Weißmann unterscheidet darin Venners “Geste” des Freitods von jener der geistesverwandten Schriftsteller Drieu la Rochelle, Henry de Montherlant und Yukio Mishima.
… man scheut sich, ihn ohne weiteres in diese Reihe einzuordnen. Offenbar hat Venner nicht gehandelt in Reaktion auf den Zusammenbruch seiner ideologischen Hoffnungen, nicht aus einem Widerwillen gegen die Miserabilität des Daseins und auch nicht um der schönen Geste willen. Das Wort „Geste“ kommt zwar bei ihm vor, aber doch im Sinn der – großen – Tat, die am Anfang alles Neuen steht.
In einem Buch, das er vor Jahren über den französischen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs geschrieben hat, sprach er über die Notwendigkeit des „starken Bildes, das bleiben wird“. Es entstehe nur durch jene Akte, die Zugang eröffnen zu den „tiefen und geheimnisvollen Kräften, die das Überdauern der Völker sichern“.
In dem finalen Eintrag auf seinem Blog schrieb Venner:
Es bedarf vor allem einer tiefgehenden „intellektuellen und moralischen Reform“, um es mit Renan zu sagen. Diese müßte zur einer Wiedergewinnung der vergessenen französischen und europäischen Identität führen, deren Notwendigkeit immer noch nicht in aller Klarheit wahrgenommen wird.
Dazu müssen gewiß neue Ausdrucksformen gefunden werden, spektakulär und symbolisch, um die Schlaftrunkenen wachzurütteln, um das betäubte Bewußtsein zu erschüttern und die Erinnerung an unsere Wurzeln zu wecken. Wir werden in eine Zeit eintreten, in der Worte durch Taten bekräftigt werden müssen.
Wir sollten uns auch erinnern, daß, wie es auf geniale Weise Heidegger in „Sein und Zeit“ formuliert hat, die Essenz des Menschen in seinem Dasein und nicht in einer „anderen Welt“ liegt. Es ist im Hier und Jetzt, wo sich unser Schicksal bis zur letzten Sekunde erfüllt. Und diese allerletzte Sekunde hat genauso viel Bedeutung wie der Rest eines Lebens. Darum muß man bis zum letzten Augenblick man selbst bleiben. Nur indem man selbst entscheidet und sein Schicksal wahrhaftig bejaht, besiegt man das Nichts. Angesichts dieser Herausforderung gibt es keine Ausrede, da wir nur dieses eine Leben haben, in welchem es von uns abhängt, ob wir entweder ein Nichts oder ganz wir selbst sind.
Venners nächster Wahlverwandter war jedoch zweifellos Ernst Jünger, mit dem er das “abenteuerliche Herz” der Jugendjahre und die militärische Erfahrung teilte, sowie die seltene Fähigkeit “Feder und Schwert” – also Wort und Tat – in Einklang zu bringen. In einem Interview mit der JF pries Venner Jünger als Prototypen des “guten Europäers”:
Aus seiner Lebensgeschichte lassen sich unendlich viele Lehren ziehen über die europäischen Dramen dieser Zeit. Sein ritterlicher Geist und seine Haltung waren unverwüstlich. In seiner Körperhaltung drückte sich seine geistige Haltung aus. Haltung zu haben, heißt auch, Distanz zu wahren: Distanz zu den niederen Leidenschaften wie zur Niedertracht der Leidenschaften. Jünger gab sich nicht mit dem Schreiben zufrieden, sondern er lebte, was er schrieb. Ich sehe in ihm ein Vorbild für eine Erneuerung, eine Renaissance.
Im selben Interview beschrieb Venner die heutige Zivilisation Europas als fehlgeleitet und selbstmörderisch:
Hier in Europa erleben wir eine beginnende Verweigerung des wahnwitzigen Konsums und eine Sehnsucht, sich ein authentischeres Leben aufzubauen, um mit Heidegger zu sprechen. Immer mehr Menschen kommen zu der Überzeugung, daß man, um besser zu leben, weniger konsumieren muß. Das ist ein zutiefst revolutionärer Gedanke. Wir beginnen zu sehen, daß die Produktivität um jeden Preis zerstörerisch ist. Das zeigt zum Beispiel eine französische Statistik vom Herbst 2009 über Selbstmorde bei der Arbeit. Die neuen Arbeitsformen und der Leistungswettbewerb, dem die Kosmokratie das „Humankapital“ unterwirft, treiben demnach Menschen in den Freitod!
Von hier aus führt eine unterirdische Verbindungslinie in ein anderes Kapitel und eine andere Schule der französischen Dissidenz. Dazu müssen wir ein wenig ausholen.
Diese Distanz wird auch spürbar in den Zeilen seiner Abschiedsnote:
Ich wähle einen hochsymbolischen Ort, die Kathedrale von Notre Dame de Paris, die ich respektiere und bewundere: das Genie meiner Vorfahren hat sie auf einer Kultsstätte errichtet, die viel älter ist und an unsere weit in die Geschichte zurückreichenden Wurzeln erinnert.
Hat seine Tat also frisches Blut in alte Kathedralen fließen lassen, auf daß sich erneut Götter auf ihre verlassenen Altäre niederlassen? Die Dome Frankreichs, Deutschlands und Italiens gehören in der Tat zu den herrlichsten Zeugen des europäischen Geistes. Aber sie scheinen heute, da sich der christliche Glaube säkularisiert und historisiert hat, nur mehr als Museen und touristische Schaustücke der Großstädte weiterzubestehen, nicht anders als die zwar prächtige, aber keinen Gott (inzwischen auch keinen Allah) mehr preisende Hagia Sophia im ehemaligen Konstantinopel.
Nietzsche schrieb in seinem berühmten Gleichnis vom “tollen Menschen”, der auf den Straßen den “Tod Gottes” verkündigt:
Man erzählt noch, dass der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedenen Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: “Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Gräber und die Grabmäler Gottes sind?”
In diesem Geiste tat sich im Jahre 1950 eine Gruppe junger Männer zusammen, um die Ostersonntagsmesse in Notre-Dame mit einem schockartigen Überfall zu stören. Ihr Kopf, der 21jährige Michel Mourre, erschien auf der Kanzel im Ornat eines Dominikanermönches und hielt eine flammende Rede, im Stile eher Zarathustras als des “tollen Menschen”, verfaßt von dem “lettristischen” Poeten Serge Berna:
Wahrlich, ich sage euch: Gott ist tot. / Wir speien die Lauheit eurer Gebete aus, / Denn eure Gebete waren der schmierige Rauch über den Schlachtfeldern unseres Europa. / Geht fort in die tragische und erhabene Wüste einer Welt, in der Gott tot ist, / bis die Erde erneuert ist mit euren bloßen Händen, / Mit euren stolzen Händen, / Mit euren Händen, die nicht beten. / Heute, Ostern des Heiligen Jahres, / hier unter dem Zeichen von Notre Dame de Paris, / Verkünden wir den Tod des Christengottes, auf daß der Mensch lebe zuletzt.
Die Störenfriede wurden verhaftet, und Mourre für zwei Wochen in die Psychiatrie gesteckt. Der Skandal wurde zum Gegenstand monatelanger Debatten in den französischen Feuilletons, an denen sich zahlreiche Geistesgrößen von André Breton bis Gabriel Marcel beteiligten. Man kann allerdings der Rede entnehmen, daß Mourre alles anderer als platter, pöbelnder Ikonoklast war – die Differenz zu steindummen und vermutlich von interessierter Seite gesponserten “letzten Menschen” wie den Nacktweibern von “Pussy Riot”, die vor ein paar Monaten vor Notre-Dame einem abgetretenen Papst hinterherspuckten, ist immens.
Mourres Predigt richtete sich explizit an die “Lauwarmen”, die nach dem berühmten Wort aus der Johannesoffenbarung “weder heiß noch kalt” sind, und die der Herr aus seinem Mund “ausspucken” wird. Mourres eigener Lebensweg verlief sehr eigenwillig. Der Sohn eines bürgerlichen Sozialisten und “Pfaffenfressers” hatte sich als Jugendlicher noch in der Phase des Zusammenbruchs der Kollaboration angeschlossen. Dafür mußte er nach Kriegsende im Gefängnis büßen, wo er die Schriften von Charles Maurras entdeckte (Venner schrieb übrigens eine bedeutende “Geschichte der Kollaboration”).
Es folgte eine katholisch-royalistische Phase, die er mit dem Eintritt in den Dominikanerorden besiegelte. Sein spiritueller Durst nach dem Absoluten wurde jedoch auch dort nicht gestillt. Schließlich verlor er vollständig den Glauben, und schloß sich den von dem Exilrumänen Isidore Isou gegründeten “Lettristen”, einer Künstlergruppe in der Tradition der Dadaisten und Surrealisten, an.
Karlheinz Weißmann schrieb dazu:
Mourre zog auch jetzt die Konsequenz, verließ den Orden, ging wieder nach Paris, verbummelte seine Tage in den Cafés von Saint Germain des Prés, ein Bohémien unter Bohémiens. Darf man den Schilderungen seines Freundes Armin Mohler glauben, waren seine Lebensumstände mehr als abenteuerlich. Aber fertig war er noch nicht mit der letzten großen Sache, der er sich verschrieben hatte. Vielleicht fiel der Entschluß zu der Aktion in Notre Dame tatsächlich erst zwei Tage vorher, aber der Wunsch, sich an Gott zu rächen, muß längst schon mächtig gewesen sein.
Danach verschwand Mourre in der Obskurität, und widmete sich fortan der geisteswissenschaftlichen Arbeit.
Mourre wurde nach vierzehn Tagen aus der Psychiatrie entlassen, gab den Kontakt zu seinen alten Freunden auf, schloß sich in seiner Bibliothek ein und begann ein Buch über seine Entwicklung zu schreiben, das unter dem Titel „Malgré le blasphème“ erschien.
Der deutsche Titel „Gott ist tot?“ wirkt nichtssagender, ohne daß das dem Erfolg geschadet hätte. Die Übersetzung erschien in einem renommierten katholischen Verlag und wurde zum Anlaß einer intensiven Diskussion, nicht nur in kirchlichen Kreisen der Bundesrepublik. Aber der Ruhm verging rasch. In Deutschland blieben Mourre nur einige Bewunderer, darunter Carl Schmitt und Ernst Jünger. (…)
Nur ein paar Anarchisten bewahren ihm ein ehrendes Andenken. Er selbst lebte ein exzentrisches, jedenfalls rastloses Leben und hat die innere Ruhe, die er so ersehnte, wohl nie gefunden. Michel Mourre starb 1977, nur neunundfünfzig Jahre alt, an einem Gehirntumor.
Die Lettristen aber spalteten sich nach der Notre-Dame-Aktion in “Künstler” und “Aktivisten”. Dem zweiteren, radikaleren Flügel schloß sich der junge Guy Debord an, der später zu einem bedeutenden Kritiker des Konsumgesellschaft und der Massenmedien wurde. 1985 schrieb Debord einen scharfkantigen Text über den Identitätsverlust Frankreichs und das Problem der Masseneinwanderung, in dem es viele Berührungspunkte zu Dominique Venner gibt.
Debord gebrauchte gerne das Bild einer Gesellschaft von “Schlafwandlern” , die vom “Spektakel” im Tiefschlaf gehalten wird; 2013 gebrauchte Venner ein ähnliches Bild, als er seine Tat als gezielten Schock konzipierte, um die Gesellschaft aus einer fatalen Bewußtlosigkeit und Lethargie, aus einem tödlichen Schlummer zu reißen.
Wie Venner wählte übrigens auch der (gleich Michel Mourre rastlose) Debord den Freitod – allerdings aus Lebensüberdruß infolge einer schweren Krankheit, die die Quittung für jahrzehntelange Alkoholexzesse war. Alle drei Genannten entstammten ungefähr derselben Generation: Mourre war Jahrgang 1928, Debord 1931, Venner 1935.