Denn Hirsch erscheint als lebender Widerspruch zu der These, daß der Faschismus bzw. Nationalsozialismus per se geistfeindlich und theorieunfähig gewesen sei. Der »Nazi-Intellektuelle « (Robert P. Ericksen) hatte sich 1933 – wie sonst nur noch Heidegger, Schmitt oder Benn – rückhaltlos auf die Seite Hitlers und des NS-Regimes gestellt und anders als die Genannten seine Position auch nicht mehr revidiert. Als junger Dozent und seit 1921 als Professor für Kirchengeschichte galt Hirsch in erster Linie als Träger der von seinem Lehrer Karl Holl eingeleiteten »Lutherrenaissance «. Allerdings war bei Hirsch in der Nachkriegszeit schon eine gewisse Akzentverschiebung zu erkennen, die man im Grunde nur als Neuaufnahme liberaler Vorstellungen deuten konnte. Er betonte jedenfalls, daß es notwendig sei, zwischen der »Dialektischen Theologie« und dem »jungen Luthertum« zu vermitteln.
Ein Grund für seine Bemühungen in diese Richtung war weniger theologischer, eher politischer, im Grunde theologisch-politischer Natur. Denn Hirsch gehörte zu denen, die nicht nur unter der Kriegsniederlage und dem Versailler Vertrag litten, sondern die auch nicht verwanden, daß das Augusterlebnis von 1914 ohne bleibende Bedeutung für die Volksgemeinschaft geblieben war. Schon in seinem 1920 erschienenen Buch Deutschlands Schicksal – das bis 1925 drei Auflagen erlebte – hatte er seine Position unmißverständlich zum Ausdruck gebracht und sich als Vertreter der Konservativen Revolution zu erkennen gegeben. Allerdings war Hirschs Kritik der Weimarer Republik in der Hinsicht gemäßigt, daß er die Legitimität der neuen Verhältnisse prinzipiell anerkannte, vorausgesetzt, sie erwiesen sich tüchtig, den Deutschen zum Wiederaufstieg zu verhelfen. Bis zum Beginn der dreißiger Jahre hielt Hirsch an dieser Position fest und galt neben dem ihm eng verbundenen Paul Althaus als führender Kopf der Jungkonservativen im deutschen Protestantismus.
Öffentlich bekannte er sich bis 1932 zur DNVP, nahm dann allerdings vor der Reichspräsidentschaftswahl gegen Hindenburg und für Hitler Stellung. Der Vorgang erregte Aufsehen und führte zu scharfen Angriffen auf Hirsch, die ihn aber unbeeindruckt ließen. Er begründete in dem Buch Von christlicher Freiheit (1934) seinen Schritt theologisch und verwies auf die Notwendigkeit der wagenden Entscheidung. Zwischen Hirschs theologischen Auffassungen und denen einiger seiner schärfsten Gegner bestand allerdings nicht selten eine strukturelle Ähnlichkeit. Denn es gab bei ihm nicht nur die Nähe zu allen, die darauf beharrten, daß Gottes Handeln für den Christen in der Geschichte ablesbar bleiben müsse, sondern auch eine Art Deckungsgleichheit mit dem Programm der »Entmythologisierung« und der Vorstellung vom »mündigen Christentum«.
Was den ersten Punkt betrifft, so hat Hirsch nicht nur dezidiert zugunsten Bultmanns Stellung genommen und verlangt, daß jene »mythenzerstörende Reflexion« vorangetrieben werde, die mit der historischen Bibelkritik ihren Anfang genommen habe. Es gibt bei ihm auch Formulierungen, die fast denen Bonhoeffers gleichen, der im Kern wie Hirsch davon ausging, daß sich das »Wahrheitsverständnis« seit der Aufklärung ein für allemal verändert habe und die tradierten Vorstellungen von Gott, Kirche und Glaube nicht mehr aufrechtzuerhalten seien. Daß das alles gemeinhin übersehen wird, hat in erster Linie damit zu tun, daß die theologische Entwicklung Hirschs in den dreißiger und frühen vierziger Jahren verdeckt wird durch die Hartnäckigkeit, mit der er an seiner Auffassung von Gottes Tat an Hitler und dem Nationalsozialismus festhielt und die Vorstellung verteidigte, daß sich mit Hilfe der »Glaubensbewegung Deutsche Christen« (DC) der notwendige kirchliche Neuansatz bewerkstelligen lasse.
Tatsächlich war Hirsch – abgesehen von Gerhard Kittel – der einzige evangelische Theologe von Rang, der zur DC hielt, und in seiner Zeit als Dekan der Göttinger Theologischen Fakultät, wo er 1936 den Lehrstuhl für Systematik übernommen hatte, versuchte er auch das Programm des Reichskirchenministeriums gegen alle Widerstände der »Bekennenden« durchzusetzen. Nach seinem Rücktritt als Dekan, 1939, zog Hirsch sich zwar weitgehend auf die wissenschaftliche Arbeit zurück, aber daraus kann nicht auf einen Gesinnungswandel geschlossen werden. Das gute Dutzend Bücher, das er zwischen 1933 und 1943 abfaßte, diente vor allem dem Zweck, eine Bilanz der Entwicklung des Christentums zu ziehen und die Frage zu klären, welche Wege in Zukunft noch gangbar seien. In diesen Zusammenhang gehört auch das für jeden Theologen bis heute unverzichtbare Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik (1937).
Man muß die außerordentliche Leistung Hirschs auch angesichts der Tatsache würdigen, daß er schon in seiner Jugend ein Auge verloren hatte und auf dem anderen seit Beginn der dreißiger Jahre erblindet war. Als er am 30. Mai 1945 einen Antrag stellte, wegen Dienstunfähigkeit aus dem Amt zu scheiden, war der eigentliche Grund allerdings, daß er die Entnazifizierung umgehen wollte. Es gab später Versuche, ihn regulär zu emeritieren, die aber alle fehlschlugen. Hirsch hat trotzdem seine wissenschaftliche – und in steigendem Maß – seine schriftstellerische Tätigkeit fortgesetzt.
Abgesehen davon, daß seine Hauptwerke wegen ihres Rangs immer weiter erschienen und einige neuere Arbeiten – etwa die magistrale, fünf Bände umfassende Geschichte der neueren evangelischen Theologie (1949– 1954) oder Hauptfragen christlicher Religionsphilosophie (1963) – ohne Zögern von großen Verlagen in deren Programm aufgenommen wurden, hatte Hirsch eine Art »Gemeinde« (um den Verlag »Die Spur«), die auch eine ambitionierte, bis in die Gegenwart fortgesetzte Gesamtausgabe vorantrieb, und ähnlich wie Schmitt einen »Hof« und einen engeren Kreis von Anhängern, die sich um den großen Verfemten sammelten und mehr oder weniger offen zu ihm bekannten.
Schriften: Fichtes Religionsphilosophie im Rahmen der philosophischen Gesamtentwicklung Fichtes, Göttingen 1914; Christentum und Geschichte in Fichtes Philosophie, Tübingen 1920; Deutschlands Schicksal, Göttingen 1920; Die gegenwärtige geistige Lage, Göttingen 1934; Christliche Freiheit und politische Bindung, Hamburg 1935; Hilfsbuch zum Studium der Dogmatik, 1937 (4. Aufl. 2002); Die Umformung des christlichen Denkens in der Neuzeit, Tübingen 1938; Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5 Bde., Gütersloh 1949–54 (5. Aufl. 1975); Hauptfragen christlicher Religionsphilosophie, Berlin 1963.
Literatur: Ulrich Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs, Berlin 1992; Robert P. Ericksen: Theologen unter Hitler: Das Bündnis zwischen evangelischer Dogmatik und Nationalsozialismus, München 1986; Joachim Ringleben (Hrsg.): Christentumsgeschichte und Wahrheitsbewußtsein: Studien zur Theologie Emanuel Hirschs, Berlin 1991.