“Es hat keinen Sinn, Entwicklungen zu ignorieren” – Frank Lisson im Gespräch

SEZESSION: Frank, Du hast in Deinem neuen Werk, dem Homo Viator, den denkenden Menschen als den ohnmächtigen Menschen...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

beschrie­ben: Gegen die “Macht der Ten­den­zen” – so der Unter­ti­tel – ver­mag er nichts aus­zu­rich­ten. Was soll er tun, mit all sei­nem Wis­sen – was soll der Leser tun mit die­ser Botschaft?

LISSON: Nein, ich habe den den­ken­den Men­schen nicht als den von vorn­her­ein ohn­mäch­ti­gen Men­schen beschrie­ben, son­dern als einen, der sich nur schwer gegen die jeweils herr­schen­den Ten­den­zen wird geis­tig behaup­ten kön­nen. Gleich­wohl ist es intel­lek­tu­el­le Pflicht eines jeden den­ken­den Men­schen, die Ten­den­zen sei­ner Zeit zu erken­nen, idea­ler­wei­se sogar, sie zu benen­nen und sie nicht zu leug­nen, damit ihm klar wird, was ihn in sei­nem Den­ken einschränkt.

SEZESSION: Die Ten­den­zen der Moder­ne über­wäl­ti­gen, unter­gra­ben, zer­set­zen den kul­tu­rell ver­or­te­ten und gegrün­de­ten Men­schen, eine Gegen­wehr scheint aus­sichts­los. Was soll­te das ande­res als Ohn­macht sein, im gro­ßen und gan­zen? Die Frei­heit in der Beschrei­bung einer Gefängniszelle?

LISSON: Eine Gegen­wehr scheint nur dann aus­sichts­los, wenn man die Wert­vor­stel­lun­gen der alten Ten­den­zen gegen die der neu­en kol­lek­tiv zu erhal­ten ver­sucht, wenn man also den Bestand als Gan­zes ret­ten will. Der Ein­zel­ne dage­gen kann wei­ter­hin die alten Wer­te leben, aller­dings nur für sich und im engen Kreis. Das stimmt natür­lich trau­rig, aber macht auf eine gewis­se Wei­se auch stolz, wenn man sich den neu­en Tota­li­tä­ten nicht beugt. Wir leben nun ein­mal in einer Zeit gra­vie­ren­der Umbrü­che, in der eine »Umwer­tung aller Wer­te« poli­tisch for­ciert wird; Wer­te, die den­je­ni­gen Men­schen hei­lig sind, die sich damit iden­ti­fi­zie­ren, weil die­se Wer­te so lan­ge gül­tig waren.
Radi­ka­le Umwer­tun­gen hat es aber schon öfter gege­ben, und die Ein­zel­nen stan­den immer vor der Fra­ge: anpas­sen oder unbeug­sam blei­ben? Als etwa die gro­ße Ten­denz des Chris­ten­tums Euro­pa und den vor­de­ren Ori­ent heim­such­te, sträub­ten sich vie­le dage­gen, tau­send Jah­re alte Wer­te auf­zu­ge­ben; man­che star­ben lie­ber, als sich dem neu­en Gott und der Kir­che zu unter­wer­fen. Heu­te machen sich wie­der vie­le dafür stark, ange­sichts der neu­en Umwer­tung die christ­li­chen Wer­te zu erhal­ten. Nicht aus­zu­schlie­ßen, daß in tau­send Jah­ren Kon­ser­va­ti­ve etwa die soge­nann­te Homo-Ehe ver­tei­di­gen, weil sie dann viel­leicht nichts ande­res gewohnt sein wer­den. In die­sem Zusam­men­hang von »Frei­heit« zu spre­chen, ist eine heik­le Sache.

SEZESSION: Die­sen Rela­ti­vis­mus kann ich nicht nach­voll­zie­hen, ich tei­le ihn auch nicht. Wie kommst Du dazu, den Lob­by-Erfolg einer Rand­grup­pe – die Homo­ehe ist nichts ande­res – mit dem reli­giö­sen Umbruch von der hei­di­schen in die christ­li­che Epo­che zu ver­glei­chen? Wo wäre heu­te der Umschlag von ähn­li­chem Rang, von wel­cher Gesamt­ten­denz spre­chen wir? Von der „Moder­ne“ an sich?

LISSON: Das ist kein Rela­ti­vis­mus, son­dern – aus gege­be­nem Anlaß – nur ein extre­mes Bei­spiel dafür, wie sehr Wert­vor­stel­lun­gen mit Gewohn­hei­ten zusam­men­hän­gen. Im übri­gen soll­te man das, was gera­de an Umwer­tun­gen statt­fin­det, nicht als den „Lob­by-Erfolg einer Rand­grup­pe“ klein­re­den. Das wäre, mit Ver­laub, naiv. Tritt man mit die­ser Sache an sein »neu­tra­les« Umfeld her­an, wird man fest­stel­len, wie sehr die­se gan­ze Gen­der- und Homo­se­xu­el­len­dok­trin inzwi­schen dort Wir­kung zeigt und als »rich­tig« und »nor­mal« ver­tei­digt wird.
Wir müs­sen erken­nen, was heu­te in der Welt pas­siert. Und dabei geht es nicht um Mei­nung, son­dern um ein nüch­ter­nes Erfas­sen der Zeit­geist­kräf­te, die ich als Ten­den­zen bezeich­ne, wenn ich das »Sys­tem der Zivi­li­sa­ti­on« zu ergrün­den ver­su­che. Und der Zustand der »Zivi­li­sa­ti­on« impli­ziert die tota­le Abkehr von allen Wer­ten, die im Zustand der »Kul­tur« gül­tig waren, weil die »Kul­tur« mit ihren »vor­mo­der­nen« Wer­ten, wel­che die Wer­te wei­ßer, hete­ro­se­xu­el­ler Män­ner waren, als geschei­tert betrach­tet, ja sogar für die Kata­stro­phen des 20. Jahr­hun­derts ver­ant­wort­lich gemacht wird.
Wenn die Wer­te einer aus­ge­laug­ten Macht, die viel­leicht zu schnell zu groß und zu mäch­tig gewor­den war, von innen her­aus in Fra­ge gestellt wer­den, kommt es zu fun­da­men­ta­len Umbrü­chen in der Selbst­wahr­neh­mung. Das ist die Par­al­le­le, die uns die Spät­an­ti­ke mit dem spä­ten Abend­land ver­glei­chen läßt.

SEZESSION: Schon der Unter­ti­tel des Homo via­tor spricht von einer „Macht der Ten­den­zen“. Hältst Du das Wort nicht für zu schwach? Ten­den­zen sind etwas kor­ri­gier­ba­res, sind ein Vor­füh­len und so ein bestimm­ter Zug oder Sog in eine Rich­tung. Das, was wir erle­ben, ist indes das Über­schrei­ten einer Kul­tur-Schwel­le, oder nicht?

LISSON: Ja, es ist nicht nur das Über­schrei­ten einer Schwel­le, son­dern der Sturz in einen völ­lig ande­ren Zustand, den ich den der »Zivi­li­sa­ti­on« nen­ne und mensch­heits­ge­schicht­lich sogar für bedeu­ten­der hal­te als den Über­gang vom Jäger und Samm­ler zum seß­haf­ten, urba­nen Men­schen. Ich mei­ne, das ist nicht zu hoch gegrif­fen. Wir befin­den uns im Auge des Orkans, sind zu nah dran an den Ereig­nis­sen und bemer­ken des­halb ihre Wucht und Gewalt gar nicht.
Aber ich bin sicher, in spä­tes­tens zwei­hun­dert Jah­ren wird man unse­re Zeit als den größ­ten Epo­chen­bruch beschrei­ben, den die Men­schen je erfah­ren haben. Die Erleb­nis­ge­ne­ra­tio­nen begrei­fen so etwas natur­ge­mäß nie, weil »ihre« Welt ja immer noch vor­han­den ist, selbst wenn sie sicht­bar schwin­det. Zudem scheu­en sich die meis­ten, in grö­ße­ren Zeit­räu­men zu den­ken, weil sie hof­fen, Geschich­te sei gänz­lich »unbe­re­chen­bar« und lau­fe in Zyklen ab.
Doch was im 21. Jahr­hun­dert beginnt, kennt in der Geschich­te kein Bei­spiel. Nur wer­den die spä­te­ren Men­schen den Bruch natür­lich gar nicht so dras­tisch erle­ben wie die Über­gangs­ge­nera­tio­nen, die wir heu­te bil­den, denn die Spä­te­ren wer­den nie etwas ande­res ken­nen­ge­lernt haben als die aktu­el­len Ten­den­zen, wäh­rend wir noch unter­schei­den kön­nen, weil wir zwi­schen den Epo­chen auf­ge­wach­sen sind. Ich erle­be es immer wie­der, wenn ich mit heu­te Zwan­zig­jäh­ri­gen spre­che, daß sie nicht ein­mal mehr eine Vor­stel­lung davon haben, was im 19./20. Jahr­hun­dert der Begriff »Frei­heit« beinhaltete.
Wir soll­ten uns da nichts vor­ma­chen: die glo­ba­li­sier­ten Inter­net­ge­ne­ra­tio­nen sind nicht mit den Maß­stä­ben der »Kul­tur« des Abend­lan­des zu mes­sen; sie stel­len einen ganz ande­ren Zugang zur Welt dar – einer Welt übri­gens, die schon in hun­dert Jah­ren kaum noch etwas mit der Welt der letz­ten fünf­tau­send Jah­re gemein­sam haben wird. Die ent­schei­den­den Fak­to­ren sind hier die unge­heu­ren Ent­wick­lungs­sprün­ge der Tech­no­lo­gie, deren evo­lu­tio­nä­re Kräf­te eben­falls nie­mand unter­schät­zen sollte.

SEZESSION: Für wen ist also der Homo via­tor? Für die letz­ten von vor­ges­tern oder für die Des­il­lu­sio­nier­ten von heu­te? Oder gibt es gar kei­ne Wer­tung: Wahr­neh­men, was ist und kommt, ohne Bewegungsimpuls?

LISSON: Ich wün­sche mir den auf­merk­sa­men, skep­ti­schen Leser, der nicht des­halb zu einem Buch greift, um dort sei­ne Erwar­tun­gen und fest­ge­füg­ten Welt­bil­der bestä­tigt zu sehen, son­dern der ange­regt, viel­leicht sogar irri­tiert wer­den will. Denn nichts ande­res ist Phi­lo­so­phie im eigent­li­chen Sin­ne: man muß sich wun­dern kön­nen und Fra­gen stel­len wollen.
Ich wün­sche mir also den neu­gie­ri­gen Leser, der weit­ge­hend unbe­fan­gen an eine Sache her­an­geht und Freu­de am Den­ken und an viel­leicht unge­wöhn­li­chen Ein­sich­ten hat. Es nützt nichts, sich Tag für Tag auf­zu­zäh­len, wie es um unser Land und um die heu­ti­ge Wirk­lich­keit steht. Das wis­sen wir doch längst, und mir genügt das ein­fach nicht.
Ich will wis­sen, war­um die Din­ge so gewor­den sind, wie sie sind. Und wenn mich eines mit Oswald Speng­ler ver­bin­det, dann ist es sein Blick und Sinn für Tat­sa­chen, sein Mut, den Din­gen ins Auge zu sehen. Aber damit hat auch er sich unbe­liebt gemacht, denn das woll­te schon damals nie­mand hören, wes­halb man ihn bis heu­te krampf­haft auf ein bis zwei The­men und Schlag­wör­ter zu redu­zie­ren ver­sucht. Es hat aber kei­nen Sinn, die Welt­ent­wick­lung zu igno­rie­ren und so zu tun, als lie­ße sich Geschich­te belie­big korrigieren.
War­um aber wird eine skep­ti­sche Hal­tung stets mit Fata­lis­mus gleich­ge­setzt? War­um ver­lan­gen alle vor­schnell nach Hand­lungs­an­wei­sun­gen, obwohl es doch zuvor dar­um gehen muß, eine Sache ihrem Wesen nach zu ver­ste­hen! Solan­ge wir nicht begrei­fen, war­um die Lage so ist, wie sie ist, kann jedes Dage­gen-vor­ge­hen-Wol­len kaum mehr sein als blin­der Akti­vis­mus. Doch das heißt natür­lich nicht, daß wir zum Nichts­tun ver­ur­teilt sind. Jeder tue das ihm Mög­li­che, um zu zei­gen, daß er mit der Ent­wick­lung wenigs­tens nicht ein­ver­stan­den ist. Aber ein biß­chen mehr Tat­sa­chen­sinn und ein wenig Lie­be zur Erkennt­nis schützt viel­leicht vor über­gro­ßer Frustration.

 

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (25)

W.Wagner

18. Juni 2013 12:33

Was aber, wenn der Widerstand gegen die Tendenz zur Tendenz würde?! Nicht allein verstanden als Widerstand sondern als an die Kultur anknüpfenden Aufbruch.

ene

18. Juni 2013 13:28

Die Zeit ist aus den Fugen (Hamlet)

Die Vorstellung und die Erfahrung, an einer Epochenschwelle zu stehen gehört zur europäischen Geschichte. Wenn man jedoch die Lebenserfahrung eines etwa 60jährigen Zeitgenossen mit derjenigen eines gleichaltrigen Menschen vergleicht, der um 1880 geboren wurde - was hat der nicht alles erlebt! - dann sehe ich bei den jetzt Lebenden in erster Linie ruhige Kontinuität.

Der bedeutendste historische Umbruch, den ich bewußt erlebt habe, war das Jahr 1989. Und genau dieser Umbruch kam in den Gedankenwelten der Zeitgenossen selbst als Möglichkeit überhaupt nicht vor! Politologen, die sich mit "Zukunftsforschung" beschäftigten, wurden von den Ereignissen überrollt. Die tiefste Unkenntnis betrifft oft das Naheligende.
Wie man in 200 Jahren über die Homoehe denken wird, steht völlig in den Sternen. Alles ist denkbar - auch eine Unterstrafestellung.

Geschichte bricht herein - und selbst die Tendenzen, die wir heute für die wichtigsten halten, werden nicht unbedingt die ausschlaggebenden sein.

Rumpelstilzchen

18. Juni 2013 15:08

Die Macht der Tendenzen??????

Was sind das denn für ominöse Mächte, diese Tendenzen, und wo kommen sie her?
Zeiten ändern sich immer . Was die Individual- und Menschheitsgeschichte antreibt, darüber gibt es soviele Theorien wie es Menschen gibt.

Und wieso soll der denkende Mensch sich nur schwer gegen die jeweils herrschende Tendenz geistig behaupten können ?
Manche sind ihrer Zeit gar voraus.

Oder leben wirklichkeitsdicht. Korrigieren ihre Theorien immer wieder an der Praxis, bilden aus der Praxis ihre Theorien usw. Sind auf der Höhe der Zeit, während andere sich nicht entwickeln.
Das bedeutet aber nicht, einen Werterelativismus zu leben. Nach dem Motto:alles ist gleich-gültig. Das ist eben Tendenz.
Was die Gleichstellung der Homo-Ehe betrifft, so ist m.E. nicht der ethische Aspekt der markanteste ( wer gegen das Urteil des BFG ist, diskriminiert Schwule), sondern markant ist, dass die Entscheidung einer staatlichen Institution wie "der Segen aus einer Zivilkirche wahrgenommen wird, dem nicht widersprochen werden darf" ( Michael Hanfeld in der FAZ).
Hier scheinen die Franzosen noch die religiös sicheren Instinkte zu haben.
Religiöse Werte können noch von staatlicher Bevormundung Unabhängige "Tendenzen" entwickeln.

Ein Fremder aus Elea

18. Juni 2013 15:19

Nun ja, was berechenbar ist, steht fest, da ist es dann nur noch eine Frage des Geschmacks, ob man es im Voraus berechnet oder abwartet, bis es sich entfaltet. Das hier allerdings ist keine Kleinigkeit:

Wir müssen erkennen, was heute in der Welt passiert. Und dabei geht es nicht um Meinung, sondern um ein nüchternes Erfassen der Zeitgeistkräfte, die ich als Tendenzen bezeichne, wenn ich das »System der Zivilisation« zu ergründen versuche. Und der Zustand der »Zivilisation« impliziert die totale Abkehr von allen Werten, die im Zustand der »Kultur« gültig waren, weil die »Kultur« mit ihren »vormodernen« Werten, welche die Werte weißer, heterosexueller Männer waren, als gescheitert betrachtet, ja sogar für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verantwortlich gemacht wird.

Die Sache ist nicht geradlinig. Es geht zu einem ganz wesentlichen Teil dabei um den Gegensatz zwischen Eliten und der Masse, ganz gleich in welcher Erscheinungsform, also ganz gleich in welchem politischen System.

Zivilisation impliziert die Gültigkeit von Regeln, und die hängt eher an Eliten als an der Masse. Bei Kultur ist es umgekehrt, und schon alleine deshalb würde ich davon Abstand nehmen, Kultur als gestrig und Zivilisation als Modell der Zukunft zu beschreiben, denn die Auseinandersetzung zwischen Regeln festlegenden Eliten und der regellosen Masse ist längst nicht entschieden, noch ist es absehbar, wie das ausgehen wird.

Was wird zum Beispiel passieren, wenn Google, da jetzt arriviert, gleich wie einst Großbritannien mit der Piraterie aufhört? Wird die Masse das schlucken oder werden Alternativen entwickelt werden?

Das ist keineswegs klar. Die Lenkbarkeit der Internetgeneration ist meines Erachtens eine Unbekannte. In der Richtung möchte ich überhaupt nichts prophezeien.

John Haase

18. Juni 2013 15:24

Völlig richtig, Ene. Ein 20 Jähriger Mann im Frühsommer 1914 kannte auch keine andere Welt als die stabile und ruhige des Kaiserreiches. Zwar war allen in ganz Europa klar, daß es eines Tages zum großen Krieg kommen würde (ähnlich wie heute die meisten ahnen, daß der "große Knall" eines Tages kommen wird) aber wann und wie dieser Krieg aussehen würde, daß er nahezu alles umwerfen würde was bisher gegolten hatte, daran hätte wohl kaum einer gedacht.

Das Christentum wird der Liberalismus nie ersetzen können: anders als dieses ist der Liberalismus heutiger Prägung aus sich selbst heraus nicht lebensfähig. Er ist absolut unfähig, den Menschen einen Lebenssinn zu geben der über primitiven Hedonismus hinausgeht. Er nimmt ihnen ihre Freiheit, ihre Kultur und ihre Geschichte und gibt ihnen im Austausch Alkohol und Diskotheken.

Ich weiß nicht wer es war, aber eine französische Adlige um 1800 sagte, daß sie erst nach der Revolution begriffen habe, "wie wenige wir sind". Ähnlich wird es den Protagonisten der derzeitigen Kulturrevolution eines Tages ergehen, ob in fünf, in 20 oder in 50 Jahren steht allerdings in den Sternen.

Pit

18. Juni 2013 16:20

Wenn Heterosexualität, in einem angeblichen "Umbruch", aufgegeben werden würde, weil sie sich diskreditiert habe als Ursache von Katastrophen im 20. Jahrhundert:
warum wurde dann Heterosexualität noch niemals vorher aufgegeben?
1000nde Jahre Menschheitsgeschichte mit vernichtenden Kriegen, Untergang ganzer Völker..: und noch nie wurde gerade "Heterosexualität" als das dahinterliegende Problem benannt?

"Entscheiden" sich also die Menschen der heutigen Zeit für die Aufgabe der Heterosexualität?
Ist also eine bessere Welt nicht möglich mit Heterosexualität?

Das ist nicht meine Meinung.

Ich behaupte, daß Konfliktregelung sehr wohl möglich ist in einer Welt der Unterschiede. Es braucht keine Welt der Gleichheit, um mit Konflikten, also Interessengegensätzen, angemessen umzugehen.
Das heißt: die Entwicklung ist eben NICHT alternativlos.

Der legitime Kern in der Änderung bestimmter moralischer Vorstellungen bez. Sexualität ist dort, wo bisherige Regelungen offensichtlich verfehlt waren: es gibt eben einfach keinen vernünftigen Grund, Homosexuelle für ihr So-Sein zu kriminalisieren. Es gibt auch keinen vernünftigen Grund, warum das Betrachten pornographischer Darstellungen grundsätzlich von Übel sein sollte. Hier kam es also m.E. zu sinnvollen, legitimen Veränderungen.

Durch nichts aber folgt daraus etwas wie ein Aufgeben von Heterosexualität. Vielmehr zeigt sich, daß, in einem sehr bewährten und plausiblen Verfahren, die Bereitschaft zu Entwicklung und Veränderung mißbraucht wird für eine Installierung von Neuerungen, die überhaupt nichts mit den ursprünglichen Absichten zu tun haben, sondern das Ergebnis bestimmter Interessen ist. Sprechen wir also von Interessen, die hier gewinnen und verlieren; schauen wir genau hin, differenzieren wir (statt die behauptete "Alternativlosigkeit" zu glauben).

Nihil

18. Juni 2013 16:23

Sehr gut! Nur man sollte auf Aktivitäten nicht vergessen. Es sind schon Probleme theoretisch ungelöst geblieben und praktisch gelöst worden. In diesem Sinne ist alles erlaubt, jeder Versuch zählt. Wir müssen aufhören Experimente auszuschließen. Das kann man aber nur wenn man soweit wie Lisson ist und begreift, dass *wir* sicher nichts mehr kaputtmachen können, was nicht schon kaputt wäre.

Couperinist

18. Juni 2013 16:41

Mit Verlaub, es ist heute eigentlich schon töricht, Prognosen anzustellen, die über maximal 10 Jahre hinausgehen.
Vor gut 2 Jahren noch sahen einige das Ottomanische Reich wiederauferstehen, als ein türkisch geführter Orient. Heute fallen dem Kalifen in spe nicht nur dessen außenpolitische Ambitionen wie ein Kartenhaus zusammen, auch sein eigener "Thron" wackelt schon. 200 Jahre ? Uninteressant. Spengler verkennt, daß Geschichte nicht deterministisch verläuft, sie hängt von den Taten Einzelner ab.

Mittelwächter

18. Juni 2013 18:59

Widerspruch, Herr Lisson: Wenn ich an mein "neutrales" Umfeld herantrete und die "Homo- und Genderthematik" einbringe, dann kann ich keinesfalls erkennen, daß hier besonders große Zustimmung herrscht. Im Gegenteil: Man sieht die aktuelle Entwicklung als "schräg" oder "verschroben" an, manchmal auch als von einer politischen Kaste "gepusht", aber als "normal" sehen das die Nachbarn und Freunde, die sich alle im Bereich der üblichen Großparteien wiederfinden dürften, nicht. Man toleriert, was man nicht ändern kann oder will.
Grüße, Mw.

Weltversteher

18. Juni 2013 19:14

Man kann erahnen, daß die bestechenden Gedanken Lissons die menschlichen Erbanlagen mit einbeziehen und deren Wandelung in Inhalt und Verteilung. Darauf geht leider keiner der bisherigen Kommentatoren ein. Ebenso auf das totale Ausmaß der herrschenden Umwandlung. Wer hier kleine Gegenbeispiele anführt, hat möglicherweise die Kontinuität nicht erkannt, die bereits seit Jahrzehnten, schon fast Jahrhunderten wirkt. -

Im Zusammenhang mit Lissons Sichtweise bin ich sehr neugierig, ob er Kinder hat, und wie er sie erzieht angesichts des ihnen blühenden Schicksals. "Diese Jugend, die lerrrrnt ja nichts anderes mehr..."

ene

18. Juni 2013 19:41

Ein Ereignis hat jedenfalls noch immer für Veränderung gesorgt: der Bankrott. Wo er eintritt, fallen Machtstrukturen und Lebenstile mit allem Drum und Dran zusammen. Obwohl "irgendwie" erwartet , geht es dann plötzlich sehr schnell (z.B. franz. Revolution, oben erwähnt).

@ John Haase: Welcher Mensch der Renaissance hätte wohl ein Phänomen wie den Protestantismus sich vorstellen oder erwarten können?

Biobrother

18. Juni 2013 20:04

Ich bitte um Verzeihung, falls mein Eindruck falsch ist, aber die Diskurse auf dieser Seite kommen mir zunehmend abgedrehter und sektiererischer vor. Und was die „Homoehe“ angeht: Diese mag man als emanzipatorischen Akt und Zugewinn an Freiheit und Ehrlichkeit (die Alternative wären heimliche und/oder rasch wechselnde Schmuddelbeziehungen im halbweltartigen Bereich oder „Künstlermilieu“) begrüßen oder aus traditioneller (konservativer oder religiöser Sicht, etc.) absurd und unerträglich finden, ein Untergang des Abendlandes wird allein schon aufgrund der relativen geringen Anzahl Betroffener nicht aus ihr resultieren. Als Mobilisierungsthema eignet sie sich bei entsprechend prädisponierter Bevölkerung allerdings recht gut, wie jüngst in Frankreich zu beobachten. Dass die traditionelle Einrichtung der klassischen Ehe dadurch zunächst einmal weiter relativiert wird, stimmt sicher auch, allerdings ist diese eh längst zu einem entbehrlichen Versprechen ohne jede Ewigkeitsgarantie geworden, sodass einen hier verwundern mag, dass es nun (oder erst jetzt) zu solchen Aufwallungen kommt. Eine Eintrittspforte zu weiteren Liberalisierungen (Aufhebung des Inzestverbots, Legalisierung der Mehrehe, etc.) sehe ich hier nicht, zumindest ist das in den bewussten Ländern meines Wissens bislang nicht erfolgt. Und was die viel zu geringe (und noch dazu sehr ungleichmäßig verteilte) Geburtenrate angeht: An dieser Situation wird sich m.E. nichts ändern, solange ein mittlerer Alleinverdiener mit 2-3 Kindern auf Sozialhilfestatus abrutscht, Großfamilien ohne jedes Erwerbseinkommen aber langfristig vom Staat alimentiert werden.

Martin Lichtmesz

18. Juni 2013 21:01

Ein paar "Gestell"-Verkrüppelte, die keinen Begriff mehr von "Freiheit" haben, sind noch lange keine Vorboten einer neuen Epoche. Huxley hat diesen Typus in der modernen Version schon beschrieben, und es gab ihn in der Geschichte auch immer wieder. In der Multiplikation von "letzten Menschen" nach dem Gesetz der Massenbildung zeichnet sich keinerlei Paradigma ab, zumindest keines, das sich nicht mit herkömmichen Kategorien fassen ließe. Selbstverständlich kann und muß man den "Zugang zur Welt" der "globalisierten Internetgeneration" mit den Maßstäben der "Kultur" messen; und dann erscheint ein weitaus deutlicheres und auch weitaus banaleres Bild als wenn man sich ihre Geistesverfassung als eine Art epochaler Mutation schönredet. Ist das nun wirklich "Tatsachensinn"? Und wieso nun die Wertungen, Denkstrukturen und Geschmäcker irgendwelcher "letzter Menschen" zum Maßstab erheben? Ist das "Skepsis"? Alles Denken über Kultur ist Werten. Wer nicht mehr wertet, wehrt sich irgendwann auch nicht mehr. Da ist mir noch der verbissenste Reaktionär, noch der blindeste Aktivist lieber, als derjenige, der aus einer vermeintlich höheren Warte dem Flow der Kanaillen zuschaut oder sich gar mit ihm treiben läßt.

Und: sofern es nicht ein bloßes Bonmot ist, ist es unsinnig, in der "Homo-Ehe" etwas anderes zu sehen, als eben ein sehr wahrscheinlich ephemeres Übergangssymptom einer Dekadenzideologie. Auch sie trägt keinerlei Anzeichen eines Epochen- oder Bewußtseinswandels, sondern entspringt dem Endstadium des Egalitarismus dieses, unseres Zeitalters. Eine Institution wird daraus nicht erwachsen, und das war auch nicht die Absicht der entsprechenden Ideologen. Daß in ein paar Jahrzehnten die "Konservativen" die Homoehe gegen die bevorstehende Scharia verteidigen werden, ist ein Satyrspiel, auf das man sich bei entsprechendem Geschmack freilich freuen darf. Ich bestreite außerdem, daß es hier einen "neutralen" Raum gibt - keine Frage, die mit Sexualität zu tun hat wird jemals neutral verhandelt.

Keats

18. Juni 2013 21:08

Die überwältigenden technischen Umwälzungen bei Medien, Warenproduktion, Verkehr prägen unsere Zeit fundamentaler als alle Ideologien. Eine "Oder"-Analogie zu den steigenden Fluten des alles erfassenden Zeitgeistes:

Man kann einen Fluß umleiten, Dämme bauen, um Gebiete zu schützen, andere Gebiete zur Überschwemmung freigeben. Aber man kann ihn nicht aufhalten.

Meister der Ingenieurkunst manipulieren den Strom im Auftrag ihrer Herren mit vergleichsweise winzigen Eingriffen. Es sind keine allmächtigen Demiurgen. Es ist möglich, ihnen ins Handwerk pfuschen und zumindest einige Gebiete vor ihrem Einfluß zu bewahren. Doch dafür muß man auf der gleichen Ebene wie sie denken, darf sich nicht von Treibgut (Antifa, Homos, 68er, ...) ablenken und beschäftigen lassen.

Was kann man selbst theoretisch nicht mehr vor den Fluten retten, auf was vom Rest will man seine Kräfte konzentrieren? Das Wasser läßt sich nicht ignorieren, von Argumenten beeinflussen, von Streitereien über Luv & Lee oder treffenden Zitaten aus dem "Schimmelreiter" beeindrucken. Es ist nicht der Feind, auch wenn es von Feinden genutzt wird.

Der Mensch hat es immer wieder geschafft, auch die erbarmungsloseste Natur für sich zu erobern, ihr lebenswerte Räume abzutrotzen. Nicht mit Rechthaberei, mit Überlebenswillen.

Gottfried

18. Juni 2013 21:28

@ Biobrother

"die Alternative wären heimliche und/oder rasch wechselnde Schmuddelbeziehungen im halbweltartigen Bereich oder „Künstlermilieu“)

Hier frage ich mich, wie Sie die Aufgaben des Staates definieren.
Inklusive der Detailfrage, wer in welcher Höhe vom Staat über die Steuer partiell zwangsenteignet wird und wem das Geld des Nachbarn aus welchem Grunde zufließen soll.

Was soll an einer nicht staatlich besonders abgesegneten Wohngemeinschaft (normale unverheiratete Paare, Hagestolz mit Golden Retriever, Tocher mit der alten Mutter, die von ihr gepflegt wird, größere WG, gleichgeschlechtlich orientierte Paare usw.) denn bitte heimlich sein?

Bestrebungen in Richtung Enttabuisierung von Inzest gibt es einige. Zwar hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschen"rechte" noch negativ geäußert, aber bereits damit befaßt.
Christiain Ströbele von der Bilderbergerpartei "Die Grünen" hat sich beim SPRINGER-Verlag in einem Interview z.B. für eine Nichtbestrafung von Inzesthandlungen eingesetzt.

ingres

18. Juni 2013 22:53

Die Frage, die sich mir stellt ist, ob jeder Zeitgeist, formal identisch zu bewerten ist.
Mein Problem (und das kann immer konkreter werden und wird es wahrscheinlich auch) ist nicht so sehr der Zeitgeist, sonder es ist die Lüge und die Repression die mit dem gegenwärtigen Zeitgeist verbunden sind. Außerdem scheint mit der jetzige Zeitgeist in Friedenszeiten die Existenz des Einzelnen und vor allem die der Gesamtgesellschaft zu gefährden, wobei das natürlich alles durch die Euro-"Krise" abgefälscht wird, bzw. man u. U. demnächst nicht mehr sauber trennen kann, was denn nun einen Zusammenbruch (wenn er denn kommt) verursacht haben mag.
Wie gesagt, "kritisches Weißsein", Schokonuss statt Negerkuss, usw. Aktion Mensch statt Aktion Sorgenkind kann man alles ertragen, auch wenn es alles ideologisch ist (oder in Ordnung?) Aber es ist möglicherweise irgendwann lebensgefährlich dagegen zu opponieren.
Fremdenfreundlichkeit und Eigenfeindlichkeit ist ebenfalls lebensgefährlich. Ich kann das jetzt nicht erschöpfend zu Ende führen.

Frühere Zeitgeistperioden waren sicherlich auch nicht frei von Totalitarismus (man müßte es genauer untersuchen) . Und natürlich läßt sich der Geist der 50-er und 60-er nicht mehr in die moderne Computerzivilisation (usw.) übertragen. Aber die Frage ist, ob der heutige Zeitgeist nicht doch ein Extrem wider die Natur und die natürliche Ordnung darstellt. Etwas, was in früheren Phasen so nun doch nicht so da war.
Natürlich kann man sagen: in den 50-er und 60.ern, haben zwar "normale" Menschen glücklich und frei leben können, die Schwulen aber z. B. nicht. Und wem der angebliche Muff unter den Talaren nicht gefiel, eingebildeterweise auch nicht.
Aber die Frage ist, ob es nicht doch Qualtätskriterien gibt "Zeitgeiste" zu unterscheiden.
Das wir jetzt haben hat sich entwickelt und ist insofern natürlich (so abartig manches sein oder erscheinen mag). aber die Frage ist, ob es nicht doch objektive (zumindest subjektiv) Kriterien, gibt es zu beurteilen. Und nochmal: Es ist nicht in erster Linie das Problem, dass man diesen Zeitgeist nicht nag. Es ist das Problem, dass dieser Zeitgeist in sich totalitär angelegt ist und sich entsprechend benimmt.

Ich habe diesen Zeitgeist eigentlich seit Anfang der 70-er Jahre skeptisch und ablehnend verfolgt. Ich wußte auch, dass er objektiv Schaden angerichtet hatte. Aber ich habe gedacht, es reicht, wenn ich alles Wertvolle für mich privat bewahre (kommt ja im Artikel so ähnlich vor!). Aber das reicht nicht, denn seitdem (es sei denn ich würde alles kaltblütig ignorieren) ich weiß, dass dieser Zeitgeist totalitäre Züge in sich trägt und das er eben die Gesellschaft bereits weitgehend zerstört hat, halte ich den Zeitgeist eben nicht mehr aus. Und vor allem eben nicht die Läge.

Biobrother

18. Juni 2013 23:01

@ Martin Lichtmesz

Wie jede politische Bewegung, braucht wohl auch die Rechte ihre werbewirksamen und griffigen Symbolthemen. Was den Grünen der Protest gegen die Atomkraft, ist der Rechten offenbar der Kampf gegen die (vermeintliche?) gesellschaftliche Degeneration, derzeit durch die Homoehe symbolisiert (es gäbe hier sicher mannigfaltige andere Erscheinungen, die aber weniger eindrücklich oder zustimmungsträchtig wären, da sie weite Bevölkerungsteile und nicht nur eine Minderheit betreffen) und die Islamisierung als eingängigste und furchteinflößendste Facette der Veränderung der Bevölkerungsstruktur.

Zu ersterem Punkt würde ich aus liberaler Warte sagen, dass ich die von konservativer Seite oft vorgebrachte Kritik, die Menschen seien heute „unmoralischer“ oder „degenerierter“ als früher, so pauschal nicht teile. Meines Erachtens richten sich die Menschen schlicht in für sie optimaler Weise in den gegebenen Verhältnissen ein. Und diese äußeren Rahmenbedingungen (kapitalistische Gesellschaft mit hohem Anpassungs- und Mobilitätsdruck, nebst umfänglichem Sozialstaat, Verhütung und problemloser Ehescheidung) haben eben dazu geführt, dass Ehe und Familie von der unaufkündbaren Notgemeinschaft zur flexibel angelegten Wahlverwandtschaft wurden. Im Zuge dieser Entwicklung haben sich die alten Institutionen, wie sie z.B. seitens der Kirche definiert wurden, noch weiter gelockert, da sie zu diesem Konzept nicht mehr so recht passen. Wie die katholische Kirche ja auch selbst sehr treffend feststellte („Die Welt hasst uns, weil wir ihr im Weg stehen.“).

Und was den Islam anbelangt: Hier habe auch ich zugegebenermaßen ziemlich gemischte Gefühle, allerdings dürften die Muslime letztlich ebenso wenig wie die Christen eine homogene Gruppe sein. Ich vermute, es gibt durchaus nicht wenige Muslime, die sich - nachdem sie sich halbwegs erfolgreich im Westen eingerichtet haben - auch nur mäßiges Interesse an einem Gottesstaat mit Scharia haben. Die Diskussion übersieht außerdem, dass es in bestimmten Regionen (z.B. in Afrika) auch sehr konservative Formen des Christentums gibt, gerade was Familienvorstellungen angeht; sicher nachvollziehbar, da die Familie auch hier eine Notgemeinschaft ist, gerade auf dem Land.

Ihre Aussage, dass über Sexualität (die letztlich ja die Grundlage zur Weiterführung einer Gesellschaft ist) nie völlig wertfrei diskutiert werden wird, ist sicher richtig. Am ehesten gelingt das vielleicht noch dort, wo alte religiöse Bindungen stark zurückgedrängt wurden und die Bevölkerung eine Mischbevölkerung ohne angestammte Kultur ist, die man gerne erhalten möchte. Das heutige Kanada wäre hier vielleicht ein ganz gutes Beispiel, wie die sehr liberale Gesetzgebung in diesem Bereich zeigt (Homehe seit Jahren, zugehöriges Adoptionsrecht, Abtreibung bis zur 22. Woche, legale Leihmutterschaft, auch für gleichgeschlechtliche Paare, etc.).

Biobrother

19. Juni 2013 00:16

@ Gottfried

Wie ich die Aufgaben des Staates definieren würde? Ich bin kein Staatstheoretiker, erwarte vom Staat aber, dass er versucht, positive Entwicklungen zu fördern und negative Entwicklungen zu begrenzen, wobei in einem demokratisch-westlichen Staatswesen die finanzielle Förderung oder Nichtförderung wohl tatsächlich eines der wesentlichen Steuerungsinstrumente hierzu ist, ebenso wünsche ich mir, dass der Staat sorgsam mit dem Geld seiner Bürger umgeht und diesen nicht zu sehr durch Abgaben belastet. Dass ein angestellter Durchschnittsverdiener (Single), Steuern und Sozialabgaben zusammengenommen, ca. 50% seines Einkommens an den Staat abgeben muss, empfinde ich als problematisch, sehe aber andererseits ein, dass Infrastruktur und Sozialstaat auch finanziert sein wollen.

Was die finanzielle Förderung von Familien angeht, würde ich diese allein an den Kindern ausrichten (unabhängig davon, wer die Eltern sind) und das Ehegattensplitting für kinderlose Paare streichen, wenn beide Partner erwerbsfähig sind. Anderseits ist es wohl - auch seitens des Verfassungsgerichts so gesehen - so, dass das Ehegattensplitting das rechtliche Pendant zur Unterhaltspflicht ist, was dann natürlich auch für gleichgeschlechtliche Paare mit gegenseitiger Unterhaltspflicht gilt (daher wohl auch die Vorgabe, das entsprechend anzugleichen).

Luise Werner

19. Juni 2013 07:52

Die Einlassungen Lissons und die "Entgegnung" von Lichtmesz lassen mich etwas ratlos zurück; und natürlich neige ich eher Lichtmesz zu, der viele Schlachten aber nicht den Krieg verloren gibt. Bei Lisson klingt das schon anders.
Ich tue hier aber nicht zum ersten mal kund, dass die Kaprizierung auf Sexualität und alle ihre Spielarten, Auswüchse und beklagenswerten Institutionalisierungen ein Kampf auf hoch vermintem Gelände ist, dass ich das Schlachtfeld für falsch gewählt halte. Hier ist nicht viel zu gewinnen. Der Verweis auf Frankreich und dessen Mobilisierungspotential geht fehl. Die Franzosen waren und sind Bilder- und Maschinenstürmer. Das ist auf Deutschland kaum übertragbar. Wir müssen eigene, deutsche Erregungspotentiale erkennen.

Gottfried

19. Juni 2013 09:20

@ Biobrother

"Ich bin kein Staatstheoretiker, erwarte vom Staat aber, dass er versucht, positive Entwicklungen zu fördern und negative Entwicklungen zu begrenzen"

Beim Lesen dieser Zeilen könnte ich glatt zu den Libertären überlaufen.
Ist eine Entwicklung denn überhaupt positiv, wenn diese an der Brust von Mutter Staat (also vom Geld des Nachbarn) genährt werden muß?
Warum wird Bewertung überhaupt an den Staat deligiert? Wenn jeder Menschenfreund privat gleichgeschlechtlich orientierten Paaren ein paar Nahrungsmittel- und Kleiderspenden zukommen ließe, dann müssen solche Haushalte nicht darben und verhungern, und es bedarf in diesem Falle keiner steuerlichen Sonderzuwendungen über das Splitting.

Was wäre an Vielfalt überhaupt so schlimm, wenn Menschenfreunde selber für Vielfalt sorgten? Wer Vielfalt mag, nimmt in seinem Haushalt ein paar Araber oder Zigeuner auf, sorgt für deren Bekleidung und Verköstigung und haftet persönlich, wenn seine Gäste Schäden verursachen.
Was wäre gegen "gender"-Hauptverströmung, "Kritisches Weißsein" und dererlei Wertungen - aus rechter Sicht als üble Alfanzereien wahrgenommen - noch einzuwenden, wenn jedes Engagement in dieser Richtung privatwirtschaftlich erfolgte?

Die Förderung von Familien mit Kindern basiert NICHT darauf, daß es in diesen Familien Kinder gibt, sondern daß Familien die größte Wahrscheinlichkeit bieten, den Kindern Sicherheit, Geborgenheit und Kontinuität liefern können.
Diese Bewertung hat durchaus einen - begrüßenswerten - normativen Charakter: "Lasse Deine Familie nicht (oder zu allermindestens nicht so leichtfertig) im Stich!"

Staatstheorie ist doch ganz einfach: Der Staat hält das Gewaltmonopol inne. Dieses soll der Staat dafür nach bestem Wissen und Gewissen verwenden, das Eigentum der Bürger des Staates zu schützen.
Eigentum im weitesten Sinne, also an erster Stelle die Unversehrheit von Körper und Seele.
Da der Staat kein Weltstaat ist, hat er sich nicht um das Wohl "der Menschen", sondern um das Wohl seiner Bürger zu sorgen.

"ca. 50% seines Einkommens an den Staat abgeben muss, empfinde ich als problematisch"

Strafe muß sein. Wer eine "fördernde" Mutter Staat herbeiruft, sollte über die Folgen auch nicht klagen.

ene

19. Juni 2013 10:10

Wenn jüngere, wache Menschen über den "Zeitgeist" sprechen, dann meinen sie zumeist - ihren eigenen Erfahrungshorizont.

Ich bin z.B. erstaunt, wenn ich lese, welche Revolution das Internet (nur im Privaten jetzt gesprochen!) sein soll. Ja, ich informiere mich heute in vieler Hinsicht im Internet. Früher ging ich wohl häufig in den Lesesaal einer gut sortierten Bibliothek und graste dort ab, was mich interessierte. War ich damals weniger informiert? Ich glaube es nicht. Ich möchte behaupten, der Mensch hinter dem Bildschirm hat sich längst nicht so stark verändert, wie man meint.
Die essentiellen Lebensfragen, denen sich jeder stellen muß, bleiben die gleichen, ob man ein Handy nutzt oder nicht. Niemand, der erfährt, daß er unheilbar krank ist, wird mit durch die "technische Revolution" anders seinem Leben gegenüber stehen als es vor 30 Jahren der Fall gewesen wäre.

Um zu erfahren, was der Zeitgeist bewirkt, würde ich eine Erweiterung der Perspektive empfehlen und zwar ins Unintellektuelle, Alltägliche und Banale hinein. - Was ja hier auch oft geschieht.
Dorthin, wo nicht die "großen Fragen" diskutiert, sondern die Auswirkungen erlebt und erlitten werden. Und zwar von "Otto Normalverbraucher".
Nach meiner Überzeugung wird eine bestimmende Tendenz der kommenden Jahre die Verarmung eines nicht geringen Teils der Bevölkerung sein. Mit erheblichen Folgewirkungen, über die man in den Standardmedien natürlich so gut wie gar nichts erfährt.

Solche Überlegungen werden hier wohl manchem irrigerweise als abseitig erscheinen - jedoch würde ich empfehlen, in verstärktem Maße die konkrete Wirklichkeit ins analytische Blickfeld zu nehmen. Ein unerschöpfliches Gebiet übrigens.

Tullius Destructivus

19. Juni 2013 11:46

@ Rezensiönchen für Luise Werner: Lisson - Spängler und Nietzschke im vierten Aufguß allgemein durchgenudelt und durchgerührt, ein bißel Jöngersches Haltungsgetue, bei diesen dem Leben abgerungen, hier nur Gestik. Späte Äonenüberblicksversuche vergleichsweise Kurzsichtiger. Lichtmesz - konkret und daher rischtisch und wischtisch.

Waldgänger aus Schwaben

19. Juni 2013 12:30

Aber ich bin sicher, in spätestens zweihundert Jahren wird man unsere Zeit als den größten Epochenbruch beschreiben, den die Menschen je erfahren haben.

Woher weiß Herr Lisson, dass sich in zweihundert Jahren überhaupt jemand sich für Geschichte oder Epochenbrüche so wie wir dies heute tun, interessieren wird? Hätte er seinen Spengler gelesen, wüsste er, dass unsere Wahrnehmung der Geschichte eine abendländische ist, die mit dem Abendland vergehen kann. Geschichte kann auch nur Mythos sein, den niemand auf wissenschaftliche "Wahrheit" prüfen will und der nicht mit jenem Anspruch auf Wahrheit beschrieben wird, wie wir es heute als selbstverständlich voraussetzen.

Seine Sicht auf den Übergang vom Heidentum zum Christentum ist ebenfalls recht spekulativ. Für die Heiden war vielleicht das Christentum eine weiterer Mythos neben anderen. Und als die anderen staatlicherseits verboten wurden, haben sie es achselzuckend hingenommen und die Inhalte, die ihnen wichtig waren, wie z:B. Feste zu bestimmten Jahreszeiten oder Gebete um gute Ernten, in das Christentum integriert.
Uns Christen ist das Glaubensbekenntnis und die Rituale wichtig, den Heiden war vielleicht anderes wichtig.

ingres

19. Juni 2013 13:03

@Luise Werner

Das mit der Sexualität muß man differenzieren. Und man sollte schon Stellung nehmen. Gegen Polyarmory kann man vom Lustprinzip her vielleicht nicht argumentieren (obwohl theoretisch Sexualität überbewertet wird, denn ein Mathematiker wird zum Beispiel sagen, dass das Gelingen eines Beweises dem Glücksempfinden nach, ähnlich ist). Aber man kann viele Gründe dafür vorbringen, dass so keine leistungsfähige Gesellschaft entstehen und überleben kann. Aber ist nicht unbedingt rüber zu bringen.
Was allerdings unterbunden werden müßte ist die Frühsexualisierung und die förmliche Propagierung von Minderheitensexualität als neue Religion. Ob das rüberkommt ist egal. Zu meiner Zeit gab es keinen Sexualkundeunterricht. Zum Glück nicht, wenn man bedenkt, wie peinlich dass ja von Natur aus ist. Es war auch nicht nötig, man tauschte die Bildchen eh aus. Keine Ahnung, wo die herkamen. Das lief völlig natürlich, wobei man nie die Störungen die angebblich entstanden sind, absolut messen kann. Andererseits sind die Zeiten moderner geworden und da ist ein Sexualkundeunterricht vielleicht angemessen. Aber nicht was Pro Familia betreibt.
Also der Gegner wird nicht einlenken, aber außer kämpfen hat man ja nichts.

Götz Kubitschek

19. Juni 2013 14:39

und gut ists!
dank und gruß! kubitschek

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