Der britische Europaabgeordnete Nigel Farage der immer erfolgreicheren UK Independence Party (UKIP) hat vor einigen Wochen sogar vor einer gewaltsamen Revolution im Süden Europas gewarnt. Die wirtschaftliche Situation der Euro-Staaten sei so katastrophal, daß die Auswirkungen der Revolution definitiv auch in den Teilen Europas spürbar wären, in denen die Menschen noch glauben, ihre „Heile Welt“ werde ewig halten.
Doch Vorsicht! Allein eine schlechte Entwicklung der Wirtschaft und soziale Probleme werden den Impuls zur Lösung der europäischen Krise nicht liefern. Das Ganze ist kein Selbstläufer, wie das Beispiel Spanien mit einer Jugendarbeitslosigkeit von über 50 Prozent belegt. Der Autor Carlos Wefers Verástegui hat das eindrucksvoll im Laufe des letzten Jahres beschrieben. Der unideologische, soziale Protest der Bewegung „15. Mai“ (auch bekannt als „Los Indignados” , die „Empörten”) hält zwar bis heute an, aber er ist harmlos, weil er schnell zu einer typisch demokratischen Spielwiese verkommen ist:
Unfähig, sich politisch artikulieren zu können, richteten es sich die „Empörten” in den Innenstädten häuslich ein. Sie bildeten utopische Siedlungen und Zeltstädte, in denen immer wieder dieselben endlosen Diskussionen, zum Beispiel über Rätedemokratie mit Direktakklamation, zu vernehmen waren. Einzelne Stimmen, die forderten, die Monarchie König Juan Carlos´ abzuschaffen, waren aber in der Minderzahl. Nur mit Plakataktionen, immer wieder begleitet von der programmatischen Beteuerung der eigenen Gewaltlosigkeit, war nichts zu erreichen. Der 15‑M war damit, im schlimmsten Sinn des Wortes, harmlos.
2011 startete die Bewegung „15. Mai“ furios. Interessant ist, daß es damals den meisten Demonstranten noch vergleichsweise gut ging. Inzwischen hat sich das geändert: Die Bewegung ist tot, und den jungen Leuten geht es wirklich schlecht. Verástegui sieht den Grund dafür in der Schuldenfalle, die der spanischen Jugend zum Verhängnis wurde. Die Jugend habe sich in den Jahren des Wohlstandes verschuldet, um sich ein angenehmes Leben zu gönnen. Die Schulden waren solange kein Problem, wie jeder Arbeit hatte. Mit der Arbeitslosigkeit schnappte dann die Falle zu und ruinierte ganze Familien.
Als Ausweg bietet sich seither für viele nur noch eine Auswanderung – vorzugsweise nach Deutschland – an. Der spanische Staat, die Europäische Union und Deutschland unterstützen diese Pläne, weil sie ein gemeinsames Interesse daran haben, daß es ruhig bleibt. Die Rechnung ist einfach: Wer auswandert, beteiligt sich nicht am Aufstand. In welche ungewisse Zukunft die Auswanderungswilligen entlassen werden, schildert Verástegui mit eigenen Erfahrungen von einem Eures-Workshop „Leben und Arbeiten in Deutschland“ ebenso: Es gehe dabei nicht um Hilfe für die Arbeitslosen, sondern die Interessen der „deutschen“ Wirtschaft. Massenhaft sollen Menschen nach Deutschland kommen, ohne daß sie sich sicher sein können, hierzulande auch eine Arbeit zu finden:
Worum es tatsächlich geht, ist der Übermut und die Tyrannei der Wirtschaft, die keine Nationalitäten und Grenzen mehr kennt, die Menschen nicht „für voll“ nimmt, und durch systematische und selektive Zuwanderung die Löhne der Inländer, sprich der Deutschen, zu drücken sucht. Was den „deutschen Arbeitsmarkt“, der mir plötzlich nicht mehr so deutsch vorkommt, betrifft, so steht fest, dass dieser seinen Nutzen aus dem Zerfall des spanischen Gemeinwesens zieht. So wie es die Spanier selbst mit anderen Nationen gemacht haben, als es ihnen noch gut ging.
Wenn Angela Merkel dieser Tage von einem „Binnenmarkt im Arbeitsmarkt“ spricht, dann hat sie die systemerhaltende, aber identitätszerstörende Wirkung dieser Forderung garantiert im Blick. Nur aus einer festen Gemeinschaft heraus entsteht nachhaltiger Widerstand. Ein einsamer Spanier in Berlin hingegen wird gegen nichts rebellieren. Er wird im besten Fall versuchen, unter Einsatz seiner Ellenbogen das Beste für sich herauszuholen und sich in die neue Gesellschaft zu integrieren.
Wer nach einer Begründung für unsere schwierigen metapolitischen Bemühungen sucht, sollte sich dies immer vor Augen halten: Soziale Schieflagen und fehlkonstruierte Währungen können mit der richtigen Staatstechnik behandelt werden. Selbst wenn die Rettungsstrategie schiefgeht, haben die Herrschenden häufig immer noch Oberwasser, weil keine echten Alternativen am Horizont auftauchen.
Welche Alternativen für Europa gibt es aber nun – gerade für den erschütterten Süden?
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat im März in seinem Heimatland und Frankreich eine beachtenswerte Debatte losgetreten, die inzwischen auch in Deutschland angekommen ist. In Anlehnung an Alexandre Kojève schlug er die Bildung eines „lateinischen Imperiums“ vor, bestehend aus Italien, Spanien und an der Spitze Frankreich. Dieses Imperium solle sich als Bewahrer der europäischen Kultur und Lebensform der Wirtschaftsmacht Deutschland entgegenstellen. Agamben bringt also den altbekannten Gegensatz von Kultur und Zivilisation ins Spiel und wendet ihn so, daß der Süden mit dem durchökonomisierten Norden (Deutschland und das angelsächsische Reich) brechen müsse, um zu eigener Identität und Stärke zu gelangen:
Nicht nur ergibt es keinen Sinn, von einem Griechen oder einem Italiener verlangen zu wollen, dass er wie ein Deutscher lebt, doch selbst wenn das möglich wäre, würde es zum Verschwinden eines Kulturguts führen, das vor allem in einer Lebensform liegt. Und eine politische Einheit, die Lebensformen lieber ignoriert, ist nicht nur zu kurzer Dauerhaftigkeit verdammt, sondern bringt es nicht einmal fertig, sich als solche darzustellen – wie Europa sehr eloquent beweist.
Jürgen Kaube von der FAZ hat Agamben daraufhin vorgeworfen, mit „aggressiven nationalen Stereotypen“ zu spielen. In der Überschrift bezeichnet er ihn despektierlich als „Berlusconis Philosoph“, der „krude Thesen“ liebe. Als Replik zu diesem Kommentar hat die FAZ vor wenigen Tagen ein Gespräch mit Agamben geführt, das es in sich hat, weil er seine Thesen konkretisiert. Agamben schwächt zunächst den Vorwurf des Nationalismus ab:
In Europa liegt die Identität jeder Kultur immer schon an den Grenzen. Ein Deutscher wie Winckelmann oder Hölderlin kann griechischer sein als ein Grieche. Und ein Florentiner wie Dante kann sich genauso deutsch fühlen wie der schwäbische Kaiser Friedrich II. Genau darin besteht ja Europa: in dieser Einzigartigkeit, die immer wieder die nationalen und kulturellen Grenzen überschreitet.
Warum dann das „lateinische Imperium“? Agamben bestreitet beharrlich das Vorhandensein von Europa als eigenständiger politischer Größe. Denn:
Der kleinste Nenner von Einigkeit wird noch erreicht, wenn Europa als Vasall der Vereinigten Staaten auftritt und an Kriegen teilnimmt, die in keiner Weise im gemeinsamen Interesse liegen, vom Volkswillen mal ganz zu schweigen. Sowieso gleichen diverse Gründerstaaten der EU – wie etwa Italien mit seinen zahlreichen amerikanischen Militärbasen – eher Protektoraten als souveränen Staaten. In der Politik und beim Militär gibt es ein atlantisches Bündnis, aber sicher kein Europa.
Die Idee vom „lateinischen Imperium“ soll vielmehr helfen, die kulturelle Einheit zurückzugewinnen und die wirtschaftlichen Zwänge zurückzudrängen. Es gehe dabei nicht „gegen Deutschland“, sondern um die Zerstörung der „historischen Identität“:
Indem sie die deutschen Städte bombardierten, wussten die Alliierten auch, dass sie die deutsche Identität zerstören konnten. In gleicher Weise zerstören Spekulanten heute mit Beton, Autobahnen, Hochgeschwindigkeitstrassen die italienische Landschaft. Damit wird uns nicht nur einfach ein Gut geraubt, sondern unsere historische Identität.
Die Wirkung von Agambens metapolitischer Attacke liegt in der Dreistigkeit begründet, in Zeiten einer Wirtschaftskrise ähnlich wie in Frankreich wieder damit anzufangen, nicht allein über die sozialen Probleme zu sprechen, sondern das Grundsätzliche anzupacken. Er spricht in dem Interview von den europäischen „Kulturen und Lebensformen“, die durch einen Rückgriff auf die Geschichte bewahrt werden müßten. Dabei müsse man gerade eine „Musealisierung der Vergangenheit“ verhindern:
Ganz offensichtlich sind heute in Europa Kräfte am Werk, die unsere Identität manipulieren wollen, indem sie die Nabelschnur zerstören, die uns noch mit unserer Vergangenheit verbindet. Stattdessen sollen die Unterschiede eingeebnet werden. Europa kann aber nur unsere Zukunft sein, wenn wir uns klarmachen, dass es erst einmal unsere Vergangenheit bedeutet. Und diese Vergangenheit wird zunehmend liquidiert.
In der letzten Antwort des Gesprächs weist Agamben daraufhin, daß es die Aufgabe Europas sein könnte, die menschlichen Handlungen jenseits der einseitigen Fokussierung auf die Ökonomie neu zu organisieren. Das klingt nach Décroissance, einer nachhaltigen Wachstumszurücknahme zugunsten der Kultur, und ist der Kern des Anliegens von Agamben.
Kaube hat mit seiner Kritik also vollkommen daneben gezielt. Dabei wäre es so einfach gewesen, die Idee des „lateinischen Imperiums“ mit Hilfe Agambens früherer politischer Antworten zu zerpflücken. In der Gesellschaftsanalyse war er schon immer nah bei uns, die Antworten hingegen waren vollkommen andere. Agamben sieht einen Siegeszug der Beliebigkeit. Doch anders als wir wendet er dies in seiner Essaysammlung Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik ins Positive. Für die europäische Staatenwelt wünscht er sich, daß sie sich zugunsten von „aterritorialen“ und „extraterritorialen“ Räumen auflöst, damit die „Dreieinigkeit von Staat-Nation-Territorium“ aufhört zu existieren. An anderer Stelle schreibt Agamben, daß er die beliebige Gesellschaft als liebenswert empfinde. Beliebigkeit bedeute, das Geliebte so zu akzeptieren, wie es ist.
Wie sich dies mit dem „lateinischen Imperium“ verträgt, muß die eigentliche Frage an Agamben sein. Sollte er sie nicht zufriedenstellend beantworten können, ließe dies auch einen wichtigen Schluß zu: Zumindest die klugen Seismographen (zu denen Agamben zählt) merken im entscheidenden Moment, im Ernstfall, sehr schnell, daß es jetzt nicht mehr auf ihre theoretischen Konstrukte ankommt. Es zählt nur noch, sich entschieden für eine Sache, nämlich die Verteidigung des Eigenen, einzusetzen.
Ein Fremder aus Elea
Nun ja, ich denke der Hintergrund dieser Äußerungen besteht darin, daß Agamben davon ausgeht, daß Deutschland, selbst wenn es da wollte, eine Politik der europäischen Identitäten nicht unterstützen kann, weil es nicht souverän ist, und somit das romanische Europa zum Bruch und zum feindlichen Gegensatz aufruft.
Oder, um es kürzer zu sagen, wenn die angelsächsische Welt der Feind ist, dann muß auch Deutschland der Feind sein, da es eine Provinz derselben ist.