Vaters Uhr

von Heino Bosselmann

Ich trage die Uhr meines Vaters. Beim Morgentraining, insbesondere beim Laufen, beschlägt von innen ihr Glas, weil sie nicht mehr abzudichten ist.

Über den Tag trock­net das weg. Sonst funk­tio­niert sie ein­wand­frei. Mit den ein, zwei Minu­ten Tem­po­ver­lust auf zwei Tage kann man leben. Gleich drei Minu­ten vor­stel­len. Pünktlichkeitsgarantie.

Als ich klein war, hat mein Vater mir die­se Uhr öfter ans Ohr gehal­ten, und ich lausch­te mit geschlos­se­nen Augen in das Ticken des Werks hin­ein wie in ein mecha­ni­sches Herz. Die Unruh – was für eine schö­nes deut­sches Wort. Der Vater ver­such­te mir zu erklä­ren, daß die Zeit als sol­che gar nicht da ist, son­dern der Mensch sie sei­ner Art nach der Welt und den Ereig­nis­sen nur bei­legt. Alles, was ist, wäre nur ein in unse­rer Wahr­neh­mung aus­ein­an­der­ge­zo­ge­nes Ein und Dasselbe.

Ach so? Das fand ich ziem­lich ver­rückt. Die Zeit – nicht wirk­lich da! Ja, gewis­ser­ma­ßen wäre die Uhr also eine Maschi­ne, die sie her­stellt oder wenigs­tens das, was der Mensch da ein­zu­tei­len ver­sucht, sicht­bar macht. Und was man sogar hören kann: Tick, tick, tick … Und das Schwei­gen dazwi­schen nicht zu vergessen.

Fas­zi­nie­rend, so ein klei­ner Appa­rat am Arm, dach­te ich, der die Zeit mit­tels zwei­er Zei­ger her­vor­bringt und zeigt. Konn­te ich den Abstand zwi­schen zwei Wim­per­schlä­gen lan­ge genug aus­hal­ten, mein­te ich gera­de so sehen zu kön­nen, wie sich der gro­ße davon bewegt. Sehr, sehr lang­sam, aber gera­de dadurch uner­bitt­lich. In Raum­zeit. Run­de für Run­de, immer wiederkehrend.

Die­se Uhr, eine damals offen­bar zahl­reich her­ge­stell­te Ruh­la UMF, hat mein Vater von mei­ner Mut­ter geschenkt bekom­men. Von deren ers­tem Gehalt. Bei­de waren sie Leh­rer. Da ich bei mei­nem Vater Unter­richt in Bio­lo­gie und Che­mie hat­te, sah ich, wie er zu Beginn der Stun­de, typisch Leh­rer, die Uhr abband und auf den brei­ten Expe­ri­men­tier­tisch leg­te, um sich sei­ne fünf­und­vier­zig Minu­ten ein­zu­tei­len. Er war ein unge­dul­di­ger Mensch und ver­stand bei­spiels­wei­se nicht, daß ande­re nicht ver­stan­den, wes­halb das Stick­stoff­mo­le­kül einer sta­bi­len Ach­ter­scha­le wegen eine Drei­fach­bin­dung hat­te. Haben mußte!

Nach dem Abitur bekam ich von ihm die Uhr geschenkt. So neben­bei. Er nahm sie ein­fach ab und hielt sie mir hin: Hier. Sie gehört jetzt dir. Geht noch ziem­lich genau.

Nein, sie war nie beson­ders wert­voll. Die meis­ten ihrer Art waren damals, 1982, schon abge­lau­fen, abge­legt und durch moder­ne­re, ein­drucks­vol­le­re, angeb­lich ver­läß­li­che­re Exem­pla­re ersetzt. Bei Ebay han­delt man die Exem­pla­re teil­wei­se für ein­stel­li­ge Beträ­ge. Aber sie ist bis heu­te mein wich­tigs­tes Geschenk vom Vater. Ich hör­te ihr Ticken, als ich sehr früh in der Aus­bil­dungs­ka­ser­ne auf­wach­te, um dem gel­len­den Pfiff des UvD und so dem Schreck zum Ende der Nacht­ru­he zuvor­zu­kom­men. Ich sah vom Dop­pel­stock­bett aus auf den noch ver­wais­ten Appell­platz, genoß die letz­ten Minu­ten Stil­le und Wär­me und hör­te das Ver­strei­chen der Frist abti­cken, die­se Kleinst­men­ge vom noch uner­meß­li­chen Berg an Lebenssekunden.

Die Ruh­la UMF maß mir beim Stu­di­um das letz­te Stück bis zur Wen­de ab, beglei­te­te dann mei­ne eige­nen Unter­richts­stun­den als Leh­rer. Ich pro­to­kol­lie­re die Zei­ten mei­ner Läu­fe nach ihren fei­nen gold­far­be­nen Zei­gern und den­ke zuwei­len: Mein Vater hat sie beim Sport – bis vier­zig war er Libe­ro von Trak­tor Dall­min – abge­nom­men, um sie zu scho­nen. Soll­te ich auch tun. Aber sie war immer da und hielt durch.

Wie klein sie doch ist, wie ein­fach. Dabei aber unauf­dring­lich ele­gant, fin­de ich. Sie zeigt nur die Zeit an, mehr nicht. Heut­zu­ta­ge tra­gen Män­ner Uhren am Hand­ge­lenk, die nach Gewicht und Grö­ße zu den Land­ro­vern pas­sen, die sie mit Vor­lie­be fah­ren. Mul­ti­funk­tio­nal und alles mög­li­che mes­send. Uhren, wie sie Pilo­ten haben mögen oder gar Astro­nau­ten. Aber mei­ne ist von einer Sach­lich­keit, die heu­te die teu­ers­ten Model­le nach­zu­ah­men ver­su­chen. Gegen­wär­tig muß näm­lich Ein­fach­heit und Funk­tio­na­li­tät erst wie­der künst­lich und edel nach­ge­fer­tigt wer­den. Ist die­ser Effekt erreicht, gilt das als “puris­tisch”. Retro-Look! So wie beim VW Käfer, der dann “The Beet­le” heißt und eigent­lich unbe­zahl­bar ist. Oder bei allem, was sich im Man­fac­tum-Kata­log fin­det, den selbst ich durch­blät­te­re, weil ich ihn für ein lite­ra­ri­sches Ereig­nis halte.

Zum Glück lebt mein Vater noch. Mit irgend­ei­nem bil­li­gen Quarz­ge­rät am Arm, des­sen Ticken man kaum ver­nimmt. Daß du immer noch die­se olle Uhr trägst, sagt er manch­mal. Und ich: Die hat noch mehr Zeit als wir bei­de. Ist doch bedeu­tend, oder? Was die volks­ei­ge­nen Uhr­ma­cher damals in Ruh­la soli­de zusammenschraubten.

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