Sein „Kultursozialismus“ war konservativ, die soziale Ordnung, die er anstrebte, revolutionär. Im politischen Tagesgeschäft war er denkbar ungeschickt, seine Kollaboration mit den Deutschen ein Fiasko, das er schon 1941 enttäuscht beendete. De Man bezog nach dem Schulabschluß die Universität Gent, aber die verwies ihn 1905 wegen Beteiligung an einer Kundgebung zu Gunsten der russischen Arbeiterrevolte. Er reiste daraufhin nach Deutschland, wurde Redakteur der Leipziger Volkszeitung und kam so in persönlichen Kontakt mit führenden Sozialdemokraten wie August Bebel, Karl Kautsky, Karl Radek, Rosa Luxemburg und Otto Bauer.
Im Reich konnte er sein Studium abschließen und promovierte zum Dr. phil., gleichzeitig gründete er 1907 mit Karl Liebknecht und Ludwig Frank die Sozialistischen Jugend-Internationale, deren erster Sekretär er wurde. Während eines Semesters an der Universität Wien geriet der Flame de Man in den Bann des Austromarxismus, der den Sozialismus mit der Lösung der Nationalitätenfrage verknüpfen wollte. Dann zog er für ein Jahr nach England (1910), fasziniert von der englischen Arbeiterbewegung, die den Marxismus ablehnte.
Zurück in Belgien beauftragten die Sozialisten ihn mit der Leitung der Zentrale für Arbeitererziehung. Als 1914 der französische Sozialistenführer und Pazifist Jean Jaurès ermordet wurde, reiste De Man mit dem SPD-Vorsitzenden Hermann Müller nach Paris, um sich der – vergeblichen – Friedensoffensive der Sozialisten aller Länder anzuschließen. In seine Heimat zurückgekehrt, meldete De Man sich als Freiwilliger zur belgischen Armee. Spartanisch erzogen, paßte er sich rasch dem Frontleben an und wurde Offizier. In seiner Freizeit unterrichtete er analphabetische Soldaten. Der Krieg an sich war ihm tief zuwider. Im Auftrag der Regierung begab er sich 1917 mit dem sozialistischen Staatsminister Vandervelde nach Russland, weil man einen deutsch-russischen Separatfrieden fürchtete. Während der Reise begegnete er Trotzki, Lenin und Thomas Masaryk.
Während des Krieges hatte sich De Man endgültig vom Marxismus gelöst, erkannte aber auch die Sackgasse, in die der Reformismus führte. Er schlug den Sozialisten jetzt einen „Kultursozialismus“ vor, einen „dritten Weg“ insofern, als Kultur nicht mehr als „Überbau“ begriffen wurde wie bei Marx, nicht mehr als metapolitische Vorstufe der Macht wie bei Gramsci, sondern als Ziel der sozialen Emanzipation und als „Kampf um die Seele“.
1926 veröffentlichte De Man dann bei Eugen Diederichs sein Hauptwerk Zur Psychologie des Sozialismus, in dem er zum ersten Mal den Kultursozialismus als Ziel und den „Planismus“ als Methode systematisch darstellte. Übersetzt in 26 Sprachen, fand das Buch weltweit Widerhall. De Man verwarf jetzt die mechanistische Geschichtsauffassung des historischen Materialismus, da „die letzte Instanz eine voluntaristische Instanz“ ist, der Wille ist grundlegend. Infolge seiner klaren Absage an den Klassenkampf, formulierte er seinen neuen Sozialismus als ethisch-kulturelle Aufgabe, nicht einer Klasse, sondern aller Völker. Eigeninitiative und Konkurrenz wollte er in seine Gesellschaftsvision integrieren, er setzte auf „die autonome Organisation der Berufsinteressen, d. h. den Korporatismus, statt auf zentralisierten bürokratischen Zwang, d. h. Etatismus“.
Später (1934) forderte er alle Sozialisten ausdrücklich auf, den Korporatismus nicht den Reaktionären zu überlassen. 1929 wurde De Man Lehrbeauftragter für Sozialpsychologie an der Universität Frankfurt. Er versuchte sich außerdem auf kultureller Ebene mit dem Festspiel “Wir!”: Sprechchöre kombinierte er hier auf avantgardistische Weise mit Filmfragmenten, Orchester und Gesang. Die Uraufführung in Frankfurt, am 1.Mai 1932, mit 2.000 Mitwirkenden und 18.000 Zuschauern, wurde ein großer Erfolg. Allerdings arbeitete die politische Entwicklung im Reich gegen ihn und seine Vorstellungen. Anfang 1933 wurden die Bücher De Mans in Frankfurt öffentlich verbrannt. Trotzdem lud man ihn im Mai 1933 ein, seine Lehrtätigkeit weiterzuführen, was er ablehnte, „bis es in Deutschland wieder unbeschränkte Lehrfreiheit gibt“. Er kehrte nach Brüssel zurück und lehrte jetzt Sozialpsychologie an der Université Libre de Brüssel.
Zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise entwickelte De Man damals seinen Plan der Arbeit, der die Arbeitslosigkeit beseitigen, das „vagabundierende und kosmopolitische Kapital“ eindämmen und die Wirtschaft insgesamt umstrukturieren sollte. Diese nationale Zielsetzung wollte er nicht nur von den Arbeitern getragen sehen, sondern auch von den Bauern, dem Mittelstand und den kleinen Unternehmern. Damit war er nicht weit entfernt von dem, was in Deutschland der linke Flügel der Konservativen Revolution und früher schon Walther Rathenau angestrebt hatten. Französische Anhänger „planistischer“ Ideen sprachen von einer „konstruktiven Revolution“.
De Mans Plan diente in vielen Ländern den Sozialdemokraten als Vorbild. Auf dem Weihnachtskongreß 1933 der belgischen Sozialisten wurde das Konzept mit Begeisterung aufgenommen, zum Entsetzen der Parteileitung. Trotz massiver Widerstände in der eigenen Partei trat De Man 1935 der Regierung bei und wurde 1939 stellvertretender Ministerpräsident. Nach De Man sollte der Sozialismus „die grundlegende Bedeutung der nationalen Tatsache“ anerkennen, sich erneuern „in Übereinstimmung mit den eigenen Wesenszügen des flämischen Volkes“, und das „mit Belgien, wenn es geht, ohne Belgien, wenn es muß“. Diese Synthese von nationaler und sozialer Emanzipation wurde von der Parteispitze verworfen. Trotzdem organisierte De Man 1937 einen „Flämischen Sozialistischen Kongreß“ und plädierte für Zusammenarbeit mit den flämischen Unternehmern „weil wir lieber mit unseren eigenen Leuten zu tun haben“.
1938 beauftragte der König De Man mit einer geheimen Friedensmission, um Belgien aus dem drohenden Krieg herauszuhalten. Nach dem Tode des sozialistischen Parteiführers Emile Vandervelde, einem frankophonen Marxisten, wurde er 1939 zum Vorsitzenden gewählt. Allerdings isolierte sich De Man durch seine strikte Neutralitätspolitik. Als der Krieg begann und Belgien besetzt wurde, weigerte sich der König, der Regierung ins Exil zu folgen. De Man war der einzige Politiker, der 1940 an seiner Seite blieb. Ungewöhnlich war allerdings, daß er die Kapitulation in einem Manifest ausdrücklich als „Untergang einer morschen Welt“ begrüßte, als „Niederlage des parlamentarischen Regimes und der kapitalistischen Plutokratie“, denen die Werktätigen „nicht nachtrauern sollen“, sondern die neuen Verhältnisse „als Befreiung empfinden“. De Man löste die sozialistische Partei auf, aber auf die Gründung seiner neuen politischen Bewegung, den „Nationale Bond Vlaanderen“, reagierten die deutsche Behörden mit einem Redeverbot.
Als er 1941 auch noch als Hochschullehrer entlassen wurde, zog De Man sich in eine Hütte in der Haute-Savoie (Frankreich) zurück. Vorher war es im besetzten Paris noch zu einer Begegnung mit dem von ihm sehr bewunderten Ernst Jünger gekommen. De Mans Buch Réflexions sur la Paix (1942), wurde sofort beschlagnahmt. Im August 1944 erhielt De Man politisches Asyl in der Schweiz. Er schrieb in der Folgezeit noch das Buch Vermassung und Kulturverfall: Eine Diagnose unserer Zeit, angelehnt an die zivilisationspessimistischen Diagnosen Spenglers und Ortega y Gassets.
In Belgien wurde er 1946 in Abwesenheit zu 20 Jahren Haft verurteilt, sein Vermögen beschlagnahmt. Am 20. Juni 1953 starb De Man mit seiner Frau, als ihr Wagen auf einem Bahnübergang bei dem schweizerischen Ort Greng von einem Zug erfaßt wurde.
Schriften: Die Intellektuellen und der Sozialismus, Jena 1926; Der Sozialismus als Kulturbewegung, Berlin 1926; Zur Psychologie des Sozialismus, Jena 1927; Der Kampf um die Arbeitsfreude, Jena 1927; Sozialismus und National-Fascismus, Potsdam 1931; Der neu entdeckte Marx, 1932; Massen und Führer, Potsdam 1932; Die sozialistische Idee, Jena 1933; Pour un plan d’action, Paris 1934; Le Plan du travail, Brüssel 1934; Corporatisme et socialisme, Brüssel 1935; Vermassung und Kulturverfall: Eine Diagnose unserer Zeit, Bern 1951; Gegen den Strom. Memoiren eines europäischen Sozialisten, Stuttgart 1953.
Literatur: Michel Brélaz: Henri de Man. Une autre idée du socialisme, Genf 1985; Kersten Oschmann: Über Hendrik de Man: Marxismus, Plansozialismus und Kollaboration. Ein Grenzgänger der Zwischenkriegszeit, o. O. 1987.