Im besten Sinne! Solche wandten sich von der Schulphilosophie ab und der Öffentlichkeit zu. Sie schrieben allgemeinverständlich und praxisorientiert vorzugsweise moralische Traktate. Die Professoren warfen ihnen Eklektizismus und unakademische Verflachung vor, Kant etwa eine „Volksbegrifflichkeit“, die allzu unkritisch verfuhr. Qualifizierte Popularphilosophie steht gegenwärtig hoch im Kurs. Offenbar gibt es innerhalb der großen Sinnkrise Europas ein Bedürfnis danach, hintergründig und aufs Wesen zielend zu fragen. Gut so! Insofern sind Autoren wie Peter Sloterdijk, Rüdiger Safranski, Christoph Türcke und selbst solche Individualisten wie der allzu pauschal links verortete Slavoj Zizek für die Leserschaft immens wichtig und bildsam.
Giorgio Agamben wird in Deutschland seit 2002 verstärkt gelesen. Sein „Homo sacer“ faszinierte schon deswegen, weil er Auschwitz und Guantanamo in einem Band behandelt – als sehr verschiedene Ausdrucksformen des tendenziell totalitären Zugriffs von Staaten auf den Einzelnen in dessen Reduzierung auf das nackte Leben, die nuda vita. Indem er zeigt, wie die souveräne Macht nach dem bloßen, dem nackten Leben greift, indem er von einer „Koinzidenz von Gewalt und Recht“ spricht, nimmt Agamben u. a. die Freund-Feind-Theorie Carl Schmitts auf, stellt darüber hinaus aber auch Bezüge zu Heidegger, Benjamin, Arendt und Foucault her – dies alles vor dem Hintergrund neuer Bedrohungen. Eindeutige Lektüreempfehlung! Nur ein Zitat:
„Das ist die Stärke und zugleich der innerste Widerspruch der modernen Demokratie: Sie schafft das heilige Leben (den vogelfreien homo sacer, der nach römischem Recht nicht geopfert werden kann, aber getötet werden darf – H.Bo.) nicht ab, sondern zersplittert es, verstreut es in jedem einzelnen Körper, um es zum Einsatz in den politischen Konflikten zu machen. (…) Derjenige, der sich später als Träger der Menschenrechte und mit einem merkwürdigen Oxymoron als das neue souveräne Subjekt (…) präsentieren wird, kann sich als solches nur dadurch konstituieren, daß er die souveräne Ausnahme wiederholt und in sich selbst corpus, das nackte Leben, isoliert.“
Gegenwärtig erregte Agamben die Gemüter, weil er im Zuge der Auseinandersetzung um die Euro-EU und deren Krisenmanagement ein “L’Empire Latin” des mediterranen Raumes in Abgrenzung vom westlich-britischen und germanisch-protestantischen Wirtschaftsterrain forderte. Er kann sich da auf Alexandre Kojève berufen, der 1945 neben dem slawisch-sowjetischen und dem anglo-amerikanischen ein lateinisches Imperium von Franzosen, Italienern und Spaniern anregte.
Dies jetzt als Alternative auzurufen mag nicht mehr als bloßes Feuilleton sein, ist aber aber aus der Sicht des Südens nachvollziehbar. Die EZB gewinnt zunehmend exekutive Befugnisse über Volkswirtschaften und das ihr Etatrecht einbüßende Parlamente. Und dem Süden erscheint das allzu übermächtig wahrgenommene Deutschland als ungeliebtes Vorbild eines egoistischen Strebers, der seinerseits nichts mit dem „dolce far niente“ der anderen anzufangen weiß. Was man auch davon hält: Agamben sucht durchaus nach dem Identitären und empfiehlt – logisch – Abgrenzungen.
Jüngst reagierten darauf zwei Professoren der Universität Konstanz, Aleida Assmann, Anglizistin und Literaturwissenschaftlerin, und Bernhard Giesen, Makrosoziologe. Kennzeichnend für deren Darstellung ist der weltfremde Illusionismus der saturierten Gelehrten, wenn sie Agamben schlau entgegnen:
„Es käme deshalb darauf an, der Binnenpolitik ökonomischer Entmündigung und Demütigung eine Politik der gegenseitigen Solidarisierung, kulturellen Wertschätzung und persönlichen Anerkennung entgegenzusetzen. All das setzt jedoch voraus, daß sich die Mitgliedstaaten gegenseitig erst einmal besser kennenlernen.“
Wie schön, nicht wahr? Sich mal kennenlernen und aussprechen. – Ganz anders als das, was Carl Schmitt analysierte oder Agamben in „Homo sacer“ über Souveränität ausdrückte.
Daß „Europa“ von den Völkern weder in Gestalt der Gemeinschaftswährung noch in den Figuren einer von den Vaterländern nach Brüssel „outgesourcten“ B- und C‑Pominenz von Politikern akzeptiert wird, wissen die Professoren. Daß dieses „Europa“ durchweg ein Legitimitätsproblem hat, das ebenfalls. Aber im Muster einer akademisch-sophistischen Erklärung läßt sich das deuten:
„Bei genauem Hinsehen erweist sich der Demos als ein leerer Signifikant. Diese Leerstelle ist aber kein Defizit, sondern die Quelle einer produktiven Energie, denn sie muß fortwährend durch Repräsentationen gefüllt werden. Die Identität Europas ist keine stabile Realität, sondern ein performativer Prozeß der Realisierung einer Leitvorstellung. Europa wäre demnach ein Feld gegenseitigen Wahrnehmung, der kulturellen Imagination und der öffentlichen Debatten, die sich nicht auf eine bestimmte Gestalt festlegen lassen.“
Leerstelle Demos, produktive Energie, Europa als performativer Prozeß und kulturelle Imagination! Wenn das nichts fürs Oberseminar ist!
Gustav Grambauer
Ob Agamben weiß, wie frontal er allein mit der Erwähnung des Begriffs "Homo Sacer" das "Legitimatinsdefizit" der BRD angreift? Es wimmelt ja in der "BRD" bereits von sogenannten StaSeVes Müller, Meier, Schulze, und der entsprechende rechtsfreie Raum weitet sich bereits mehr und mehr aus:
https://info.kopp-verlag.de/hintergruende/deutschland/gerhard-wisnewski/aufstand-gegen-bussgeldbescheide-immer-mehr-buerger-lehnen-zahlung-ab.html
Das Rechtsinstitut des "Bürgerlichen Todes" war des Pudels Kern von Bismarcks Kulturkampf - und natürlich von Bismarcks Personenstandsrecht:
https://www.youtube.com/watch?v=2RI5dvXPWeY
(Anders als dem Macher dieses Streifens wäre mir allerdings egal, ob ich von den Pfaffen oder vom Staat versklavt werde.)
- G. G.