Adé, Social-Demokratie!

von Heino Bosselmann

Einen von den "Verdammten dieser Erde" im neunzehnten Jahrhunderts ersehnten "Socialismus" gab es im zwanzigsten – grob abstrahiert – in zweierlei Gestalt:...

Zum einen als von Not und Man­gel gekenn­zeich­ne­te, aber mit welt­re­vo­lu­tio­nä­rem Anspruch ideo­lo­gisch durch­trai­nier­te Vari­an­te der leni­nis­tisch-sta­li­nis­ti­schen Bra­chi­al­dik­ta­tur mit asia­tisch-grau­sa­men (Chi­na, Nord­ko­rea, Kam­bo­dscha) sowie ost­eu­ro­pä­isch-gemä­ßig­ten Derivaten;zum ande­ren hedo­nis­tisch und zuneh­mend adi­pös als “demo­kra­ti­schen Kapi­ta­lis­mus” mit sozia­ler Markt­wirt­schaft in den west­li­chen Trans­fer­ge­sell­schaf­ten der Nach­kriegs­zeit. Das eine gilt als Tra­gik, das ande­re als Erfolgs­ge­schich­te. Viel­leicht brach­te gera­de Skan­di­na­vi­en, ins­be­son­de­re Schwe­den, in den Sech­zi­gern und Sieb­zi­gern gar einen tat­säch­li­chen Wohl­fahrts­so­zia­lis­mus her­vor, so wie sich der nur in star­ken Volks­wirt­schaf­ten bei rela­tiv gerin­ger Ein­woh­ner­zahl den­ken läßt – gewis­ser­ma­ßen einen Olof-Pal­me- oder ABBA-Sozialismus.

Die deut­sche Sozi­al­de­mo­kra­tie hat­te sich nach mar­xis­tisch-klas­sen­kämp­fe­ri­schem Auf­takt und Sozia­lis­ten­ge­setz durch die Bis­marck­sche Sozi­al­ge­setz­ge­bung und den wirt­schaft­li­chen Erfolg des Kai­ser­rei­ches ab 1890 revi­sio­nis­tisch läu­tern las­sen und galt den Kom­mu­nis­ten fort­an als Ver­samm­lung uncha­ris­ma­ti­scher Oppor­tu­nis­ten – laut Tuchol­sky Radies­chen, außen rot, innen weiß. Dies um so mehr, da die SPD im Zuge der Burg­frie­dens­po­li­tik 1914 die Kriegs­kre­di­te im Reichs­tag mit­be­wil­lig­te, und erst recht, als sie nach dem ver­lo­ren gege­be­nen Krieg und den Wir­ren der Novem­ber­re­vo­lu­ti­on zuguns­ten von Frie­den und natio­na­ler Kon­so­li­die­rung mit den alten Eli­ten gegen “Spar­ta­cus” gemein­sa­me Sache machte.

Sebas­ti­an Haff­ners böser Satz, die füh­ren­den Sozi­al­de­mo­kra­ten – Ebert, Schei­de­mann und vor allem Noske – wären damals nicht nur Ver­rä­ter gewe­sen, son­dern hät­ten auch noch so aus­ge­se­hen, wür­de der radi­ka­len Lin­ken, die von einem Sowjet­deutsch­land träum­te, eben­so gefal­len haben wie der radi­ka­len Rech­ten, die mit der unge­lieb­ten Repu­blik und dem mit ihr “novem­ber­ver­bre­che­risch” bei­na­he iden­ti­fi­zier­ten Ver­sailler Ver­trag nicht nur das Kai­ser­reich, son­dern Deutsch­land als Welt­macht fal­len und gede­mü­tigt sah.

Nicht mal Ebert selbst hat­te die­se Repu­blik haben wol­len, die jeder Geschichts­leh­rer heu­te nur von ihrem Ende her betrach­tet, der man jedoch zuge­ste­hen muß, daß sie kon­se­quent demo­kra­tisch ver­faßt und poli­tisch – im auf­fal­len­den Gegen­satz zur Ber­li­ner Repu­blik – höchst leben­dig war. Zudem soll­ten Frau­en­wahl­recht, Bil­dungs­ge­rech­tig­keit und Sozi­al­pro­gram­me als Errun­gen­schaf­ten gel­ten dür­fen, denen die Nati­on eine Men­ge ver­dankt. Sie wur­den unter Initia­ti­ve der Sozi­al­de­mo­kra­ten im Ein­ver­neh­men bzw. im Kom­pro­miß mit dem alten Zen­trum und den Libe­ra­len erreicht.

Bis Godes­berg 1959 blieb die Sozi­al­de­mo­kra­tie durch­aus sozia­lis­tisch, ja rhe­to­risch mar­xis­tisch. Danach stand sie, bestimmt durch die Gewerk­schaf­ten und moder­ni­siert von 68er Bür­ger­söhn­chen, für einen Sozi­al­staat, der sich dank wirt­schaft­li­cher Pro­spe­ri­tät eine Men­ge leis­te­te, indem er vor­über­ge­hend umver­teil­te und bil­dungs­po­li­tisch jeden zu sei­nem Recht kom­men ließ, selbst die eher Talent­frei­en und Antriebs­schwa­chen. Die alten Klas­sen­kon­flik­te konn­ten mit Geset­zen demo­kra­tisch ein­ge­frie­det wer­den, solan­ge Wirt­schafts­ge­win­ne einen Wohl­stand erlaub­ten, der dem das neun­zehn­te Jahr­hun­dert in die­ser Brei­te unvor­stell­bar war.

Als Wohl­stand und Wohl­fahrt wegen zurück­ge­hen­der Wachs­tums­ra­ten unver­nünf­tig wur­de, sorg­ten wie­der­um Sozi­al­de­mo­kra­ten dafür, mit­tels Infla­ti­ons- und Ver­schul­dungs­po­li­tik Zeit zu bor­gen, um den all­zu schnell für all­zu selbst­ver­ständ­lich gehal­te­nen Lebens­kom­fort wei­ter­hin bezah­len zu kön­nen. – Das Leben auf Pump im Staat­li­chen wie Pri­va­ten wur­de in Deutsch­land bis in die Ära Kohl hin­ein und über den Zuge­winn der DDR hin­aus durch­ge­hal­ten und – in einem poli­ti­schen Kraft­akt – kurio­ser­wei­se durch den New-Labour- und Agen­da-Sozi­al­de­mo­kra­ten Schrö­der kor­ri­giert, der dafür von den eige­nen Leu­ten abge­straft, von sei­nen Geg­nern aber klamm­heim­lich bewun­dert wurde.

End­gül­tig erle­digt wird der sozi­al­de­mo­kra­tisch gefärb­te “demo­kra­ti­sche Kapi­ta­lis­mus” (Wolf­gang Stre­eck) jedoch gegen­wär­tig durch eine EU- und Euro­po­li­tik, die das Wirt­schaft­li­che von der Demo­kra­tie, ja über­haupt vom Sou­ve­rän, den Völ­kern und Wäh­lern, abzu­schir­men und – wie­der mit Wolf­gang Stre­eck – das Staats­volk durch ein Markt­volk zu erset­zen sucht.

Der Euro führt poli­tisch gera­de dazu, daß Län­der und Völ­ker ihre Sou­ve­rä­ni­tät, die­se hohe Errun­gen­schaf­ten der bür­ger­li­chen Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung, ver­lie­ren und in EU- bzw. EZB-IWF-Troik­aho­heit fremd­be­stimmt zur Räson gebracht wer­den. Mit den eige­nen Steue­rungs­re­gu­la­ri­en und Befug­nis­sen über den eige­nen Etat ist es vor­bei. Ein fata­ler Ver­lauf im Rück­bau von Natio­nal­staa­ten, der durch­aus revo­lu­tio­nä­re Situa­tio­nen her­auf­be­schwö­ren könn­te und natio­na­le Erhe­bun­gen gegen Brüs­sel ahnen läßt.

Wenn Sozi­al­de­mo­kra­ten heu­te gemäß Haber­mas’ Lita­nei mei­nen, mit der Stär­kung des omi­nö­sen Straß­bur­ger Par­la­ments wäre die Sache wie­der zu berich­ti­gen, sit­zen sie viel­leicht ihrer his­to­risch letz­ten Illu­si­on auf. Die­se per­so­ni­fi­ziert sich ins­be­son­de­re im sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­la­ments­prä­si­den­ten Mar­tin Schulz, jenem Buch­händ­ler aus Wür­se­len, der nach geschei­ter­tem Abitur eine ein­drucks­vol­le Kar­rie­re begann, deren Erfolg es ihm erlaubt, eine Bar­ro­so-Poli­tik zu unter­stüt­zen, die nicht nur zu Las­ten Deutsch­lands und zum Vor­teil Frank­reis aus­ge­hen soll, son­dern in einem neu­en tech­no­kra­ti­schen Obrig­keits­staat das erle­digt, was Sozi­al­de­mo­kra­ten einst unter Demo­kra­tie verstanden.

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Kommentare (15)

Inselbauer

27. Mai 2013 11:25

Ich habe vor Jahren einmal etwas für das Büro von Martin Schulz gemacht. Die Eindrücke, die ich damals gewonnen habe, verleiten mich dazu, Ihre Ausführungen insofern zu ergänzen, als die deutschen Sozialdemokraten in ihrer Führungsschicht ungebildet, buchstäblich dumm (man könnte Steinmeier ausnehmen), überheblich, versessen auf Eigenheime und in Teilen bis zur körperlichen Tätlichkeit hin intolerant sind. Ein Freund hat mir kürzlich berichtet, er habe im Vorfeld einer Ankunft des "Dicken" (Gabriel) allen Ernstes das Türöffnen bei einem gepanzerten Fahrzeug "üben" müssen. Gut, der Mann hat Familie und ist ein Sozi, aber leid getan hat er mir trotzdem ein wenig.
Die Familie meiner Mutter ist seit 120 Jahren bei denen aktiv. Ich weine der SPD keine Träne nach.

Zalmoxis

27. Mai 2013 12:24

Eine Ergänzung: Die ADAV ist aus der Freimauererloge "Brüderlichkeit und Gerechtigkeit" entstanden. Die Loge "Brüderlichkeit und Gerechtigkeit" wurde 1857 von Ferdinand Lassalle gegründet. Aus der Freimauererei entstammt auch der "sozialistische Händedruck". Dieser diente als Parteisymbol, sowohl dem ADAV als auch der SED. Der Staatswappen der DDR enthält ebenfalls ein Freimaurerzeichen, den Zirkel.

Heino Bosselmann

27. Mai 2013 12:30

Oh, interessant. Gerade in bezug auf die Symbolik kannte ich diesen Zusammenhang nicht. Und bedanke mich sehr dafür.

Meyer

27. Mai 2013 16:27

Die SPD stirbt aus. End of significance.

Man ist geneigt, Noske, Ebert, Schumacher und mit Abstrichen Scheidemann und Schmid (natürlich ohne "t"!) als "gute Männer" anzusehen. Aber sie waren lediglich keine Arschlöcher. Alleine dadurch stachen sie heraus. Seit Schumacher ist es natürlich düster. Vielleicht verbietet es sich, über den späten Frahm, Verzeihung: Willy Brandt, schlecht zu sprechen.

Carl Sand

27. Mai 2013 18:34

@Meyer

Ich stimme Ihnen ja zu. – Aber ist es für einen Politiker nicht schon eine großartige Leistung, kein A.. zu sein?

Ich meine, sind wir mal ehrlich und machen die Liste auf "unserer", d.h. konservativer Seite auf...

Jünger. Ja, der sicherlich. Kein Politiker.
Spengler. Auch. Kein Politiker.

Hugenberg?
Das pfäffische Zentrum?
Adenauer??
Kohl???

Selbst Bismarck - war wohl im Menschlichen ein ziemliches Schw...
Und Weisheit besaß er höchstens im Außenpolitischen, vielleicht nicht einmal das, wenn man bedenkt, wie klein ihm Deutschlands Einigkeit nur gelang und er auch niemals größer dachte.

Und ich befürchte, Adenauer, dem nun wirklich so einiges vorzuwerfen ist, hat zwar wohl geschafft, das (leider wahrscheinlich) zu diesem Zeitpunkt Mögliche herauszuholen. Aber ausgerechnet den rheinischen Separatisten "groß" zu nennen - ich kann ihn ja nicht einmal kein A... nennen.

Selbst unsere "Lieblingsprotagonisten" die Widerständler um Stauffenberg – keine Konzeption und letztlich auch nicht bereit, das Äußerste zu opfern, wenn es nur darum gegangen wäre (und nur das war möglich) das A... Hitler umzulegen.

Und die konservativen Revolutionäre - ja, wahrscheinlich alles keine A... - aber so lang wird die Liste derer, die keine A... waren, nicht, erst recht nicht, wenn wir eine Liste der Wirkungsmächtigen aufstellen wollten.

Bleibt am Ende nur der barocke, ein wenig dem anderen "Meier" ähnelnde Strauß - den würde ich nun kein A... nennen, aber er hat seine Korruption zumindest meist nicht zum Schaden Deutschlands ausgeübt - eine Qualifikation, die damals schon höchst selten und heute per Definition überhaupt nicht mehr zu finden ist.

Wie man es dreht und wendet: Auf der Liste der Politiker, die keine (Zitat Meyer) Arschlöcher waren, wird man auch in "eigenen" Kreisen nur selten fündig, vielleicht noch seltener, schließlich hat den Konservativen immer eine ganze Portion Opportunismus ausgemacht. Manche verstehen das auf Anhieb, andere auf Anhieb falsch: Hier scheint die Trennlinie zu verlaufen; aber ich finde ehrlich gesagt mit Schumacher, Schmid und Ebert mehr Nichtarschlöcher, als mir auf unserer Seite einfallen.

@Bosselmann
Ich muß zugeben, für Lasalle immer eine gewisse Sympathie zu haben, d.h. für die Idee einer genossenschaftlichen Wirtschaftsorganisation. Könnten damals gewisse Maurerkreise nicht einfach noch etwas vernünftiger getickt haben, trotz der bereits damals angelegten Gefahr ihres Menschenbildes?

Meyer

28. Mai 2013 12:19

@ Carl Sand
Sie sprechen da etwas Treffendes an: Ich kann mich für keine Partei erwärmen, weder für eine gegenwärtige noch für eine vergangene. Das dürfte wohl zwei Gründe haben. Zum Ersten findet man in jeder in Frage kommenden den ganz konkreten Grund, daß man dort programmatisch mehr Schatten als Licht finden kann. Zum Zweiten liegt es wohl auch daran, daß Parteien, wie auch Pseudodemokratien, selten die Besten selektieren (sowie auch die o.g. Sozialdemokraten lediglich Ausnahmen sind).
In Monarchien, zumindest in nordeuropäischen, verhält es sich genau anders herum.

Zu Bismarck: Ich sehe in ihm menschliche Größe. Politisch war er ein Großer bis zur Reichsgründung. (Dazu: Eine Reichseinigung unter Einschluß Österreichs hätte erforderlich gemacht, daß man Ö-U zerschlägt, wie später 1919. Das hätte den deutschen Staatenkomplex aber geschwächt und die Ösis zu unseren ewigen Gegnern gemacht. Der Anschluß Restösterreichs wäre 1919 natürlich gewesen und von beiden Seiten gewollt, aber von unseren Feinden verhindert. Bismarck hat das Optimum erreicht.) Seine Politik nach der Reichsgründung unterschätzte die Möglichkeiten seiner Nachfolger und den "stürmischen" Charakter des jungen letzten Kaisers.Ebenso unterschätzte Bismarck seine Neider, die sich beim Kronprinzen beliebt machten. Die Rolle gewisser "Barone" ist mir auch noch nicht völlig klar.
Bismarcks Überheblichkeit gegenüber dem jungen Kaiser dürfte wohl nicht ganz unbedeutend gewesen sein.

Über Stauffenberg mag ich hier nicht reden. Nur soviel: Zwischen ihm und einem Elsner kann ich kaum einen Unterschied ausmachen: § 211 StGB.

Als Schluß erlaube ich mir die Beurteilung, daß Parteien in ihrer Bedeutung generell überschätzt werden. Viel relevanter ist die Interessenlage derer, die die Parteien finanzieren und die Stabsarbeit übernehmen und die mediale MAssenpsychologische Beeinflussung..
Hier leben wir in einer Parteienautokratie. Natürlich macht es Unterschiede, wer gerade in der Regierung sitzt. Aber die Grundfesten werden durch eine Partei nicht verändert werden. Das geschieht nur langsam durch die ökonomische und humanbiologische/demographische Veränderung.

Auch die derzeitig geübte Massenpsychologie ist lediglich temporär wirksam.

Dem Satz, es müsse erst schlechter werden, bevor es besser werden kann, kann ich nicht zustimmen. Und zwar alleine aus folgendem Grund: Wir haben es nicht in der Hand! Wir sind den Entwicklungen unterworfen und nicht wir steuern diese. Deswegen ist das einzige was bleibt, die individuelle Vorbereitung darauf, daß man "das Schlechterwerden" erahnen kann und sich darauf entsprechend vorbereiten sollte.

Meyer

28. Mai 2013 12:36

@ Sara Tempel

Ob man für oder gegen das Frauenwahlrecht eingestellt ist, spielt keine erhebliche Rolle. Das Frauenwahlrecht wird sich selbst mit dem Staat, der es gewährt, abschaffen; also mit dem Niedergang des Staates. Es stellt sich nur die Frage, ob das Frauenwahlrecht einer der Ursachen des Untergangs ist oder einer dessen Folgen. - Ich neige zu letzterem.

Bedenkt man die Konsequenzen, nämlich das absehbare Wahlverhalten, frage ich mich, was man dem Frauenwahlrecht denn so alles "verdankt", was Heino Bosselmann da unterstellte.

Theosebeios

28. Mai 2013 12:38

Lieber Herr Bosselmann, ich wäre jetzt sehr überrascht, wenn Sie in Ihrem Kommentar den Tenor des alten Sozialdemokraten Wolfgang Streeck wiedergegeben hätten!? Nun haben Sie sein Buch "Gekaufte Zeit" gelesen, und es interessierte mich, ob er tatsächlich mit dem zitierten Begriff "Marktvolk" das verbindet, was unsereiner darunter doch zu sehen geneigt ist: eine multikulturelle Melange verschiedenster Völkerschaften mit einer schmalen Leistungselite weltbürgerlicher Orientierung.
Die traditionelle Linke, zu der Streeck einmal zählte, hat sich durchaus (hier und da) einen Instinkt dafür bewahrt, dass die Masseneinwanderung auch für die einheimische "Arbeiterklasse" von Übel sei. Ihr "proletarischer Internationalismus" hindert sie in der Regel daran, hieraus praktische Schlussfolgerungen zu ziehen. Nach meinem Eindruck gehört es in der Max-Planck-Gesellschaft nicht zu den erlaubten Gedankenspielen, in Bezug auf Deutschland mit dem Wort "Volk" zu operieren. Was Streeck meinen und im Rahmen des gegebenen kritischen Paradigmas bewerten sollte, ist die moderne Transformation vom "Staatsvolk" zur marktförmig organisierten Bevölkerung.
Vielleicht nimmt er sich in den letzten Monaten seiner Amtszeit als MPI-Direktor aber ein wenig (Narren-)Freiheit heraus!? Bei näherer Betrachtung sieht man schließlich, dass das "Marktvolk" kein wirkliches Volk mehr ist (und auch nicht sein soll). Man kann ihm also vorwerfen, mit einer "riskanten" Metapher zu jonglieren, wo man sich doch möglichst schnell nicht nur vom (deutschen) Volk, sondern auch vom Volksbegriff verabschieden möchte.

Heino Bosselmann

28. Mai 2013 15:25

@Theoseboios: Die von mir zitierten Begriffe "Staatsvolk" und "Marktvolk" fallen als solche bei Streeck. Staatsvolk versteht er für sich als eine Gesellschaft von Bürgern, Marktvolk als auf Gläubiger, Investoren, Kapitaleigner reduziert. Bei Marx ("Zur Judenfrage" – empfehlenswert übrigens!) gibt es ja die Differenzierung in "Citoyen" und "Bourgeois" – ähnlich, aber nicht parallel zu verstehen. In der Debatte mit Habermas vertritt Streeck die Auffassung, daß Institutionen die Märkte wieder unter Kontrolle bringen müßten – auch durchaus nationalstaatlich. Während Habermas meint, mit der Stärkung des EU-Parlaments würden die postdemokratischen Zustände wieder aufgefangen. Ähnliches schwebt der SPD ja mit ihrer "Progressiven Allianz" vor. Die SZ (Th. Steinfeld) schrieb gestern zu beiden Positionen: "Die beiden Lehrern verhalten sich komplementär zueinander: Der eine Gelehrte will sich von einem universalen 'Marktgesetz' in den Nationalstaat retten, der andere hält ihn für ein Hindernis auf dem Weg zu einer Solidarität der Betroffenen, die einzig einem 'dysfunktionalen Bankensektor' widerstehen könnte. Gemeinsam ist ihnen aber nicht nur ein Ruf nach Ordnung, das Plädoyer für eine rechtstaatliche Neuordnung zwischen Volk und Kapital, sondern auch der Glaube, der Staat sei eine Instanz, die sich – ob in Gestalt des alten Nationalstaats oder eines neuen, europäischen, 'überstaatlichen demokratischen Gemeinwesens' – getrennt von diesen Verhältnissen behaupten könne und wolle. Das aber ist nicht der Fall." – Steinfeld argumentiert dann, daß der Nationalstaat gar nicht an Reichweite verliere. Aber tatsächlich ist auch bei ihm, Steinfeld, von "Volk" die Rede.

Zalmoxis

28. Mai 2013 16:14

Definition der Sozialdemokratie: "Die Sozialdemokratie kennzeichnet den Unsinn ihrer Bestrebungen schon durch den Namen. Wie mit dem Staat gegeben ist ein Unterschied von Obrigkeit und Untertan, der niemals aufgehoben werden kann, so ist dem Wesen der Gesellschaft ein für allemal gegeben die Verschiedenheit der Lebenslage und Lebensbedingungen ihrer Glieder. Um es kurz zu sagen; alle bürgerliche Gesellschaft ist Klassenordnung. Es kann durch eine weise Gesetzgebung dafür gesorgt werden, daß diese Klassenordnung nicht eine bedrückende wird, das der Übergang von unter nach oben und umgekehrt möglich erleichtert wird, aber keine Macht der Welt wird je bewirken können, dass eine neue künstliche Klassenordnung die natürliche Verschiedenheit der sozialen Gruppen aufhebt." Heinrich von Treitschke, "Politik", 1. Band, S. 50, Leipzig, 1922.

Bundschuh

28. Mai 2013 19:28

Zu zwei großen Sozialdemokraten:
Schumacher war ein anderen an moralischer Integrität, Geradlinigkeit und Haltung weit überlegener Mann, der nicht zuletzt deswegen mit den Alliierten ohne Bückling diskutierte. Während Adenauer provinziell dachte, hätte Schumacher die übereilte Westbindung und den damit verbundenen schleichenden Endverzicht auf Ostdeutschland nicht so einfach akzeptiert. Die SPD unter der eisernen Hand Schumachers war nationaler als die damalige CDU. Lassalle war hingegen kein moralisch so hochstehender oder unbeugsamer Parteiführer, aber intellektuell und demagogisch brilliant. Das was er über "Verfassungswesen" 1862 gesagt hat, ist sehr hellsichtig, metapolitisch und im übrigen heute noch gültig: https://www.gewaltenteilung.de/lassalle.htm
Keine der beiden Qualitäten hat die SPD seit Schumacher wieder gesehen.

@Meyer: Hitlerattentäter Elser und Stauffenberg als Mörder? - Schauen Sie sich einmal die Entstehungsgeschichte des § 211 StGB an. Danach kann der Tatbestand durchaus durch negative Typenkorrektur verneint werden, wenn der Täter vom Typ her kein Mörder ist. Wenn man Art. 20 IV GG als übergesetzliches Naturrecht begreift, wären die Taten zudem gerechtfertigt. Einfach rechtlich könnte das auch über Notstand gelingen. Die Fälle des Tyrannenmordes sind aber eher rechtsphilosophische Spielerein. Das Problem löst sich durch die Macht des faktischen, auch dazu wieder der verlinkte Vortrag Lassalles. Siegreichen Revolutionären fällt immer eine Rechtfertigung ein.

Meyer

28. Mai 2013 22:39

@ Bundschuh

Tatbestand erfüllt. Rechtfertigungsgrund? Nicht vorhanden. Damals gab es keinen positivrechtlichen Art. 20 IV GG und es galt auch damals keine Naturrechtsfiktion aus Art. 20 III 2. HS Alt.2 GG. Eine übergesetzliche Notstandslage bestand nicht. Damit hat es sich positivrechtlich.

Als Naturrechtler, der ich nicht bin, mag man VIELLEICHT über eine gezielte Tötung Hitlers diskutieren, nicht hingegen über die Ermordung der Unschuldigen. Wie sie wissen, reicht ja dolus eventualis als Vorsatzform auch für Mord aus; damals wie heute.
Die Tätertypenlehre ist außerdem älter als das Dritte Reich und der heutigen Lehre an Effektivität haushoch überlegen.

Für mich ist hier jede Diskussion sinnlos. Es mag sie führen, wer sie führen mag. Mit Elser habe ich schon dreifach nichts im Sinn. Seinem hypothetischen Erfolg ziehe ich in jedem Falle das reale Geschehen vor. Ich bin zudem sicher, daß der Geschehensablauf für Deutschland noch schlimmer gekommen wäre, wenn Stauffenberg Erfolg gehabt hätte. So haben wenigstens die kämpfenden Einheiten ihre Ehre bewahren können, von der man noch in Jahrhunderten sprechen wird.

Ihrer Einschätzung Schumachers ist nichts hinzuzufügen. Charakterlich und politisch ein Mann, zu dem man Aufblicken kann. In der BRD eine alleinstehende Ausnahme.

Sara Tempel

29. Mai 2013 10:45

@ Meyer
Ihre wahrhaftig reaktionäre Sicht auf die "große Errungenschaft" des modernen Staates rührt mich zutiefst. Das Frauenwahlrecht in Frage zu stellen, zeugt von einem freien Geist und wirkt befruchtend auf die "grauen Zellen."
So kann ich aus dieser Perspektive fragen, ob das Menschenrecht der
Gleichheit, das von der SPD auf die Geschlechter angewandt wurde, eine echte Bereicherung bringt. Während die Freiheit sich wesentlich schwerer verwirklichen lässt, hat sich unsere links-orientierte Gesellschaft auf dieses Ideal fixiert. Gerade in Bezug auf die beiden Geschlechter, die sich ja gerade durch ihren Unterschied definieren, kann eine Egalität nicht das Ziel sein! Das Resultat dieser überhöhten linken Idee sind weibische Männer, Schwule, vermännlichte Frauen, von alten Frauentugenden ganz zu schweigen.
Leider lässt sich die andere Seite der Medaille auch nicht übersehen: deutsche Männer kann man heute kaum noch als solche bezeichnen!
Daher mag ich diesen Blog, in dem Männer mit geistiger Potenz, wohl die letzten einer aussterbenden Art, zu Wort kommen.

Meyer

29. Mai 2013 12:59

@ Sara Tempel

Zum Schlagwort "Reaktion": Alles NEUE, was langfristig funktionell ausgerichtet ist, ist zwingend vom Jetzt-Zustand als reaktionär anzusehen.
Man muß also gar nicht raktionär sein, um reaktionäre Wirkung zu entfalten. Umgekehrt bin ich mir da gar nicht sicher.

Zum Schlagwort "Männer": Männer gibt es nach wie vor. Sie werden auch nicht aussterben. Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, daß alles früher besser war. Das Verhalten der nicht-männlichen Männer war männlicher. "Damals" schien es also besser zu sein, ohne daß es einen Hinweis darauf gibt, daß die Substanz damals besser gewesen wäre.
Heute kann man von einem stärkeren Höhenunterschied von Potential und Realität feststellen.
Der Grund dürfte in der abnehmenden Bevölkerung liegen, Brüder machen Brüder männlicher. Man lebt lange in einem Mischverhältnis aus Verbundenheit und Konkurrenz. Das schult. Und das ist das männliche Grundverhalten.

Zu Ihrer Frage nach der Gleichheit: Sie beantwortet sich selbst, bei einem Blick auf die Realität. Gleichheit kann ich nicht finden, Sie ist ein abstraktes Konstrukt und entspricht lediglich einem Soll und keinem Sein. Die Frage die sich dann anschließt: Welchen Zweck hat das Gleichheits-Soll eigentlich? Man schaue sich an, von wem die Suffragetten gesponsert wurden.
Ganz "antikapitalistisch" könnte man sagen, daß die westliche Welt zu Arbeitsdrohnen umfunktioniert wird. Da lobe ich mir - ganz reaktionär - den Islam, der das verhindert. Nur im Westen existiert kein Gegengift.

Daß es durchaus auch funktionale Gleichheitsprinzipien geben kann, zeigt ein Blick auf die Lakedaimonier, die sich selbst als homonoi bezeichneten, die Gleichen. Aber die hohen Anforderungen, denen man zu genügen hatte, der Herrschaftsstatus der Spartaner über die umliegenden Völker, erlaubt dies durchaus: Es handelte sich um eine Selekta.
Auch der ursprünglich linke Freiheitsbegriff, nämlich den Einzelnen von der Verantwortung für sich und seine Umgebung zu befreien, entspricht sicher nicht dem reaktionären, wo Freiheit in Pflicht mündet, münden muß, weil die Verantwortung ja steigt! Der Freiheit steht dann die Notwendigkeit des Erkennen und Handels gegenüber. Daraus enspringt die Pflicht! Sie ist also Kind der Freiheit, seine zwingende Folge, wenn man in existenziellen Maßstäben denkt. Für einen Linken ist Freiheit die Entbindung von der Pflicht. Es handelt sich bei allen linken Denkmodellen IMMER um die gedankliche Negatione existenziellen Denkens, wie auch das Gleichheits-Soll. Das Ende von Freiheit und Gleichheit sind damit automatisch eingeläutet.

Sara Tempel

30. Mai 2013 23:08

@ Meyer
Ihre erhellende Darstellung rückt insbesondere den Begriff der Freiheit ins rechte Licht! Allein´ meine Provokation über die "aussterbende Art" der Männer haben Sie vielleicht zu ernst genommen. - Es ist vielmehr der apollinische Geist, der einer zunehmenden Macht des chthonischen Dionysos weicht.

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