60. Todestag Hendrik de Man

(Text aus dem Band Vordenker des Staatspolitischen Handbuchs, Schnellroda 2012.)

von Luc Pauwels

Der Flame De Man war sowohl sozialistischer Theoretiker von Weltformat als auch Vertrauensmann des belgischen Königs Leopold III., Professor mit großbürgerlichem Hintergrund und Vorsitzender der belgischen sozialistischen Partei. Die Synthese von Nationalismus und Sozialismus die er suchte, war nicht die der deutschen Nationalsozialisten – wenn es die überhaupt gab.

Sein „Kul­tur­so­zia­lis­mus“ war kon­ser­va­tiv, die sozia­le Ord­nung, die er anstreb­te, revo­lu­tio­när. Im poli­ti­schen Tages­ge­schäft war er denk­bar unge­schickt, sei­ne Kol­la­bo­ra­ti­on mit den Deut­schen ein Fias­ko, das er schon 1941 ent­täuscht been­de­te. De Man bezog nach dem Schul­ab­schluß die Uni­ver­si­tät Gent, aber die ver­wies ihn 1905 wegen Betei­li­gung an einer Kund­ge­bung zu Guns­ten der rus­si­schen Arbei­ter­re­vol­te. Er reis­te dar­auf­hin nach Deutsch­land, wur­de Redak­teur der Leip­zi­ger Volks­zei­tung und kam so in per­sön­li­chen Kon­takt mit füh­ren­den Sozi­al­de­mo­kra­ten wie August Bebel, Karl Kaut­sky, Karl Radek, Rosa Luxem­burg und Otto Bauer.

Im Reich konn­te er sein Stu­di­um abschlie­ßen und pro­mo­vier­te zum Dr. phil., gleich­zei­tig grün­de­te er 1907 mit Karl Lieb­knecht und Lud­wig Frank die Sozia­lis­ti­schen Jugend-Inter­na­tio­na­le, deren ers­ter Sekre­tär er wur­de. Wäh­rend eines Semes­ters an der Uni­ver­si­tät Wien geriet der Fla­me de Man in den Bann des Austro­mar­xis­mus, der den Sozia­lis­mus mit der Lösung der Natio­na­li­tä­ten­fra­ge ver­knüp­fen woll­te. Dann zog er für ein Jahr nach Eng­land (1910), fas­zi­niert von der eng­li­schen Arbei­ter­be­we­gung, die den Mar­xis­mus ablehnte.

Zurück in Bel­gi­en beauf­trag­ten die Sozia­lis­ten ihn mit der Lei­tung der Zen­tra­le für Arbei­ter­erzie­hung. Als 1914 der fran­zö­si­sche Sozia­lis­ten­füh­rer und Pazi­fist Jean Jau­rès ermor­det wur­de, reis­te De Man mit dem SPD-Vor­sit­zen­den Her­mann Mül­ler nach Paris, um sich der – ver­geb­li­chen – Frie­dens­of­fen­si­ve der Sozia­lis­ten aller Län­der anzu­schlie­ßen. In sei­ne Hei­mat zurück­ge­kehrt, mel­de­te De Man sich als Frei­wil­li­ger zur bel­gi­schen Armee. Spar­ta­nisch erzo­gen, paß­te er sich rasch dem Front­le­ben an und wur­de Offi­zier. In sei­ner Frei­zeit unter­rich­te­te er analpha­be­ti­sche Sol­da­ten. Der Krieg an sich war ihm tief zuwi­der. Im Auf­trag der Regie­rung begab er sich 1917 mit dem sozia­lis­ti­schen Staats­mi­nis­ter Van­der­vel­de nach Russ­land, weil man einen deutsch-rus­si­schen Sepa­rat­frie­den fürch­te­te. Wäh­rend der Rei­se begeg­ne­te er Trotz­ki, Lenin und Tho­mas Masaryk.

Wäh­rend des Krie­ges hat­te sich De Man end­gül­tig vom Mar­xis­mus gelöst, erkann­te aber auch die Sack­gas­se, in die der Refor­mis­mus führ­te. Er schlug den Sozia­lis­ten jetzt einen „Kul­tur­so­zia­lis­mus“ vor, einen „drit­ten Weg“ inso­fern, als Kul­tur nicht mehr als „Über­bau“ begrif­fen wur­de wie bei Marx, nicht mehr als meta­po­li­ti­sche Vor­stu­fe der Macht wie bei Gramsci, son­dern als Ziel der sozia­len Eman­zi­pa­ti­on und als „Kampf um die Seele“.

1926 ver­öf­fent­lich­te De Man dann bei Eugen Diede­richs sein Haupt­werk Zur Psy­cho­lo­gie des Sozia­lis­mus, in dem er zum ers­ten Mal den Kul­tur­so­zia­lis­mus als Ziel und den „Pla­nis­mus“ als Metho­de sys­te­ma­tisch dar­stell­te. Über­setzt in 26 Spra­chen, fand das Buch welt­weit Wider­hall. De Man ver­warf jetzt die mecha­nis­ti­sche Geschichts­auf­fas­sung des his­to­ri­schen Mate­ria­lis­mus, da „die letz­te Instanz eine vol­un­t­a­ris­ti­sche Instanz“ ist, der Wil­le ist grund­le­gend. Infol­ge sei­ner kla­ren Absa­ge an den Klas­sen­kampf, for­mu­lier­te er sei­nen neu­en Sozia­lis­mus als ethisch-kul­tu­rel­le Auf­ga­be, nicht einer Klas­se, son­dern aller Völ­ker. Eigen­in­itia­ti­ve und Kon­kur­renz woll­te er in sei­ne Gesell­schafts­vi­si­on inte­grie­ren, er setz­te auf „die auto­no­me Orga­ni­sa­ti­on der Berufs­in­ter­es­sen, d. h. den Kor­po­ra­tis­mus, statt auf zen­tra­li­sier­ten büro­kra­ti­schen Zwang, d. h. Etatismus“.

Spä­ter (1934) for­der­te er alle Sozia­lis­ten aus­drück­lich auf, den Kor­po­ra­tis­mus nicht den Reak­tio­nä­ren zu über­las­sen. 1929 wur­de De Man Lehr­be­auf­trag­ter für Sozi­al­psy­cho­lo­gie an der Uni­ver­si­tät Frank­furt. Er ver­such­te sich außer­dem auf kul­tu­rel­ler Ebe­ne mit dem Fest­spiel “Wir!”: Sprech­chö­re kom­bi­nier­te er hier auf avant­gar­dis­ti­sche Wei­se mit Film­frag­men­ten, Orches­ter und Gesang. Die Urauf­füh­rung in Frank­furt, am 1.Mai 1932, mit 2.000 Mit­wir­ken­den und 18.000 Zuschau­ern, wur­de ein gro­ßer Erfolg. Aller­dings arbei­te­te die poli­ti­sche Ent­wick­lung im Reich gegen ihn und sei­ne Vor­stel­lun­gen. Anfang 1933 wur­den die Bücher De Mans in Frank­furt öffent­lich ver­brannt. Trotz­dem lud man ihn im Mai 1933 ein, sei­ne Lehr­tä­tig­keit wei­ter­zu­füh­ren, was er ablehn­te, „bis es in Deutsch­land wie­der unbe­schränk­te Lehr­frei­heit gibt“. Er kehr­te nach Brüs­sel zurück und lehr­te jetzt Sozi­al­psy­cho­lo­gie an der Uni­ver­si­té Lib­re de Brüssel.

Zur Bekämp­fung der Welt­wirt­schafts­kri­se ent­wi­ckel­te De Man damals sei­nen Plan der Arbeit, der die Arbeits­lo­sig­keit besei­ti­gen, das „vaga­bun­die­ren­de und kos­mo­po­li­ti­sche Kapi­tal“ ein­däm­men und die Wirt­schaft ins­ge­samt umstruk­tu­rie­ren soll­te. Die­se natio­na­le Ziel­set­zung woll­te er nicht nur von den Arbei­tern getra­gen sehen, son­dern auch von den Bau­ern, dem Mit­tel­stand und den klei­nen Unter­neh­mern. Damit war er nicht weit ent­fernt von dem, was in Deutsch­land der lin­ke Flü­gel der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on und frü­her schon Walt­her Rathen­au ange­strebt hat­ten. Fran­zö­si­sche Anhän­ger „pla­nis­ti­scher“ Ideen spra­chen von einer „kon­struk­ti­ven Revolution“.

De Mans Plan dien­te in vie­len Län­dern den Sozi­al­de­mo­kra­ten als Vor­bild. Auf dem Weih­nachts­kon­greß 1933 der bel­gi­schen Sozia­lis­ten wur­de das Kon­zept mit Begeis­te­rung auf­ge­nom­men, zum Ent­set­zen der Par­tei­lei­tung. Trotz mas­si­ver Wider­stän­de in der eige­nen Par­tei trat De Man 1935 der Regie­rung bei und wur­de 1939 stell­ver­tre­ten­der Minis­ter­prä­si­dent. Nach De Man soll­te der Sozia­lis­mus „die grund­le­gen­de Bedeu­tung der natio­na­len Tat­sa­che“ aner­ken­nen, sich erneu­ern „in Über­ein­stim­mung mit den eige­nen Wesens­zü­gen des flä­mi­schen Vol­kes“, und das „mit Bel­gi­en, wenn es geht, ohne Bel­gi­en, wenn es muß“. Die­se Syn­the­se von natio­na­ler und sozia­ler Eman­zi­pa­ti­on wur­de von der Par­tei­spit­ze ver­wor­fen. Trotz­dem orga­ni­sier­te De Man 1937 einen „Flä­mi­schen Sozia­lis­ti­schen Kon­greß“ und plä­dier­te für Zusam­men­ar­beit mit den flä­mi­schen Unter­neh­mern „weil wir lie­ber mit unse­ren eige­nen Leu­ten zu tun haben“.

1938 beauf­trag­te der König De Man mit einer gehei­men Frie­dens­mis­si­on, um Bel­gi­en aus dem dro­hen­den Krieg her­aus­zu­hal­ten. Nach dem Tode des sozia­lis­ti­schen Par­tei­füh­rers Emi­le Van­der­vel­de, einem fran­ko­pho­nen Mar­xis­ten, wur­de er 1939 zum Vor­sit­zen­den gewählt. Aller­dings iso­lier­te sich De Man durch sei­ne strik­te Neu­tra­li­täts­po­li­tik. Als der Krieg begann und Bel­gi­en besetzt wur­de, wei­ger­te sich der König, der Regie­rung ins Exil zu fol­gen. De Man war der ein­zi­ge Poli­ti­ker, der 1940 an sei­ner Sei­te blieb. Unge­wöhn­lich war aller­dings, daß er die Kapi­tu­la­ti­on in einem Mani­fest aus­drück­lich als „Unter­gang einer mor­schen Welt“ begrüß­te, als „Nie­der­la­ge des par­la­men­ta­ri­schen Regimes und der kapi­ta­lis­ti­schen Plu­to­kra­tie“, denen die Werk­tä­ti­gen „nicht nach­trau­ern sol­len“, son­dern die neu­en Ver­hält­nis­se „als Befrei­ung emp­fin­den“. De Man lös­te die sozia­lis­ti­sche Par­tei auf, aber auf die Grün­dung sei­ner neu­en poli­ti­schen Bewe­gung, den „Natio­na­le Bond Vla­an­de­ren“, reagier­ten die deut­sche Behör­den mit einem Redeverbot.

Als er 1941 auch noch als Hoch­schul­leh­rer ent­las­sen wur­de, zog De Man sich in eine Hüt­te in der Hau­te-Savoie (Frank­reich) zurück. Vor­her war es im besetz­ten Paris noch zu einer Begeg­nung mit dem von ihm sehr bewun­der­ten Ernst Jün­ger gekom­men. De Mans Buch Réfle­xi­ons sur la Paix (1942), wur­de sofort beschlag­nahmt. Im August 1944 erhielt De Man poli­ti­sches Asyl in der Schweiz. Er schrieb in der Fol­ge­zeit noch das Buch Ver­mas­sung und Kul­tur­ver­fall: Eine Dia­gno­se unse­rer Zeit, ange­lehnt an die zivi­li­sa­ti­ons­pes­si­mis­ti­schen Dia­gno­sen Speng­lers und Orte­ga y Gassets.

In Bel­gi­en wur­de er 1946 in Abwe­sen­heit zu 20 Jah­ren Haft ver­ur­teilt, sein Ver­mö­gen beschlag­nahmt. Am 20. Juni 1953 starb De Man mit sei­ner Frau, als ihr Wagen auf einem Bahn­über­gang bei dem schwei­ze­ri­schen Ort Greng von einem Zug erfaßt wurde.

Schrif­ten: Die Intel­lek­tu­el­len und der Sozia­lis­mus, Jena 1926; Der Sozia­lis­mus als Kul­tur­be­we­gung, Ber­lin 1926; Zur Psy­cho­lo­gie des Sozia­lis­mus, Jena 1927; Der Kampf um die Arbeits­freu­de, Jena 1927; Sozia­lis­mus und Natio­nal-Fascis­mus, Pots­dam 1931; Der neu ent­deck­te Marx, 1932; Mas­sen und Füh­rer, Pots­dam 1932; Die sozia­lis­ti­sche Idee, Jena 1933; Pour un plan d’ac­tion, Paris 1934; Le Plan du tra­vail, Brüs­sel 1934; Cor­po­ra­tis­me et socia­lis­me, Brüs­sel 1935; Ver­mas­sung und Kul­tur­ver­fall: Eine Dia­gno­se unse­rer Zeit, Bern 1951; Gegen den Strom. Memoi­ren eines euro­päi­schen Sozia­lis­ten, Stutt­gart 1953.

Lite­ra­tur: Michel Bré­laz: Hen­ri de Man. Une aut­re idée du socia­lis­me, Genf 1985; Kers­ten Osch­mann: Über Hen­drik de Man: Mar­xis­mus, Plan­so­zia­lis­mus und Kol­la­bo­ra­ti­on. Ein Grenz­gän­ger der Zwi­schen­kriegs­zeit, o. O. 1987.

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