Gerade weil ich kein Jurist bin, wiederhole ich den Sachverhalt: Ohne daß eine Individualschuld nachgewiesen wird! – Weil Auschwitz und andere Lager explizit zur Vernichtung von Menschen errichtet waren, reicht es, als Angehöriger der Mannschaften dort gewesen zu sein. Das ist allgemein nachvollziehbar, sicher. Ist es das aber ebenso im Individuellen? Grundsätzlich?
Jedenfalls sieht die Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg nun den Weg frei, fünfzig KZ-Aufseher durch Staatsanwaltschaften vor Gericht zu stellen und zu verurteilen. Einer davon ist der wegen angeblicher Fluchtgefahr bereits festgenommene 93jährige Hans Lipschis – Altersgenosse Demjanjuks, Litauer, vom Herbst 1941 bis zum Frühjahr 1945 in Auschwitz eingesetzt. Beide Männer waren damals etwa zwanzig Jahre alt, aufgewachsen und konfrontiert mit der bolschewistischen Revolution und dem stalinistischen Terror. Biographisch ein „kausaler Nexus“ der besonderen Art. Zur Ukraine ist einem das meiste klar, zum dramatischen Schicksal Litauens zwischen Unabhängigkeitserklärung 1918 und Resowjetisierung 1940 belese man sich.
Solche Anmerkungen sollen „Hilfswillige“ und „Überzeugungstäter“ nicht von Schuld freisprechen. Aber selbst dieser Satz mutet unsinnig an, wenn zur juristischen Verurteilung neuerdings nicht mal mehr der Nachweis von Individualschuld notwendig ist. Lag genau darin nicht ein wichtiger Rechtsfortschritt der Aufklärung?
Nein, mir geht es hier gerade nicht um Geschichtsrevision und um schlimme Vergleiche des „Unvergleichlichen“, sondern um eine Prognose in eigener Sache:
Von 1982 bis 1985 war ich als „Unteroffizier auf Zeit“ Angehöriger der Grenztruppen der DDR. Abgesehen von einer halbjährigen Ausbildung diente ich diese Jahre in einer grenzsichernden Einheit an der Elbe ab. Ich war dort unmittelbar mit der Sicherstellung des Grenzdienstes und insbesondere mit der Realisierung stabiler Funk- und Fernmeldeverbindungen befaßt. Mindestens systemisch bedingte Beihilfe zum Mord?
Während wir dem Westen als „Honeckers grüne SS“ galten, sammelte ich während dieser extremen Jahre meine wichtigsten Erfahrungen in Konfliktsituationen. Zu berichten, wie die Kameraden, die mir nahestanden und mit denen ich an der ehemaligen „Staatsgrenze“ eingesetzt war, ihr persönliches Engagement darauf verwandten, den „Schießbefehl“ zu umgehen oder zu sabotieren, anstatt ihm gehorsam oder blöde nachzukommen, wäre eine eigene Darstellung wert. Wichtig für uns: Wir hielten durch, a) einerseits ohne individuell an der Verletzung von Leib und Leben anderer schuldig und b) andererseits ohne vom Militärstaatsanwalt zu Knast im Militärgefängnis Schwedt verknackt zu werden.
Wir waren dabei nicht immer vorbildlich – nicht gegenüber dem „Vater Staat“, der Geschichte gegenüber aber schon gar nicht. Ich nehme an, daß der durchschnittsgebildete Sozialkunde- oder Geschichtslehrer – insbesondere jener ab Geburtsjahrgang 1970 – „Honeckers grüne SS“ für einen handhabbaren und treffenden Begriff halten würde. Vielleicht sogar die überwältigende Mehrzahl der Vereinigungsdeutschen, die nie irgendwo in entscheidende Konflikte mit irgendeiner Staatsräson gerieten. (Man führe sich dabei vor Augen, was heute noch so Staatsräson ist.)
Mir ist gut vorstellbar, daß solche wie ich neben der ohnehin üblichen Pauschalverurteilung irgendwann auch juristisch „zur Verantwortung gezogen werden“ könnten, waren wir Mitte der Sechziger in die DDR Hineingeborenen doch Teil des Unrechtsregimes, ja des „Todesstreifens“, der das „Gefängnis DDR“ im Kalten Krieg abschloß, während drüben ja wohl Demokratie und Freiheit blühten. Unser entscheidender Makel: Wir waren nicht im Widerstand. Wir gehörten nicht zu den politisch Verfolgten, vielmehr gelten wir – alle – als Täter. Historisch Hinübergehende: Kaum hatte man uns vom Eisernen Vorhang entlassen, ging der schon auf.
So groß die Unterschiede zu SS-Hilfswilligen im Quantitativen auch sein mögen; rein qualitativ dürften sie für die Rechtssprechung so erheblich nicht sein – insbesondere zukünftig dann nicht, wenn die achtziger Jahre, wie heute die vierziger, in eine sich verdunkelnde Vergangenheit entrückt sind, von der aber alle Nachgeborenen mit Über-Sicht alles ziemlich genau zu kennen und zu wissen meinen, abgesehen von den paar alten Männern, die aus jenen bösen Jahren noch übrig sein werden.
Karl Eduard
Nun, das zeichnet doch einen Rechtsstaat aus, daß er individuelle Schuld nachweist. Dem Beschuldigten müssen seine Taten bewiesen werden. Da wir gerade darüber reden, warum, muß der Assad eigentlich gestürzt werden?
Besonders lustig an solchen Prozessen ist aber, Leute, die sich nicht daran erinnern können, was sie vor einer Woche zum Frühstück hatten oder wie das Wetter um 10.00 Uhr war, erkennen nach 60 Jahren ihre Henker oder die Helfer der Henker oder die Helfer der Helfer der Helfer der Henker. Diesen außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten im hohen Greisenalter sollten Wissenschaftler einmal nachspüren. Noch interessanter wäre es aber, die Richter zu exhumieren, die solche Sprüche erlassen, um nachzuschauen, welch absonderliche Wucherungen im Gehirn dafür verantwortlich sind. Und ob es eher die Normalität ist, für die Abart Mensch, oder eine Verirrung der Natur. Vielleicht liegt es auch an Schadstoffen in den Roben. Zuviel DDT oder so.