszugeben, also “gleicher als gleich” zu sein.
Man wird unter Linken – mal offen, mal unterschwellig – in der Tat häufig die Vorstellung finden, daß Ausländer, Frauen, Homosexuelle usw. per se “bessere” Menschen seien. Aber wehe, wenn einer dieses Modell umkehrt! Linke werten und bewerten ununterbrochen, wie alle Menschen. Im Grunde glaubt auch kein Linker an die “Gleichheit” der Menschen, aber er wird von der Vorstellung beherrscht, daß diese “Gleichheit” erreicht werde, wenn möglichst viele als “ungleich” Wahrgenommene “gleich” gemacht würden. In Wirklichkeit werden aber alle Beteiligten nivelliert oder bloß die Rollen der Gleichen und Ungleichen vertauscht.
Noch ein Allerletztes: es ist ein Gradmesser für die Strahlkraft der Idee der “Gleichheit”, daß gegen sie trotz ihrer offenkundigen Absurdität, Irrationalität, ja trotz ihrer im Endeffekt unethischen Folgen momentan kein Kraut gewachsen ist. Vielleicht ist sie ein Fieberwahn, wie ihn bereits Alexis de Toqueville beschrieben hat, der die Gleichheit als ein nimmersattes Feuer sah, das sich mit der erreichten Gleichheit nicht zufrieden gibt, sondern immer mehr und Brennstoff verzehren muß. Und gewiß entspringt sie zu einem erheblichen Teil dem Ressentiment oder wird doppelzüngig als als Rhetorik und Machtinstrument eingesetzt. Aber sie ist eben doch eine transzendierende Idee. Es sind immer die Ideen, die in der Geschichte siegen, wobei es sekundär ist, ob sie dumm oder klug, wahnhaft oder erleuchtet sind. Nicht selten bedeutet der Sieg einer Idee auch ihre eigene Strafe.
Vor allem aber handelt es sich um eine universalistische Idee, und meine Freunde in der Identitären Bewegung mögen mir die Feststellung nachsehen, daß eben genau das auf den europäischen oder westlichen Menschen unwiderstehlich wirkt und wohl unerläßlich ist, um sein Herz zu bewegen. Man mache die Gegenprobe: es ist, gerade im Massenzeitalter, unmöglich, etwa aus der Ungleichheit eine zugkräftige politische Idee zu machen. Und: Begriffe wie “Volk”, “Heimat”, “Nation” (nicht zu verwechseln mit “Nationalstaat”) bezeichnen heute zwar Tatsachen und Werte, die immer noch viele Menschen teilen. Aber sie haben aufgehört, die transzendierenden Ideen zu sein, die sie im 19. Jahrhundert bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren.
Und auch zu dieser Zeit waren sie nie bloß ein Selbstzweck: ein Volk oder eine Nation sah sich mit einer göttlichen oder quasi-göttlichen Aufgabe, mit einer besonderen Mission in der Menschheitsgeschichte betreut. Solange es aber nur um Wohlstand und materielle Sicherheit geht, wird keine Veränderung in Gang kommen, ehe die Lage nicht wirklich kritisch geworden ist. Dann aber werden vermutlich bloß brutale, nackte Verteilungskämpfe die Folge sein.
Aus diesem Grund wird der Fieberwahn wohl erst zur Ruhe kommen, wenn der babylonische Turm vollendet ist. Natürlich wird dann kein himmlisches Reich der Gleichheit und Brüderlichkeit anbrechen. Die Spitze des Turms wird den Blitz herabrufen, und seinen Trümmern werden grausame Götter entsteigen. Und mit ihnen werden natürlich wieder ein paar Linke aus den rauchenden Ruinen herausgekrochen kommen, die den “Rechten” die Schuld an dem Desaster geben.