Das erste Stück durch das Dorf, in dem ich lebe. Zur Zeit der Wirtschaftskrise wurde es als pleite gegangenes Gut von 1929 bis 1932 aufgesiedelt.
Seither besteht es aus weit auseinanderliegenden Höfen – Teil des respektablen Siedlungsprogramms der Weimarer Republik, das vom Dritten Reich fortgesetzt wurde. Hier fanden sich Bauern aus dem gesamten Reichsgebiet ein, die eine neue Heimat aufbauen wollten.
Es gelang ihnen – über den Krieg hinweg als freie Bauern bis zur dramatischen, bisweilen tragischen Vergenossenschaftlichung im „sozialistischen Frühling“, aber selbst innerhalb der LPG. Die Söhne und Töchter der ersten Siedlergeneration arrangierten sich – oder gingen in den Westen. Das Dorf jedenfalls lebte. In den Neunzigern Jahren aber schlief es ein. Da die Bewohner ihr Erspartes investierten, sind die Häuser intakt. Viel mehr ist morgens nicht wahrzunehmen.
Ich kann mitten auf der Straße laufen, weil sich zwischen sieben und acht nichts tut. Das war früher die Zeit, in der ein Dorf erwachte. Und zwar spätestens. Jetzt ruht es. Das ist der Gang der Dinge, mag man sagen. Die industrialisierte Landwirtschaft ließ den historischen Gründungsimpuls der Dörfer erlöschen. Überall.
Dank Technik und Chemie bedarf die Großflächenwirtschaft maximal eines Dutzends Leute für über tausend Hektar. Höchsterträge sichern niedrige Preise. Zwischen den Kampagnen zur Aussaat und Ernte von Raps, Mais und Getreide wird ab und an Dünger ausgebracht; regelmäßig fährt dann nur noch die Giftspritze für Herbizide und Insektizide über die Felder. Das Land gehört nicht mehr irgendeinem Grafen, sondern irgendeinem Herrn aus Holstein, der alles aufkaufte, noch bevor nach den Zeiten der EU-Stillegungsprämien die Bodenpreise explodierten, weil mit Energiepflanzen ordentlich grüner Reibach zu machen war und wieder alles in Nutzung ist.
Kaum jemand kennt den Besitzer, denn alles läuft, gut ostelbisch, über einen Verwalter. Früher hieß der Inspektor. Der Sohn des Agrarunternehmers feierte aber kürzlich den Abschluß seines BWL-Studiums mit seinen Freunden im Vereinsraum der Nachbargemeinde. Smarter Junge, gestreiftes Hemd, gesichertes Erbe.
Man kann sich die intensiv genutzte Landschaft etwa so wie eine filmische Impression aus Iowa vorstellen. Felder bis zum Horizont, dazwischen die in der Sonne blitzenden Edelstahlsilos, welche sich in der Landschaft ausnehmen wie gelandete Raumschiffe, die hier Überlebensbedingungen prüfen. Dennoch werden im Herbst die überall gleichen Figuren aus je drei Rundballen Stroh aufgestellt. Bauer und Bäuerin. Zum Erntefest. Obwohl längst keiner mehr erntet, sondern ein Unternehmen mit Angestellten ganz unspektakulär Biomasse produziert. Vom echten Brauchtum bleibt immer – Folklore.
Mir begegnen – pünktlich wie ein Uhrwerk – täglich dieselben Fahrzeuge: Erst zwei Kleinwagen – der von der AWO, danach jener der Diakonie. Sie sind unterwegs zu Pflegefällen. Dann der Schulbus, beinahe leer, schließlich jener, der die Lern- oder anderweitig Behinderten zu Betreuungseinrichtungen bringt. Ich winke den Fahrern, die denken mögen: Ah, wieder der Jogger unterwegs. – Und niemand sonst.
Nach den Autos Ruhe, der Horizont frei. Mitten auf der Straße ein Beschleunigungslauf, schön bergauf. Alles leer, alles still, wie in einer Dystopie, aber nicht so bedrückend wie in Corman McCarthys „Die Straße“, sondern mecklenburgisch frisch, sonnig, beinahe romantisch. Ich registriere, daß es in der aufgeräumten, geputzten und hektarweise mit Monsanto-Roundup kontaminierten Landschaft von Jahr zu Jahr weniger Bienen, weniger Schwalben, sogar weniger Spatzen und Stare gibt, die Lerchen aber seltsamerweise ihre Zahl halten, und daß Wiesenweihen, die – als Bodenbrüter – fast ausgestorben waren, offenbar ihren Frieden mit der Monokultur gemacht haben und sich sichtlich vermehren.
Von fern ein Kuckuck.
Kurz vorm Ziel begegnet mir in meiner Straße häufig die alte Frau W., ehemals (LPG-)Bäuerin hier in zweiter Generation. Ihr sind künstliche Hüftgelenke eingesetzt worden, deswegen trainiert sie wacker mit Gehhilfen und läßt sich nicht hängen. Wir bleiben immer in Bewegung, sagt sie lächelnd. Und ich grüße und mache ihr ein Kompliment.
Bin ich zurück und springe in die Regentonne, öffnen in Reuterstadt Stavenhagen die Discounter. Deswegen beginnt etwas Verkehr. – Ja, Frau W., wir bleiben immer in Bewegung. Versprochen.