Toleranz – Die 9. Todsünde der zivilisierten Menschheit

pdf der Druckfassung aus Sezession 28 / Februar 2009

1973 veröffentlichte Konrad Lorenz Die acht Todsünden der...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

zivi­li­sier­ten Mensch­heit, eine kul­tur­kri­ti­sche, pes­si­mis­ti­sche Ana­ly­se der gesell­schaft­li­chen Ver­falls­er­schei­nun­gen und Zivi­li­sa­ti­ons­krank­hei­ten sei­ner Zeit. Er schrieb die­se Ana­ly­se ent­lang der wis­sen­schaft­li­chen Grund­sät­ze der Etho­lo­gie, der von ihm mit­be­grün­de­ten und aus­dif­fe­ren­zier­ten Leh­re vom Ver­hal­ten der Tie­re und Men­schen. Die­ses Ver­hal­ten kann in sei­nem rezen­ten, also jeweils aktu­el­len Zustand beob­ach­tet und als die Funk­ti­on eines Sys­tems beschrie­ben wer­den, »das sei­ne Exis­tenz wie sei­ne beson­de­re Form einem his­to­ri­schen Wer­de­gang ver­dankt, der sich in der Stam­mes­ge­schich­te, in der Ent­wick­lung des Indi­vi­du­ums und beim Men­schen, in der Kul­tur­ge­schich­te abge­spielt hat« (Kon­rad Lorenz).

Es steht also die Fra­ge im Raum, war­um wir Heu­ti­gen uns so oder so ver­hal­ten, und Lorenz betont an meh­re­ren Stel­len sei­ner Ana­ly­se, daß er erst über die Defor­mie­rung mensch­li­chen Ver­hal­tens zu der Fra­ge gelangt sei, wel­che Not­wen­dig­keit eigent­lich hin­ter dem So-Sein des Men­schen ste­he: »Wozu dient der Mensch­heit ihre maß­lo­se Ver­meh­rung, ihre sich bis zum Wahn­sinn stei­gern­de Hast des Wett­be­werbs, die zuneh­men­de, immer schreck­li­cher wer­den­de Bewaff­nung, die fort­schrei­ten­de Ver­weich­li­chung des ver­städ­ter­ten Men­schen usw. usf.? Bei nähe­rer Betrach­tung aber zeigt sich, daß so gut wie alle die­se Fehl­leis­tun­gen Stö­run­gen ganz bestimm­ter, ursprüng­lich sehr wohl einen Art­erhal­tungs­wert ent­wi­ckeln­der Ver­hal­tens-Mecha­nis­men sind. Mit ande­ren Wor­ten, sie sind als patho­lo­gisch aufzufassen.«

In acht Kapi­teln wirft Lorenz sei­nen etho­lo­gisch geschul­ten Blick auf anthro­po­lo­gi­sche Kon­stan­ten und zeit­be­ding­te Ent­wick­lun­gen und kommt zu ver­hee­ren­den Ergeb­nis­sen: Rund­um­ver­sor­gung und Mas­sen­kon­sum, Ver­weich­li­chung und Über­be­völ­ke­rung, Indok­tri­nier­bar­keit und gene­ti­scher Ver­fall – all dies tra­ge dazu bei, aus den Men­schen eine dege­ne­rie­ren­de, leicht mani­pu­lier­ba­re Mas­se zu machen. Vom Wunsch einer Höher­ent­wick­lung und Ver­ede­lung mensch­li­cher Mög­lich­kei­ten bleibt nicht viel übrig.

»Maß­los«, »Wahn­sinn«, »Fehl­leis­tun­gen«, »patho­lo­gisch«: Man hat Lorenz die Ver­wen­dung sol­cher Voka­beln vor­ge­wor­fen und bean­stan­det, er wer­te bereits durch sei­ne Wort­wahl den Gegen­stand, den er doch zunächst bloß zu beob­ach­ten habe. Der Vor­wurf stimmt: Lorenz weist sich mit sei­nen Tod­sün­den als kon­ser­va­ti­ver Kul­tur­kri­ti­ker aus, der dem Men­schen als Mas­se nicht viel abge­win­nen kann und auf­grund sei­ner All­tags- und Fall­stu­di­en einen Nie­der­gang aus eins­ti­ger Höhe kon­sta­tie­ren muß. Was aber ist an der Beschrei­bung von Lorenz anders als an den vie­len Kri­ti­ken und Ana­ly­sen, die bis heu­te das kon­ser­va­ti­ve Feuil­le­ton füllen?

Lorenz hat als Natur­wis­sen­schaft­ler har­te Fak­ten zur Hand, mit denen er sei­ne Beob­ach­tun­gen und Ablei­tun­gen stützt. Er geht als Etho­lo­ge von Dis­po­si­tio­nen aus, die den Men­schen wie ein Kor­sett umklam­mern. Sei­nen Genen, sei­nen Antrie­ben, Refle­xen und phy­lo­ge­ne­ti­schen Dis­po­si­tio­nen kann er nicht ent­flie­hen, er ist in Zwangs­läu­fig­kei­ten ein­ge­sperrt wie in einen Käfig. Auf Sei­te 56 in die­sem Heft ist das unter dem Begriff »Ver­hausschweinung« ein­mal pole­misch durch­de­kli­niert: Die acht Tod­sün­den sind voll von wei­te­ren Bei­spie­len. Wenn Lorenz etwa die dem Men­schen typi­sche Erhö­hung der öko­no­mi­schen Umlauf­ge­schwin­dig­keit und die dar­aus resul­tie­ren­de Rast­lo­sig­keit in Kon­sum und Bedarfs­be­frie­di­gung als »Wett­lauf mit sich selbst« bezeich­net, stellt er als Erklä­rungs­mo­dell das Prin­zip des Regel­krei­ses dane­ben und zeigt, war­um lawi­nen­ar­ti­ge Pro­zes­se auf­grund aus­schließ­lich posi­ti­ver Rück­kop­pe­lung ins Ver­hee­ren­de und letzt­lich ins Ver­der­ben füh­ren. Das­sel­be gilt auch für die Über­be­völ­ke­rung, die Lorenz als die zen­tra­le Tod­sün­de an den Anfang stellt und von der her er die meis­ten ande­ren Fehl­ent­wick­lun­gen ablei­tet, etwa auch »Das Abrei­ßen der Tra­di­tio­nen«: Lorenz beschreibt, wie gefähr­lich es für die Ent­wick­lung eines Kin­des ist, wenn es bei sei­nen Eltern und in sei­ner nahen Umge­bung ver­ge­bens nach rang­ord­nungs­mä­ßi­ger Über­le­gen­heit sucht und in sei­nem Stre­ben und sei­ner Ent­wick­lung ohne (ver­eh­rungs­wür­di­ges) Ziel blei­ben muß. Lorenz macht das Ver­schwin­den unmit­tel­bar ein­leuch­ten­der Hier­ar­chien zum einen an der moder­nen Arbeits­welt fest: Die Aus­tausch­bar­keit von Mut­ter und Vater am Schreib­tisch ist ein revo­lu­tio­nä­rer Vor­gang der letz­ten zwei Gene­ra­tio­nen. Der ande­re Grund liegt in der Über­tra­gung einer Gleich­heits­leh­re vom Men­schen auf mög­lichst alle Lebens­be­rei­che: »Es ist eines der größ­ten Ver­bre­chen der pseu­do­de­mo­kra­ti­schen Dok­trin, das Bestehen einer natür­li­chen Rang­ord­nung zwi­schen zwei Men­schen als frus­trie­ren­des Hin­der­nis für alle wär­me­ren Gefüh­le zu erklä­ren: ohne sie gibt es nicht ein­mal die natür­lichs­te Form von Men­schen­lie­be, die nor­ma­ler­wei­se die Mit­glie­der einer Fami­lie mit­ein­an­der verbindet.«

Wäh­rend nun das gen­der main­strea­ming – das Lorenz noch nicht so nen­nen konn­te – Orgi­en der Gleich­heit zele­briert, Mann und Frau also wei­ter­hin auf Unun­ter­scheid­bar­keit getrimmt wer­den, scheint es mit der pseu­do-demo­kra­ti­schen Dok­trin nicht mehr über­all so aus­sichts­los gut zu ste­hen, wie Lorenz es noch ver­mu­ten muß­te. Wenn sich ihr Zeit­al­ter in der gro­ßen Poli­tik sei­nem Ende zuzu­nei­gen scheint, hat man doch bis in den Kin­der­gar­ten hin­ein die Durch­set­zung des Abstim­mungs­prin­zips bei glei­cher Stimm­ge­wich­tung von Erwach­se­nem und Klein­kind fest­zu­stel­len. Dies alles scheint einem Abbau der Not­wen­dig­keit einer Ent­schei­dung zu fol­gen: Wenn die Zeit kei­ne in ihrer Beson­der­heit wirk­sam her­aus­mo­del­lier­ten Män­ner und Frau­en, son­dern vor allem in ihrem Ein­heits­ge­schmack und ihrer Funk­ti­ons­tüch­tig­keit her­aus­mo­del­lier­te Ver­brau­cher erfor­dert, ver­hält sich die zivi­li­sier­te Mensch­heit wohl so, wie sie sich der­zeit ver­hält. Und wenn es nichts aus­macht, ob die Fähi­gen (etwa: die Erzie­her) oder alle (etwa: die Klein­kin­der) mit­ent­schei­den, dann hat man tat­säch­lich alle Zeit der Welt und kann die Kon­se­quen­zen von Fehl­ent­schei­dun­gen immer wie­der aus­bü­geln – und die beim Aus­bü­geln neu ent­stan­de­nen Fal­ten wie­der­um, und so weiter.

An Bei­spie­len wie dem vom Ver­lust der Rang­ord­nung und am Hin­weis auf eine pseu­do-demo­kra­ti­sche Dok­trin hat sich die Kri­tik fest­ge­bis­sen. Neben vie­len Refle­xen gibt es beden­kens­wer­te Ein­wür­fe, etwa den von Fried­rich Wil­helm Korff, der eine Neu­aus­ga­be der Tod­sün­den mit einem Nach­wort ver­sah. Er schreibt mit viel Sym­pa­thie über Lorenz’ pro­vo­zie­ren­des Buch und weist den Leser auf eine selt­sa­me Unstim­mig­keit, ein Pen­deln zwi­schen zwei Ebe­nen hin. Auf der einen Sei­te näm­lich las­se die aus dem uner­bitt­li­chen stam­mes­ge­schicht­li­chen Ver­lauf her­rüh­ren­de Fehl­ent­wick­lung der zivi­li­sier­ten Mensch­heit kei­ner­lei Raum für Hoff­nung: Etwas, das qua Gen oder Art­erhal­tungs­trieb so und nicht anders ablau­fen kön­ne, sei nicht auf­zu­hal­ten und nicht kor­ri­gier­bar. Auf der ande­ren Sei­te fin­de sich Lorenz eben nicht mit der Rol­le des kühl dia­gnos­ti­zie­ren­den Wis­sen­schaft­lers ab, son­dern gera­te ins Pre­di­gen und for­mu­lie­re pro Kapi­tel min­des­tens einen Auf­ruf, aus der Kau­sal­ket­te der zwangs­läu­fi­gen Ent­wick­lung aus­zu­stei­gen. Lorenz selbst hat die­se Ver­wi­schung der Kate­go­rien »Wis­sen­schaft« und »Pre­digt« in einem »Opti­mis­ti­schen Vor­wort« für spä­te­re Aus­ga­ben auf­zu­fan­gen ver­sucht, indem er etwa auf die Brei­ten­wir­kung der Öko­lo­gie-Bewe­gung hin­wies, von der bei Ver­fas­sen sei­ner Schrift noch nicht viel zu bemer­ken war. Im Grund aber blei­ben die Tod­sün­den bis heu­te ein star­kes Stück kon­ser­va­ti­ver Kulturkritik.

Was also ver­such­te Kon­rad Lorenz mit sei­nem Buch? Er ver­such­te auf den per­ma­nen­ten Ernst­fall hin­zu­wei­sen, den der »Abbau des Mensch­li­chen« (auch ein Buch­ti­tel von Lorenz) ver­ur­sacht: Das Erlah­men der Abwehr­be­reit­schaft ist der Ernst­fall an sich, und der Beweis, daß es längst ernst war, wird durch den tat­säch­lich von außen ein­tre­ten­den Ernst­fall nur noch erbracht: Klu­ge Pro­gno­sen konn­ten ihn lan­ge vor­her schon absehen.

Es gibt kaum ein bes­se­res Bei­spiel für die­ses Erlah­men der Abwehr­be­reit­schaft als die Umdeu­tung des Wor­tes »Tole­ranz«. Die heu­ti­ge Form der Tole­ranz ist die 9. Tod­sün­de der zivi­li­sier­ten Mensch­heit. Ob sie in der Not­wen­dig­keit ihrer stam­mes­ge­schicht­li­chen Ent­wick­lung liegt, ver­mag nur ein Etho­lo­ge zu sagen. Fest­zu­ste­hen scheint, daß ihr trotz viel­stim­mi­ger Warn­ru­fe und glas­kla­rer Fak­ten nicht bei­zu­kom­men ist. Viel­leicht ist die­se wei­che, patho­lo­gi­sche Form der Tole­ranz tat­säch­lich ein wich­ti­ger Indi­ka­tor für einen an das Ende sei­ner Kraft gelang­ten Lebens­ent­wurf, hier also: den europäischen.

Tole­ranz ist näm­lich zunächst ganz und gar nichts Schwa­ches, son­dern die läs­si­ge Ges­te eines Star­ken gegen­über einem Schwa­chen. Wäh­rend ich hier sit­ze und ver­mes­sen den acht Tod­sün­den von Lorenz eine neun­te auf­satt­le, tole­rie­re ich, daß eine mei­ner Töch­ter im Zim­mer über mir trotz ange­ord­ne­ter Bett­ru­he ver­mut­lich einen Tanz ein­stu­diert. Von Tole­ranz die­sen rhyth­mi­schen Erschüt­te­run­gen gegen­über kann ich nur spre­chen, weil ich a) einen kla­ren Begriff von ange­mes­se­nem Ver­hal­ten in mir tra­ge und die Stö­rung als Abwei­chung von die­ser Norm erken­ne, b) in der Lage wäre, die­se Abwei­chung nicht zu tole­rie­ren, son­dern sie zu been­den, c) sie tat­säch­lich im Ver­lauf mei­nes Vater-Seins schon unzäh­li­ge Male nicht tole­riert habe.

Zur Ver­deut­li­chung hilft es, mit allen drei Kri­te­ri­en ein wenig zu spie­len: Wer a) nicht hat, also Ange­mes­sen­heit und Norm nicht kennt, muß nicht tole­rant sein: Er wird jede Ent­wick­lung hin­neh­men und sich ein­pas­sen oder ver­schwin­den, wenn es gar nicht mehr geht; wer b) nicht kann, der emp­fun­de­nen Stö­rung und Beein­träch­ti­gung also hilf­los gegen­über­steht, kann kei­ne Tole­ranz mehr üben: Er kann bit­ten und bet­teln und sich die Haa­re rau­fen oder über das Argu­ment und die Mit­leids­schie­ne den ande­ren zur Rück­sicht­nah­me bewe­gen. Das Kräf­te­ver­hält­nis hat sich jedoch ver­scho­ben, und wenn der Stö­rer kei­ne Rück­sicht neh­men will, bleibt dem Schwä­che­ren nur übrig, sich mit sei­ner Unter­le­gen­heit abzu­fin­den. Und c)? Tole­ranz kann kein Dau­er­zu­stand sein. Wer den Regel­ver­stoß dau­er­haft tole­riert, setzt eine neue Regel, wei­tet die Gren­ze des Mög­li­chen aus, akzep­tiert eine Ver­schie­bung der Norm. Zur Tole­ranz gehört der Beweis der Into­le­ranz wie zur Defi­ni­ti­on des Guten das Böse.

Tole­ranz ist also eine Hal­tung der Stär­ke, nie­mals eine, die aus einer Posi­ti­on der Schwä­che her­aus ein­ge­nom­men wer­den kann. Wer schwach ist, kann nicht tole­rant sein; wer den Mut zur eigent­lich not­wen­di­gen Gegen­wehr nicht auf­bringt, kann sei­ne Hal­tung nicht als Tole­ranz beschrei­ben, son­dern muß von Feig­heit, Rück­zug und Nie­der­la­ge spre­chen: Er gibt Ter­rain auf – geis­ti­ges, geo­gra­phi­sches, insti­tu­tio­nel­les Ter­rain. Es kann – das ver­steht sich von selbst – ab einem bestimm­ten Zeit­punkt sinn­voll sein, sich zurück­zu­zie­hen und neue Gren­zen der Tole­ranz zu zie­hen. Sol­che Kor­rek­tu­ren und Anpas­sun­gen an den Lauf der Din­ge hat es immer gege­ben, und star­re Gebil­de haben die Nei­gung zu zer­split­tern, wenn der Druck zu groß wird. Aber eine Neu­ord­nung in die­sem Sinn ist ein Beweis für Leben­dig­keit und nicht einer für Schwä­che und das oben beschrie­be­ne Erlah­men der Abwehrbereitschaft.

Auch der Spie­gel-Kolum­nist und Wort­füh­rer einer »Ach­se des Guten« (www.achgut.de), Hen­ryk M. Bro­der, hält Tole­ranz für ein gefähr­li­ches, weil sprach­ver­wir­ren­des Wort. In sei­nem jüngs­ten Buch übt er die Kri­tik der rei­nen Tole­ranz und schreibt gleich im Vor­wort Sät­ze, die an Deut­lich­keit nichts zu wün­schen übrig­las­sen: »In einer Gesell­schaft, in der ein Regie­ren­der Bür­ger­meis­ter die Teil­neh­mer einer SM-Fete per­sön­lich in der Stadt will­kom­men heißt; in einer Gesell­schaft, in der ein rechts­kräf­tig ver­ur­teil­ter Kin­des­mör­der Pro­zeß­kos­ten­bei­hil­fe bekommt, um einen Pro­zeß gegen die Bun­des­re­pu­blik füh­ren zu kön­nen, weil er noch nach Jah­ren dar­un­ter lei­det, daß ihm bei einer Ver­neh­mung Ohr­fei­gen ange­droht wur­den; in einer Gesell­schaft, in der jeder frei dar­über ent­schei­den kann, ob er sei­ne Feri­en im Club Med oder in einem Aus­bil­dungs­camp für Ter­ro­ris­ten ver­brin­gen möch­te, in einer sol­chen Gesell­schaft kann von einem Man­gel an Tole­ranz kei­ne Rede sein. Der­ma­ßen prak­ti­ziert, ist Tole­ranz die Anlei­tung zum Selbst­mord. Und Into­le­ranz ist eine Tugend, die mit Nach­druck ver­tre­ten wer­den muß.«

Das sind kla­re Wor­te, die außer­dem Bro­ders Mon­ta­ge­tech­nik ver­an­schau­li­chen. Sein Buch ist theo­re­tisch schwach und lebt von Fund­stü­cken aus Pres­se und Inter­net – mal aus­führ­lich beleuch­tet, mal bloß anein­an­der­ge­reiht. Jeder Schnip­sel belegt den bestür­zen­den Zustand der Ver­tei­di­gungs­be­reit­schaft selbst der banals­ten Wer­te unse­res Vol­kes, unse­rer Nati­on, unse­res kul­tu­rel­len Groß­raums. Nicht ohne Grund stellt unse­re Zeit­schrift ihre Begriffs­de­fi­ni­tio­nen auf der letz­ten Sei­te unter ein Mot­to von Kon­fu­zi­us: »Zuerst ver­wir­ren sich die Wor­te, dann ver­wir­ren sich die Begrif­fe und zuletzt ver­wir­ren sich die Sachen.« Bro­ders Kri­tik der rei­nen Tole­ranz kann als Samm­lung gefähr­li­cher Wort- und Begriffs­ver­wir­run­gen gele­sen wer­den, etwa wenn er neben die Tole­ranz ein ande­res rui­nier­tes Wort stellt: Zivil­cou­ra­ge. Jeder will ja die­se Eigen­schaft besit­zen, will im ent­schei­den­den Moment »Sophie Scholl« sein (jedoch ohne Fall­beil). Leu­te wie Wolf­gang Thier­se aber haben das Wort Zivil­cou­ra­ge bis auf wei­te­res kaputt­ge­macht, indem sie wäh­rend eines Mas­sen­auf­laufs gegen »Rechts« jedem Teil­neh­mer Zivil­cou­ra­ge attes­tier­ten. Neben ein­hun­dert­tau­send ande­ren Leu­ten zu ste­hen und eine Ker­ze zu hal­ten, ist jedoch kein Beweis für Mut, es ist allen­falls ein Vor­satz, beim nächs­ten beob­ach­te­ten Glat­zen-Angriff auf einen schwar­zen Mit­bür­ger into­le­rant zu reagie­ren. »Tole­ranz ist gefühl­te Zivil­cou­ra­ge, die man nicht unter Beweis stel­len muß«, schreibt Bro­der etwas ver­wir­rend, aber er meint das Rich­ti­ge, näm­li­che das­sel­be wie Armin Moh­ler, der stets und vehe­ment davon abriet, Leu­te schon für ihre guten Vor­sät­ze zu prämieren.

Das Gebot der Stun­de ist also die Into­le­ranz, oder bes­ser: das Leh­ren und das Erler­nen der Into­le­ranz dort, wo das Eige­ne in sei­ner Sub­stanz bedroht ist. Hier kön­nen wir ein selt­sa­mes Phä­no­men beob­ach­ten: den Sieg der Erfah­rung über die Theo­rie. »So ist es nicht der klas­si­sche Spie­ßer, der über­all sein fürch­ter­li­ches Gesicht zeigt, son­dern der chro­nisch tole­ran­te Bil­dungs­bür­ger, der für jede Untat so lan­ge Ver­ständ­nis äußert, wie sie nicht unmit­tel­bar vor sei­ner Haus­tür pas­siert« (wie­der­um Bro­der). Dann aber! Dann aber! Dann kann man nur hof­fen, daß aus Erfah­rung klug wur­de, wes­sen Vor­stel­lungs­ver­mö­gen nicht hin­reich­te, die Lage des Gan­zen (etwa: der Nati­on) zu sei­ner eige­nen Sache zu machen.

Bro­ders Buch, Ulfkot­tes neue Schrift oder die Zurüs­tung zum Bür­ger­krieg von Thors­ten Hinz: Die Bei­spie­le für die ver­hee­ren­de Aus­wir­kung der rei­nen Tole­ranz auf die Ver­tei­di­gungs­be­reit­schaft und ‑fähig­keit auch nur unse­rer eige­nen Nati­on sind längst gesam­melt und kön­nen gele­sen und aus­ge­wer­tet wer­den. Aber die Flucht in die 9. Tod­sün­de, die Tole­ranz, scheint zu süß zu sein, und sie ist wohl ange­mes­sen für den Teil der Welt, der »schon Hem­mun­gen hat, sich selbst ›zivi­li­siert‹ zu nen­nen, um die ande­ren nicht zu krän­ken« (ein letz­tes Mal: Broder).

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (16)

Nils Wegner

3. Februar 2009 23:01

Nun, es scheint doch ganz so, als sei die allgegenwärtige und sich ins Unendliche erstreckende Toleranz für alles und jeden der letzte Schubser, um den (Sozial)Darwinismus ins endgültige Aus zu befördern.

Wo alles erlaubt ist, alles geht und alles hingenommen wird, ist ein Lernen durch "Trial and Error" nicht mehr möglich, eine Entwicklung durch Scheitern wird verwehrt, kurzum: Die Masse ist zur blanken Stagnation und zum Niedergang (intellektuell, soziokulturell, politisch) verdammt.

Selbstgemachtes Leiden, möchte man meinen. Doch sollte man sich an dieser Stelle doch fragen: Wo liegen die Wurzeln des Übels? Doch wohl nicht am "europäischen Geist", der gleich dem antiken Rom nun an seiner eigenen Dekadenz zugrunde geht - denn eigentlich ist er nicht dekadent. Die Dekadenz wurde ihm von der "Neuen Welt" aus übergestülpt.

Leo

4. Februar 2009 01:54

Was fehlt: Begriffsklärung.

"Toleranz" heißt auf Deutsch "Duldsamkeit".

Johannes

4. Februar 2009 13:09

Der Kern der 9. Todsünde ist die Erhebung der Toleranz zur deutschen Primärtugend. Da man ja mit den traditionellen Primärtugenden nach bundesrepublikanischer Ansicht auch "gut ein KZ leiten könne", soll die Toleranz die entstandene Lücke füllen und fungiert vor allem im Lager der Christdemokraten zugleich als Alibi für das scheinbare Anknüpfen an als positiv referenzierte preußisch-deutsche Wertkultur.
Gerade im brandenburgischen Kontext neigt die offizielle Geschichtsschreibung, beispielsweise Knopp oder Fest, dazu die "Toleranzedikte" von 1685 oder 1847 als primäre Errungenschaft des brandenburgisch/preußischen Staates darzustellen. Vergessen wird dabei, dass solch eine Toleranz eben nur in einer Phase der innenpolitischen Stabilität sinnvoll sein können.
Diese innenpolitische Stabilität kann in Deutschland aber langfristig nicht garantiert werden, damit wird die Toleranz zur Pharse und eben folgerichtig zum auf Dauer gestellten staatlichen Selbstmord.

Unsere Aufgabe muss es richtigerweise sein, den schwammigen Begriff der Toleranz seiner beliebigen Interpretation zu entziehen. Dies wird m.E. in diesem Artikel sehr gut durchdekliniert. Es wäre interessant, die preußische Definition der Toleranz der kontextlosen bundesdeutschen Uminterpretation gegenüberzustellen. Toleranz kann eben nur zum Erhalt des Ganzen beitragen, wenn sie in Begleitung anderer, primärer Tugenden auftritt. Und darunter kann wohl kaum die gängige Vorstellung von "Zivilcourage" fallen.

Rudolf Stein

4. Februar 2009 16:47

@ Nils Wegner
"Wo alles erlaubt ist, alles geht und alles hingenommen wird, ist ein Lernen durch „Trial and Error“ nicht mehr möglich, eine Entwicklung durch Scheitern wird verwehrt, kurzum: Die Masse ist zur blanken Stagnation und zum Niedergang (intellektuell, soziokulturell, politisch) verdammt."

Ja. Aber ich befürchte, dass "Alles Hinnehmen" nicht nur zum intellektuellen, soziokulturellen und politischen Niedergang führt. Irgendwann ist ein Punkt erreicht, wo der kulturelle Lack auf unseren 3 Mrd. alten Genen Risse bekommt und das hervordrängt (besser: heraufdrängt), was uns die Evolution mitgegeben hat, nämlich Intoleranz gegenüber all dem, was uns physisch, psychisch und sozial als Mitglied einer historisch gewachsenen Gesellschaft verbiegen und damit letzten Endes zerstören will. Von da an ist der Krieg der Kulturen unabwendbar.

Nils Wegner

4. Februar 2009 17:59

Bezüglich der Geschichte mit Helmut Schmidt und dem "KZ" finde ich es etwas obszön, die polemischen Entgleisungen eines Oskar Lafontaine, dieses linkspopulistischen Schmierfinken, zur "bundesdeutschen Ansicht" zu erheben.
GANZ soweit sind wir NOCH nicht, glücklicherweise. Und es ist an uns, dafür zu sorgen, dass es nicht irgendwann doch noch dazu kommt.

Nils Wegner

4. Februar 2009 18:03

Allzuwahr, auch wenn ich es eigentlich anfangs nicht so krass formulieren wollte.

Mir persönlich stellt sich an der Stelle allerdings die Frage, ob besagter "Krieg der Kulturen" denn überhaupt noch abwendbar sein könnte... Denn auf rein politischer Ebene lassen sich die Verwerfungen der letzten dreißig bis vierzig Jahre sicherlich nicht mehr ausbügeln.

Johannes

4. Februar 2009 18:31

@ Rudolf Stein

Dieses Szenario setzt einen Grad der Bedrohung voraus, der - sollte man schreiben bedauerlicherweise? - in der BRD noch nicht gegeben ist. Der bundesdeutsche Leviathan übt sich in Regulierungswut und lenkt die Intoleranz auf massentaugliche Gesetzgebungen um (Nichtrauchergesetz, Umsetzung der europäischen Anti-Diskriminierungsrichtlinien usw.). Unabhängig von deren mit fortschreitender Umsetzung sich als immer untauglicher erweisenden Charakters schluckt die Öffentlichkeit die dadurch aufgeheizten Debatten, die von den eigentlich wichtigen Orten einer notwendigen Intoleranz ablenken. Simpel geschrieben: während in den Banlieus die Autos brennen, diskutiert das Abendland über die Normlänge der Bananen und schwadroniert in bestem Zweckoptimismus über Obamas "Yes we can".
Man muss befürchten, dass der Grad der Bedrohung der Mehrheit erst deutlich wird, wenn der gutgehegte Vorgarten mit Zierpflanzenarrangement zertrampelt wird. Oder sogar erst dann, wenn aufgrund des Geburtenwachstums bei MigrantInnen die Sozialleistungen gestrichen werden. Aber offenbar hat das bundesdeutsche Schuldenbarometer auch weiterhin eine gute Ausdauer... In diesem Sinne kann man nur hoffen, dass es allein schon aus strategischen Gründen und dem auferlegten Zeitfenster für das Abendland nicht erst eines über Majoritäten formulierten politischen Willens bedarf. Mir stellt sich bloß die Frage, welche staatlichen Instutionen hier zu genüge vom Ernst der Lage beseelt sind/ wie diese Instutionen eingenommen werden können. Dazu passt die These Jüngers aus "Über die Linie":

„Vorausgesetzt wird lediglich, daß die Ordnung abstrakt sei und also geistig - hierher gehört in erster Linie der durchgebildete Staat mit seinen Beamten und Apparaturen, und das vor allem zu einem Zeitpunkt, an dem die tragenden Ideen mit ihrem Nomos und Ethos verloren gegangen oder in Verfall geraten sind, obwohl sie vielleicht im Vordergrunde in erhöhter Sichtbarkeit fortleben. Es wird dann an ihnen nur noch beachtet, was zu aktualisieren ist, und diesen Zustand entspricht eine Art von journalistischer Geschichtsschreibung.“

In der alltäglichen Berichterstattung wird das nur zu gut bestätigt, man denke nur über die genüsslich zerkauten Meldungen über Althaus' Skiunfall. So banal das klingen mag, aber wird hier die politische Instution und ihr Träger nicht zum Stofflieferanten für Klatschmeldungen degradiert?
Uns fehlt die Macht, in irgendeiner noch so geringen Form auf die "vierte Gewalt" Einfluss zu nehmen, die Toleranz oder noch eher: Beliebigkeit gegenüber dem Verfall der politischen Instutionen verrät m.E. einiges über den Zustand eines Staates. Aber die urkonservative Frage müsste in diesem Fall auch lauten: muss man diese verfallenden Instutionen erhalten und ihnen gegenüber - abgesehen von strategischer Notwendigkeit - Toleranz üben? (ohne dabei die mühseelige rechte Debatte um die richtige Staatsform auslösen zu wollen)

Fritz

4. Februar 2009 22:01

Toleranz und Intoleranz - wann, wo, weshalb, wozu? Wo ist die Grenzziehung? Schwierig, schwierig. Quo vadis, Germania?
Dieser Tage kam mir der bekannte Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt in den Sinn, und sein weltberühmtes Stück von 1956, "Der Besuch der alten Dame", eine Tragikomödie, die mancherlei Interpretationen zulässt. Dürrenmatt war wie Lorenz ein Menschenkenner, der uns auch heute eine Menge zu sagen hat. Man lese Dürrenmatt und die alte Dame, wirkt desillusionierend, aber vielleicht reale Phänomene erklärend?
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Besuch_der_alten_Dame
https://www.alex-hartmann.net/duerrenmatt/OldMrs.html

Götz Kubitschek:

"Es steht also die Frage im Raum, warum wir Heutigen uns so oder so verhalten, und Lorenz betont an mehreren Stellen seiner Analyse, daß er erst über die Deformierung menschlichen Verhaltens zu der Frage gelangt sei, welche Notwendigkeit eigentlich hinter dem So-Sein des Menschen stehe."

Wie kann also die persönliche Authentizität bewahrt werden? Tante Wikipedia definiert: Angewendet auf Personen bedeutet Authentizität, dass das Handeln einer Person nicht durch externe Einflüsse bestimmt wird, sondern aus der Person selbst stammt (wenn bei einer Person allerdings die Eigenschaft, dass ihr Handeln durch externe Einflüsse bestimmt wird, aus der Person selbst stammt, spricht man von einer authentischen Inauthentizität, auch von der Authentisch inauthentischen Persönlichkeit). Gruppenzwang und Manipulation beispielsweise unterwandern persönliche Authentizität.

Konrad Lorenz:

"Bei näherer Betrachtung aber zeigt sich, daß so gut wie alle diese Fehlleistungen Störungen ganz bestimmter, ursprünglich sehr wohl einen Arterhaltungswert entwickelnder Verhaltens-Mechanismen sind. Mit anderen Worten, sie sind als pathologisch aufzufassen."

Dem Kommentator Johannes ist zuzustimmen: "

Es wäre interessant, die preußische Definition der Toleranz der kontextlosen bundesdeutschen Uminterpretation gegenüberzustellen. Toleranz kann eben nur zum Erhalt des Ganzen beitragen, wenn sie in Begleitung anderer, primärer Tugenden auftritt."

Ja, und über machtpolitische Ränke und "Zivilcourage" ohne Courage wollen wir lieber ganz schweigen.

juliusevola

5. Februar 2009 12:23

Nils Wegner
"Nun, es scheint doch ganz so, als sei die allgegenwärtige und sich ins Unendliche erstreckende Toleranz für alles und jeden der letzte Schubser, um den (Sozial)Darwinismus ins endgültige Aus zu befördern.

Wo alles erlaubt ist, alles geht und alles hingenommen wird, ist ein Lernen durch „Trial and Error“ nicht mehr möglich, eine Entwicklung durch Scheitern wird verwehrt, kurzum: Die Masse ist zur blanken Stagnation und zum Niedergang (intellektuell, soziokulturell, politisch) verdammt.

Selbstgemachtes Leiden, möchte man meinen. Doch sollte man sich an dieser Stelle doch fragen: Wo liegen die Wurzeln des Übels? Doch wohl nicht am „europäischen Geist“, der gleich dem antiken Rom nun an seiner eigenen Dekadenz zugrunde geht – denn eigentlich ist er nicht dekadent. Die Dekadenz wurde ihm von der „Neuen Welt“ aus übergestülpt."

Di, 3. Februar 2009, 23:01 |

Werden hier nicht der Naturwissenschaft zugehörige Begriffe mit solchen außerevolutiver Herkunft vermischt ?
"Toleranz" und "Darwinismus" können sicher zum Klären der Problematik herangezogen werden, dann aber nicht auf e i n e r Ebene.

Wenn ein genpool - unser Volkstum biologisch gesehen - keinem Selektionsdruck natürlichen und unterschiedlichen Umfelds mehr ausgesetzt ist, weil "alle Völker der Erde mit gleichen Mitteln in Wettbewerb treten" ( K. Lorenz, Gesammelte Arbeiten, Piper 1978, S. 353 ), dann verschwinden "alle feineren Differenzierungen, alles wird mit erschreckender Geschwindigkeit immer häßlicher." ( ebenda, S. 353 )

Toleranz ( besonders ausgeuferte ) befördert also nicht Darwinismus ( gemeint wohl Weiterentwicklung aufgrund kreativer Selektion - wie Lorenz sagt - ) ins endgültige Aus, sondern die Aufhebung des zufälligen Laufs der Evolution ist der erste Schritt, welchem mehr kulturell zu definierende Begriffe wie Toleranz pp. mit ihren Folgewirkungen aufgrund "Entartung" nachfolgen.

Lorenz schildert es sehr schön: " Diese Gefahr ( des Absinkens der menschlichen Evolution, jul.evola ) ist mit der Entstehung des menschlichen Geistes untrennbar verbunden. Es war unvermeidlich, daß der menschliche Geist aller ihm feindlichen Einflüsse der umgebenden Welt Herr wurde. Damit hat er auch jene Macht ausgeschaltet, die ihn erschaffen hatte, die kreative Selektion." ( Lorenz, ebenda, S. 354 )..Mit dieser Befreiung aber hat der Mensch die Verantwortlichkeit für sein weiteres Werden übernommen. Es steht ihm gleicherweise frei, zu verkommen oder zu ungeahnten Höhen emporzusteigen ( ebenda, S. 355 )

Wenn also - und das bezieht sich auch auf den Kubitschek - Beitrag - ein Begriff wie Toleranz herangezogen wird, so sollte er zunächst einmal nicht Verwendung finden ohne Rückgriff auf naturwissenschaftliche Zusammenhänge, umsomehr dann, wenn Konrad Lorenz "8 Todsünden" in der Diskussion sind.

Zur Frage, wie der Begriff "Toleranz" mit der Ethologie zuzuordnenden Begriffen korrespondiert und wie er letztlich unter Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, insebesondere solcher der Neurowissenschaften, zu definieren ist, sollte gesondert geklärt werden.

Johannes

5. Februar 2009 15:09

Noch ein Beitrag zur Debatte (wieder Ernst Jünger "über die Linie"):

Das gilt besonders hinsichtlich der notwendigen Destruktion. Die konservative Haltung, in ihren Vertretern der Achtung, ja oft der Bewunderung würdig, vermag die wachsende Bewegung nicht mehr aufzufangen und abzudämmen, wie das nach dem ersten Weltkrieg möglich schien. Der Konservative muß sich ja immer auf Teilgebiete stützen, die noch nicht in Bewegung gekommen sind, wie auf die Monarchie, den Adel, die Armee, das Land. Wo aber alles ins Gleiten kommt, verliert sich der Ansatzpunkt. Entsprechend sieht man die jungen Konservativen von statischen zu dynamischen Theorien übergehen: sie suchen den Nihilismus in seinem Felde auf.

Ja, wenn alles ins Gleiten kommt... dann KSA!?

juliusevola

6. Februar 2009 20:31

@Johannes:

KSA ist j e t z t in Ordnung, wo man noch den Versuch machen kann, Begriffe zu erwidern, Verhalten zurechtzurücken, Vorwürfe zurückzuweisen, Lügen zu entlarven...

Wenn a l l e s ins Gleiten kommt, dann "hilft nur noch ein Gott" oder Menschen, deren Denken und Verhalten ganz Deutschland, ja die ganze weiße Welt umfaßt..

Johannes

8. Februar 2009 15:09

Natürlich, man darf sich diesbezüglich keine Illusionen machen: schon jetzt ist die KSA im Vergleich zu Dutschkes Subversiver Aktion eine publizistische Randnotiz. Deshalb wurde letzter Satz von mir auch eher als rhetorische Frage denn als relevante Lösung des Problems formuliert. Gerade darin aber liegt auch die Stärke der KSA: sie muss vorerst nach innen wirken, die eigenen Form-ationen erhalten und ausbilden.
Apokalyptische Stimmungsmache ist m.E. weder sinnvoll noch rechts, die Erde dreht sich weiter. Die Frage, ob sie das mit den abendländischen Nationen tut, bleibt natürlich weiterhin bestehen.

Für diesen Zeitpunkt kann jetzt nur vorgearbeitet werden. Was heißt das? Milieus stärken und ausbilden, Traditionskompanien schaffen, Familie und Sprachrohre/ publizistische Organe gründen.
An Menschen, deren Denken die ganze Nation umfasst, fehlt es heute nicht. Diese müssen sich bloß auf den einen Moment des Sprungs ausrichten, das Zeitfenster welches uns kurz vorm Schachmatt den König in die Hände gibt.

Nils Wegner

9. Februar 2009 17:55

Sehr gut formuliert. Glücklicherweise ist es wohl jedem gegeben, über gewisse Netzwerke (und besonders in Milieus wie dem korporationsstudentischen ist das ein Leichtes) entprechende Kontakte zu knüpfen, gemeinsam theoretische Arbeit zu leisten und sich gemeinsam darauf vorzubereiten und in Bereitschaft zu halten, wenn es irgendwann plötzlich einmal "Sprung auf, marsch marsch!" heißt.

Fritz

11. Februar 2009 21:16

Deep Fritz is calling. Politics seen with other, especially open eyes. Today George Orwell's point of view. We know his famous book "Animal Farm". He has written an important Preface to it. Please read: https://home.iprimus.com.au/korob/Orwell.html

Für Schachjünger und andere Denker: Erkenne die Lage! Manchmal patzen auch Weltmeister. Der Kuss des Todes durch die Dame auf der F-Linie (but no f-words, please!): https://www.sueddeutsche.de/sport/578/387375/text/
Ein wahrlich unangenehmer Damen-Besuch bei Wladimir Kramnik, und ein dürres Matt.

Irma

14. Februar 2009 02:46

Ja. In Ergänzung: Auf gut Deutsch heißt 'tolerare' 'dulden', 'erdulden'. Womit wir uns heute so jämmerlich herumschlagen, ist der Passiv. Goethe erkannte darin etwas ganz anderes: das Gönnerhafte. Diese Moral von "oben herab" verpflichtet den Menschen nach einer Zeit der Duldung zur Entscheidung, sogar zum Bekenntnis: JA oder NEIN. Das JA kommt unter großen Leiden (und Zweifeln) vom Kreuz, das NEIN kommt von Nietzsche, Lorenz, Jünger... Zu missbrauchen sind, wie alles, alles in der Welt, beide Antworten: Das JA: stumpfsinniges Gut-Menschentum, Scheinheiligkeit, Sittenverfall; das NEIN: Selektion im weitesten Sinne: Schlachtfeld, KZ. Wobei der 'Missbrauch' beim NEIN dem Prinzip der Intoleranz (gegen die Intoleranz), der Ächtung unterliegt und sich somit bereits entschieden hat. Was fehlt, ist das klare NEIN aus ethischer, moralischer Sicht, die nicht vom Miss-Brauch/Rechts-Bruch, sondern vom Brauch, vom Recht ausgeht. Wie können wir mit diesem Paradoxon leben (ich meine 'leben', nicht 'umgehen')?

Haiduk

8. März 2009 13:29

Dieser Imperativ, mit dem Toleranz heute eingefordert wird, ist nicht vom Himmel gefallen. Er ist auch nicht das Programm einer bestimmten politischen Partei. Wenn das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend jährlich 19 Mio. € in die Hand nimmt, um "die Zivilgesellschaft zu stärken, Toleranz und Demokratie zu fördern", dann muß man fragen, auf welcher Grundlage die das machen. Selbst ausgedacht haben die sich das ja nicht. Juristisch gesehen ergibt sich die Idee, daß man solche Erziehungsprogramme auflegen müßte, aus der Ratifizierung UN Antirassismuskonvention.

Solange man keine Konzeption entwickelt, wie man sich aus dem ideologischen Klammergriff der dafür verantwortlichen überstaatlichen Institutionen freischwimmen kann, sind die Reflexionen hier über den Toleranzbegriff also irrelevant.

Zuerst gilt es zu realisieren, daß alles, was es seit Ende des zweiten Weltkrieges an überstaatlichen Einrichtungen und Vorgaben gibt, an einem einzigen Punkt aufgehängt ist. Aufgrund seiner Bedeutung ist dieser Punkt hochheilig, so daß es einen Tabubruch darstellt, wenn man ihn hinterfragt.

Der Punkt findet sich in Artikel 1 der 1948 erklärten allgemeinen Menschenrechte. Darin steht:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

die Gleichheit der Würde Aller und der Imperativ zur Brüderlichkeit sind im Grunde die ideologische Basis der Toleranzforderung. Wenn man den Artikel genau liest, stellt man jedoch fest, daß er bezüglich der gleichen Würde nur sagt, daß die Menschen zum Zeitpunkt der Geburt gleich sind. Dem kann man problemlos zustimmen, weil damit ja keine Aussage über Jugendliche oder Erwachsene gemacht wird. Spielraum beim Umgang mit dem Begriff der Menschenwürde ist also durchaus vorhanden. Nutzen muß man ihn aber!

In der Russischen Erklärung zu den Menschenrechten wird genau das gemacht. Es heißt darin:

Indem es gute Werke vollbringt, erhält das Individuum Würde. ... Würde ist erworben

das ist weitaus vernünftiger und immer noch vereinbar mit den allgemeinen Menschenrechten. In Bezug auf die Toleranzfrage gibt einem das die Freiheit nüchtern festzustellen, daß nirgendwo geschrieben steht, daß man würdeloses Verhalten zu tolerieren hätte. Im Sinne einer richtig verstandenen Brüderlichkeit kann man dann auch argumentieren, daß es eine Pflicht darstellt, am Erhalt und am Wachstum der Würde des Nächsten zu arbeiten und daß Intoleranz mitunter durchaus geboten sein kann, um diesem Ziel näher zu kommen.

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