beschrieben: Gegen die “Macht der Tendenzen” – so der Untertitel – vermag er nichts auszurichten. Was soll er tun, mit all seinem Wissen – was soll der Leser tun mit dieser Botschaft?
LISSON: Nein, ich habe den denkenden Menschen nicht als den von vornherein ohnmächtigen Menschen beschrieben, sondern als einen, der sich nur schwer gegen die jeweils herrschenden Tendenzen wird geistig behaupten können. Gleichwohl ist es intellektuelle Pflicht eines jeden denkenden Menschen, die Tendenzen seiner Zeit zu erkennen, idealerweise sogar, sie zu benennen und sie nicht zu leugnen, damit ihm klar wird, was ihn in seinem Denken einschränkt.
SEZESSION: Die Tendenzen der Moderne überwältigen, untergraben, zersetzen den kulturell verorteten und gegründeten Menschen, eine Gegenwehr scheint aussichtslos. Was sollte das anderes als Ohnmacht sein, im großen und ganzen? Die Freiheit in der Beschreibung einer Gefängniszelle?
LISSON: Eine Gegenwehr scheint nur dann aussichtslos, wenn man die Wertvorstellungen der alten Tendenzen gegen die der neuen kollektiv zu erhalten versucht, wenn man also den Bestand als Ganzes retten will. Der Einzelne dagegen kann weiterhin die alten Werte leben, allerdings nur für sich und im engen Kreis. Das stimmt natürlich traurig, aber macht auf eine gewisse Weise auch stolz, wenn man sich den neuen Totalitäten nicht beugt. Wir leben nun einmal in einer Zeit gravierender Umbrüche, in der eine »Umwertung aller Werte« politisch forciert wird; Werte, die denjenigen Menschen heilig sind, die sich damit identifizieren, weil diese Werte so lange gültig waren.
Radikale Umwertungen hat es aber schon öfter gegeben, und die Einzelnen standen immer vor der Frage: anpassen oder unbeugsam bleiben? Als etwa die große Tendenz des Christentums Europa und den vorderen Orient heimsuchte, sträubten sich viele dagegen, tausend Jahre alte Werte aufzugeben; manche starben lieber, als sich dem neuen Gott und der Kirche zu unterwerfen. Heute machen sich wieder viele dafür stark, angesichts der neuen Umwertung die christlichen Werte zu erhalten. Nicht auszuschließen, daß in tausend Jahren Konservative etwa die sogenannte Homo-Ehe verteidigen, weil sie dann vielleicht nichts anderes gewohnt sein werden. In diesem Zusammenhang von »Freiheit« zu sprechen, ist eine heikle Sache.
SEZESSION: Diesen Relativismus kann ich nicht nachvollziehen, ich teile ihn auch nicht. Wie kommst Du dazu, den Lobby-Erfolg einer Randgruppe – die Homoehe ist nichts anderes – mit dem religiösen Umbruch von der heidischen in die christliche Epoche zu vergleichen? Wo wäre heute der Umschlag von ähnlichem Rang, von welcher Gesamttendenz sprechen wir? Von der „Moderne“ an sich?
LISSON: Das ist kein Relativismus, sondern – aus gegebenem Anlaß – nur ein extremes Beispiel dafür, wie sehr Wertvorstellungen mit Gewohnheiten zusammenhängen. Im übrigen sollte man das, was gerade an Umwertungen stattfindet, nicht als den „Lobby-Erfolg einer Randgruppe“ kleinreden. Das wäre, mit Verlaub, naiv. Tritt man mit dieser Sache an sein »neutrales« Umfeld heran, wird man feststellen, wie sehr diese ganze Gender- und Homosexuellendoktrin inzwischen dort Wirkung zeigt und als »richtig« und »normal« verteidigt wird.
Wir müssen erkennen, was heute in der Welt passiert. Und dabei geht es nicht um Meinung, sondern um ein nüchternes Erfassen der Zeitgeistkräfte, die ich als Tendenzen bezeichne, wenn ich das »System der Zivilisation« zu ergründen versuche. Und der Zustand der »Zivilisation« impliziert die totale Abkehr von allen Werten, die im Zustand der »Kultur« gültig waren, weil die »Kultur« mit ihren »vormodernen« Werten, welche die Werte weißer, heterosexueller Männer waren, als gescheitert betrachtet, ja sogar für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verantwortlich gemacht wird.
Wenn die Werte einer ausgelaugten Macht, die vielleicht zu schnell zu groß und zu mächtig geworden war, von innen heraus in Frage gestellt werden, kommt es zu fundamentalen Umbrüchen in der Selbstwahrnehmung. Das ist die Parallele, die uns die Spätantike mit dem späten Abendland vergleichen läßt.
SEZESSION: Schon der Untertitel des Homo viator spricht von einer „Macht der Tendenzen“. Hältst Du das Wort nicht für zu schwach? Tendenzen sind etwas korrigierbares, sind ein Vorfühlen und so ein bestimmter Zug oder Sog in eine Richtung. Das, was wir erleben, ist indes das Überschreiten einer Kultur-Schwelle, oder nicht?
LISSON: Ja, es ist nicht nur das Überschreiten einer Schwelle, sondern der Sturz in einen völlig anderen Zustand, den ich den der »Zivilisation« nenne und menschheitsgeschichtlich sogar für bedeutender halte als den Übergang vom Jäger und Sammler zum seßhaften, urbanen Menschen. Ich meine, das ist nicht zu hoch gegriffen. Wir befinden uns im Auge des Orkans, sind zu nah dran an den Ereignissen und bemerken deshalb ihre Wucht und Gewalt gar nicht.
Aber ich bin sicher, in spätestens zweihundert Jahren wird man unsere Zeit als den größten Epochenbruch beschreiben, den die Menschen je erfahren haben. Die Erlebnisgenerationen begreifen so etwas naturgemäß nie, weil »ihre« Welt ja immer noch vorhanden ist, selbst wenn sie sichtbar schwindet. Zudem scheuen sich die meisten, in größeren Zeiträumen zu denken, weil sie hoffen, Geschichte sei gänzlich »unberechenbar« und laufe in Zyklen ab.
Doch was im 21. Jahrhundert beginnt, kennt in der Geschichte kein Beispiel. Nur werden die späteren Menschen den Bruch natürlich gar nicht so drastisch erleben wie die Übergangsgenerationen, die wir heute bilden, denn die Späteren werden nie etwas anderes kennengelernt haben als die aktuellen Tendenzen, während wir noch unterscheiden können, weil wir zwischen den Epochen aufgewachsen sind. Ich erlebe es immer wieder, wenn ich mit heute Zwanzigjährigen spreche, daß sie nicht einmal mehr eine Vorstellung davon haben, was im 19./20. Jahrhundert der Begriff »Freiheit« beinhaltete.
Wir sollten uns da nichts vormachen: die globalisierten Internetgenerationen sind nicht mit den Maßstäben der »Kultur« des Abendlandes zu messen; sie stellen einen ganz anderen Zugang zur Welt dar – einer Welt übrigens, die schon in hundert Jahren kaum noch etwas mit der Welt der letzten fünftausend Jahre gemeinsam haben wird. Die entscheidenden Faktoren sind hier die ungeheuren Entwicklungssprünge der Technologie, deren evolutionäre Kräfte ebenfalls niemand unterschätzen sollte.
SEZESSION: Für wen ist also der Homo viator? Für die letzten von vorgestern oder für die Desillusionierten von heute? Oder gibt es gar keine Wertung: Wahrnehmen, was ist und kommt, ohne Bewegungsimpuls?
LISSON: Ich wünsche mir den aufmerksamen, skeptischen Leser, der nicht deshalb zu einem Buch greift, um dort seine Erwartungen und festgefügten Weltbilder bestätigt zu sehen, sondern der angeregt, vielleicht sogar irritiert werden will. Denn nichts anderes ist Philosophie im eigentlichen Sinne: man muß sich wundern können und Fragen stellen wollen.
Ich wünsche mir also den neugierigen Leser, der weitgehend unbefangen an eine Sache herangeht und Freude am Denken und an vielleicht ungewöhnlichen Einsichten hat. Es nützt nichts, sich Tag für Tag aufzuzählen, wie es um unser Land und um die heutige Wirklichkeit steht. Das wissen wir doch längst, und mir genügt das einfach nicht.
Ich will wissen, warum die Dinge so geworden sind, wie sie sind. Und wenn mich eines mit Oswald Spengler verbindet, dann ist es sein Blick und Sinn für Tatsachen, sein Mut, den Dingen ins Auge zu sehen. Aber damit hat auch er sich unbeliebt gemacht, denn das wollte schon damals niemand hören, weshalb man ihn bis heute krampfhaft auf ein bis zwei Themen und Schlagwörter zu reduzieren versucht. Es hat aber keinen Sinn, die Weltentwicklung zu ignorieren und so zu tun, als ließe sich Geschichte beliebig korrigieren.
Warum aber wird eine skeptische Haltung stets mit Fatalismus gleichgesetzt? Warum verlangen alle vorschnell nach Handlungsanweisungen, obwohl es doch zuvor darum gehen muß, eine Sache ihrem Wesen nach zu verstehen! Solange wir nicht begreifen, warum die Lage so ist, wie sie ist, kann jedes Dagegen-vorgehen-Wollen kaum mehr sein als blinder Aktivismus. Doch das heißt natürlich nicht, daß wir zum Nichtstun verurteilt sind. Jeder tue das ihm Mögliche, um zu zeigen, daß er mit der Entwicklung wenigstens nicht einverstanden ist. Aber ein bißchen mehr Tatsachensinn und ein wenig Liebe zur Erkenntnis schützt vielleicht vor übergroßer Frustration.
W.Wagner
Was aber, wenn der Widerstand gegen die Tendenz zur Tendenz würde?! Nicht allein verstanden als Widerstand sondern als an die Kultur anknüpfenden Aufbruch.