Aber auch eine ganze Reihe anderer gehaltvoller Schriften, so etwa zu Arnold Toynbees Geschichtsdeutung (Eine Interpretation der Weltgeschichte, 1960), wurden in deutscher Übersetzung herausgebracht; sie spielen im heutigen akademischen Diskurs keine Rolle mehr, ohne daß damit schon ein gültiges Unwerturteil ausgesprochen wäre. Dabei gehörte Ortega y Gasset – ähnlich wie in ganz anderem Kontext Josef Pieper oder Karl Jaspers – zu den schriftstellerisch erfolgreichsten Philosophen seiner Zeit. Ortega gelangte zwar 1910 auf den Madrider Lehrstuhl für Metaphysik, kultivierte aber auch eine Position, die man als gegen das akademische Establishment gerichtet verstehen konnte.
Ortega reflektierte intensiv Spaniens Beziehung zu Europa und insbesondere zu Deutschland, mit dessen philosophischem Denken er vor allem in Form des Neukantianismus (Paul Natorp, Hermann Cohen) sowie der Kulturphilosophie Georg Simmels in engere Berührung kam. Auch die Phänomenologie Husserls wurde für Ortega methodisch wegweisend; mit Wilhelm Dilthey dagegen setzte er sich erst seit den späten 1920er Jahren auseinander. Ortegas Denken gehört selbst in den weiten Rahmen der Lebensphilosophie, doch war er kein systematischer Philosoph, sondern knüpfte seine Gedanken okkasionell an scheinbar willkürliche Beobachtungen (z. B. Ästhetik in der Straßenbahn, 1987).
Schon mit seinem ersten philosophischen Buch von 1914, den Meditationen über Don Quijote, reiht er sich unter jene Denker ein, die sich an einem »unaufhörlichen Ringen gegen den Utopismus« beteiligen. In Cervantes’ Don Quijote sah er den paradigmatischen Menschen mit seinem utopischen Drang. Ortega wendet sich von den Extrempositionen seiner Zeit ab und wird in seiner Verteidigung des Wertes des einzelnen ein »Herausforderer der deutschen Idealisten und Materialisten « (Niedermayer). Ortega selbst verabschiedet jedoch die Metaphysik keineswegs. Die Anthropologie Ortegas ist stark von seinem erkenntnistheoretischen Perspektivismus geprägt; sein berühmter Satz, »Ich bin ich und meine Lebenssituation «, bindet die Identität des einzelnen an sein jeweils konkret gelebtes Dasein.
Für Ortega liegt das Wesen des Menschen letztlich in der Ungewißheit und Unsicherheit, da er das Leben von Anfang als Schiffbruch versteht. Nur die Unsicherheit sei sicher, woraus Ortega den Schluß zieht, daß sich der Mensch auch der Möglichkeit eines totalen Bruchs mit der Menschlichkeit bewußt sein müsse, eines Rückfalls in die bloße Animalität. Das tragische Bewußtsein dieser Möglichkeit ist die Voraussetzung der Kultur.
Ortega stand der Idee eines notwendigen Fortschritts kritisch gegenüber; denn sie bedeute die Aufgabe jeder Verantwortung und zugleich die Einschläferung der nötigen Wachsamkeit. Indem Ortega die Unsicherheit des Menschen hervorhebt, grenzt er ihn vom Tier ab, dessen Wesen in der Anpassung liegt. Daraus resultiert Ortegas Bestimmung des Menschseins als wesensmäßiger Unangepaßtheit: »Der Mensch ist, wo er auch immer ist, ein Fremder.«
Ortegas scharfes Bewußtsein für Phänomene der Dekadenz bedeutete nicht, daß er einem unzulässigen Pessimismus gehuldigt hätte. Auch wenn er in seinem berühmten Münchner Vortrag »Gibt es ein europäisches Kulturbewußtsein?« von 1953 zugestand, »daß unsere Zivilisation problematisch geworden ist, daß alle ihre Prinzipien ohne Ausnahme fraglich erscheinen «, sah er doch darin kein Zeichen der Agonie, sondern ein Symptom für das Werden einer neuen europäischen Zivilisation. Periodische Krisen seien geradezu eine Eigenheit der europäischen Kultur, worin Ortega ihre spezifische Offenheit erblickte, da sie im Gegensatz zu anderen geschichtlichen Kulturen keine »kristallisierte Kultur« sei.
Schriften: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Stuttgart 1978; Der Aufstand der Massen, Stuttgart 1930; Über die Liebe. Meditationen, Stuttgart 1933; Geschichte als System und Über das römische Imperium, Stuttgart 1943; Gibt es ein europäisches Kulturbewußtsein?, Stuttgart 1954; Über die Jagd, Hamburg 1957; Der Mensch und die Leute, Stuttgart 1957; Eine Interpretation der Weltgeschichte. Rund um Toynbee, München 1964; Meditationen über ›Don Quijote‹, Stuttgart 1964; Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst, München 1964; Ästhetik in der Straßenbahn. Essays, Berlin 1987; Der Schrecken des Jahres eintausend. Kritik an einer Legende, Leipzig 1992; Vom Menschen als utopischem Wesen. Vier Essays, Wien 2005; Der Mensch ist ein Fremder. Schriften zur Metaphysik und Lebensphilosophie, Freiburg i. Br. 2008.
Literatur: Ivo Höllhuber: Geschichte der Philosophie im spanischen Kulturbereich, München/Basel 1967; Frauke Jung-Lindemann: Zur Rezeption des Werkes von José Ortega y Gasset in den deutschsprachigen Ländern. Unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von philosophischer und populärer Rezeption in Deutschland nach 1945, Frankfurt a. M. 2001; Julián Marías: José Ortega y Gasset und die Idee der lebendigen Vernunft. Eine Einführung in seine Philosophie, Stuttgart 1952; Franz Niedermayer: Ortega y Gasset, Berlin 1959.