Kapitalismus – eine Konstante

49pdf der Druckfassung aus Sezession 49 / August 2012

von Heino Bosselmann

War das Wort »Kapitalismus« vor dem Sturz von Lehman Brothers den Restbeständen der Ideologien vorbehalten, erscheint es in der Gegenwart sich überlagernder Krisen dauerpräsent und avancierte vom Schmäh- zum Arbeitsbegriff. Wer immer die Krise als Argument aufruft, spricht wieder offensiv vom Kapitalismus und verspricht sich davon die Frische einer neuen politischen Unmittelbarkeit – nicht zuletzt deswegen, weil das Wort »Kapitalismus« so alt klingt, wie es in Frakturbuchstaben aussähe.

Was? Immer noch Kapi­ta­lis­mus? Jener, der längst ver­ges­sen war, längst ver­fei­nert zur sozia­len Markt­wirt­schaft, über­wölbt von einer gerech­tig­keits­fa­na­ti­schen Demo­kra­tie mit ihren Dis­kri­mi­nie­rungs­ver­bo­ten und der neu­en Mensch­lich­keit samt »Inklu­si­on« von allem und jedem? Die Par­tei­en über­bie­ten sich im recht­li­chen Sicher­stel­lungs­den­ken, das die zuneh­men­den Här­ten im Sozia­len kul­tu­rell und juris­tisch schein­kom­pen­sie­ren möch­te. Und doch schrei­tet durch die­se Har­mo­ni­sie­rungs­run­den der »poli­ti­schen Mit­te« immer wie­der das häß­li­che Reiz­wort »Kapi­ta­lis­mus«. Zu sei­nen Auf­trit­ten paßt die Anfangs­zei­le von Georg Heyms Gedicht »Krieg«: »Auf­ge­stan­den ist er, wel­cher lan­ge schlief«.

Was also? Ora­kel eines neu­en Welt­endes? Doch wie­der Revo­lu­ti­on? Dies­mal nicht so blut­rüns­tig wie im zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert, son­dern kun­ter­bunt gewitzt wie die jugend­li­che Occu­py-Bewe­gung? Erneue­rung durch die soge­nann­te Zivil­ge­sell­schaft, inne­rer Wan­del, Läu­te­rung im Sin­ne des Hegel­schen Welt­geis­tes und sei­ner »List der Ver­nunft«? Mit all den neu­lin­ken Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gun­gen erlebt fol­ge­rich­tig tat­säch­lich die Hegel-Rezep­ti­on eine Renais­sance, weil wie­der dar­auf gehofft wer­den soll, daß sich die »Ver­nunft in der Geschich­te« durch irdisch-ver­kör­per­te Gestal­ten voll­zie­he und »das Wah­re nicht als Sub­stanz, son­dern eben­so­sehr als Sub­jekt auf­zu­fas­sen« wäre.

Der lin­ke Pop­theo­re­ti­ker Died­rich Diede­rich­sen wie­der­holt uner­müd­lich sein Man­tra: »Der Mar­xis­mus mag wie­der­kom­men, wenn er ver­stan­den hat, war­um er weg war.« Alles, was sich von die­sen Quel­len nährt, der Impe­tus des Klas­sen­kamp­fes eben­so wie Blochs »Prin­zip Hoff­nung«, schöpft neue Kraft und hübscht sich auf zum gro­ßen Wan­del – intel­lek­tu­ell, ethisch und öko­lo­gisch so geläu­tert, daß es der alt­mo­di­schen Bar­ri­ka­de nicht mehr bedarf, zumal sich der Kapi­ta­lis­mus sowie­so selbst zu erle­di­gen scheint, offen­sicht­lich unfä­hig zu noch wei­te­ren ver­blüf­fen­den Metamorphosen.

Aber: Kommt dem Kapi­ta­lis­mus über­haupt eine expli­zit geschicht­li­che Epo­che zu, die irgend­wann begann und irgend­wann enden wird, so wie der His­to­ri­sche Mate­ria­lis­mus mar­xis­ti­scher For­ma­ti­ons­theo­rie, Hegels idea­lis­ti­sche Geschichts­phi­lo­so­phie umbau­end, es zu fas­sen und zu pro­gnos­ti­zie­ren mein­te? Oder ist die­se »Gesell­schafts­ord­nung« nicht all­ge­mei­ner Aus­druck der Geschäf­te des Mensch­li­chen, ganz gene­rell, so wie man die­se schon immer betrieb, selbst vor der Indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on und ohne die rasant ent­wi­ckel­ten Maschi­ne­rien und Kapi­ta­li­en der Moder­ne? Kurz: Kann der Kapi­ta­lis­mus, der mit anthro­po­lo­gi­schen Grund­be­stim­mun­gen lan­ge und beein­dru­ckend zusam­men­spiel­te, sei­ner grund­sätz­li­chen Ver­faßt­heit nach nicht als gro­ße Kon­stan­te gel­ten, die geschicht­lich von der Früh­zeit an durch­weg prä­sent war und nicht abge­löst oder ersetzt wer­den kann – gera­de nicht durch ein gemut­maßt Besseres?

Min­des­tens wird man behaup­ten kön­nen: Markt war immer! Das Öko­no­mi­sche, mit­hin das Den­ken in Kate­go­rien wie Leis­tung, Gewinn und Genuß, ist nicht das iso­liert und abspalt­bar Böse, son­dern Teil der con­di­tio huma­na, die bis­lang durch revo­lu­tio­nä­re Ein­grif­fe, etwa die Abschaf­fung des »Pri­vat­ei­gen­tums an Pro­duk­ti­ons­mit­teln«, nicht ver­bes­sert, son­dern, im Gegen­teil, per­ver­tiert wurde.

Die urkon­ser­va­ti­ve Akzep­tanz sol­cher mensch­li­chen Kon­stan­ten macht die kon­ser­va­ti­ve Kri­tik an den Zustän­den eben­so sim­pel wie hilf­los: Es darf nicht alles zur Ware wer­den! Nicht die Wirt­schafts­ma­the­ma­tik hat die Kri­se ver­ur­sacht, son­dern der mit sei­nen Bedürf­nis­sen und Vor­stel­lun­gen deren Varia­blen bestim­men­de Mensch, der als glo­ba­li­sier­ter, ent­grenz­ter Kon­su­ment heu­te natür­lich ande­re Mög­lich­kei­ten hat als jener, der vor hun­dert Jah­ren orts­ge­bun­den und im Ver­gleich gera­de­zu mit­tel­los ein­kauf­te. Unge­fähr in die­se Rich­tung stößt Alain de Benoist vor. In sei­nem jüngst in der Edi­ti­on JF erschie­ne­nen Buch Am Ran­de des Abgrunds kri­ti­siert er den gegen­wär­ti­gen Kapi­ta­lis­mus, nach sei­ner Auf­fas­sung einen »Kapi­ta­lis­mus drit­ten Typs«, auf eine Wei­se, die mar­xis­tisch anklin­gen wür­de, wären nicht die Auf­fas­sun­gen zu Staat und Nati­on ganz andere.

Die Kri­se als Kor­rek­tiv ist für Benoist eine Fol­ge der dem Sys­tem struk­tu­rell imma­nen­ten Fixiert­heit auf quan­ti­ta­ti­ves Wachs­tum – for­ciert durch die Regie des Finanz­ka­pi­tals und die von ihm bedien­ten Kon­su­men­ten­er­war­tun­gen. Durch den vom Kapi­tal geschaf­fe­nen glo­ba­li­sier­ten, also bar­rie­re­frei­en Markt geriet die Arbei­ter­schaft West­eu­ro­pas immer mehr unter den Druck der Bil­lig­kon­kur­renz, ihr Real­ein­kom­men sank. Da die Bedürf­nis­se aber blie­ben, wur­de über Kre­di­te finan­ziert. Ver­schul­dun­gen füll­ten Kauf­kraft­lü­cken. Der Schul­den­dienst wuchs sich staat­lich wie pri­vat zum immer grö­ße­ren Etat­pos­ten aus. Indem der moder­ne Kapi­ta­lis­mus ursprüng­li­che Regu­la­ri­en auf­hob, so Benoist in einem Inter­view, habe er die »Ver­wur­ze­lung in der Nati­on ver­lo­ren«: »Der Markt hat kein Vater­land, das Vater­land ist da, wo der meis­te Pro­fit ist.« Die­se Ten­denz beför­de­re »Delo­ka­li­sie­rung« und die »Ent­ortung des Systems«.

Ver­ant­wort­lich für die Mise­re sind also nicht allein »der Kapi­ta­list« oder »der Ban­ker«, die von jeher die Inter­es­sen der Kon­su­men­ten von Pro­duk­ten bedie­nen, son­dern ein­ge­bun­den sind alle, die an Pro­duk­ti­on und Kon­sum­ti­on einer hyper­tro­phen Objekt­welt von Waren und Dienst­leis­tun­gen teil­ha­ben, mit­hin jeder. Hoch­pro­ble­ma­tisch, daß das Gemein­we­sen sich rein uti­li­ta­ris­tisch als Wohl­stands- und Kon­su­men­ten­de­mo­kra­tie ver­steht und daher nicht in der Lage ist, exis­ten­ti­ell not­wen­di­ge Kor­rek­tu­ren, etwa Reduk­tio­nen des Über­ma­ßes, anzu­steu­ern, son­dern statt des­sen einen Sta­tus quo zu bewah­ren sucht, der gera­de in die Kri­se hin­ein­ge­führt hat.

Eine Poli­tik, die will­fäh­rig einer gro­ße und größ­te Räu­me, hohe und höchs­te Divi­den­de suchen­den Öko­no­mie alles über­läßt und die damit ver­bun­de­ne Glo­ba­li­sie­rung und »euro­päi­sche Inte­gra­ti­on« – bei­des rei­ne Markt­plät­ze – als gro­ßen Völ­ker­frie­den miß­deu­tet, hat ihren Gestal­tungs­wil­len schon auf­ge­ge­ben und dege­ne­riert zur blo­ßen Marketing­agentur im Sin­ne »markt­kon­for­mer Demo­kra­tie«. Und: Ja, es gibt die Welt­wirt­schaft. Seit dem Alter­tum und ins­be­son­de­re seit 1492. Aber es gibt kei­ne Welt­re­gie­rung. Sie wäre eine Mons­tro­si­tät. Gestal­ten kön­nen nur Natio­nen, Regio­nen, Kul­tu­ren, in frei­em Ver­kehr, aber in sich. Alles ande­re ist kei­ne Gestal­tung, son­dern Nivel­lie­rung. Weil Deutsch­land nach regie­ren­der Leit­li­nie für sich kei­ne Grö­ße mehr sein soll, for­mu­liert die Poli­tik kei­ne natio­na­len Per­spek­ti­ven, son­dern abs­trak­te, also »euro­päi­sche« oder »glo­ba­le«.

David Grae­ber, Eth­no­lo­ge und als Anar­chist erklär­ter­ma­ßen Anti­ka­pi­ta­list, ver­sucht das Pro­blem in sei­nem jüngst erschie­ne­nen Buch, Schul­den. Die ers­ten 5000 Jah­re, grund­sätz­lich anzu­ge­hen, indem er meint, daß den Markt pri­mär nur zwei Grund­be­din­gun­gen in Gang setz­ten – Gewalt und Schul­den. Jedes Gut, einer­lei ob mate­ri­ell oder ideell, alles, was sei­nen Besit­zer aus Bedürf­nis­sen her­aus wech­selt, begrün­de eine Schuld – und sei es letzt­lich die ins Reli­giö­se ver­klär­te gegen­über Gott oder dem Kos­mos für die eige­ne Exis­tenz, gewis­ser­ma­ßen die Erbsünde.

Jeder Anfang grün­de sol­cher­art in einem Schuld­buch­ein­trag. Daß Grae­ber den Kapi­ta­lis­mus damit auf­zu­he­ben meint, die ver­meint­lich böse Bar­geld­wirt­schaft zuguns­ten der ver­meint­lich guten Buch­geld­wirt­schaft abzu­lö­sen und so gleich noch den über Steu­ern schatz­bil­den­den und gewalt­mo­no­po­lis­ti­schen Haupt­ka­pi­ta­lis­ten Staat abzu­schaf­fen, um end­lich die gro­ße Fair­neß aus­ru­fen zu kön­nen, mag der lin­ken anti­hob­be­sia­ni­schen Dis­kus­si­on über­las­sen blei­ben; aber daß die Geschich­te mensch­li­chen Güter­aus­tau­sches ohne die Deter­mi­nan­ten Schul­den und Gewalt nicht zu den­ken ist, stimmt in Abs­trak­ti­on durch­aus und unter­schei­det den Kapi­ta­lis­mus über­haupt nicht von älte­ren Kapi­teln der Menschheitsgeschichte.

Daß etwa jede gemein­sa­me Anstren­gung Kapi­tal­kon­zen­tra­ti­on vor­aus­setzt, die­se aber im Voll­zug eine ide­al vor­ge­stell­te Gemein­schaft sprengt und im wei­tes­ten Sin­ne Gewalt bedingt, ist im Kapi­ta­lis­mus augen­fäl­li­ger zu erken­nen als in der mit­tel­al­ter­li­chen Feu­dal­struk­tur oder der anti­ken Welt. Wenn der Mar­xis­mus sich ein intel­lek­tu­el­les Ver­dienst erwarb, dann jenes, die kla­ren Ana­ly­sen der klas­si­schen eng­li­schen Öko­no­mie auf das Gesell­schaft­li­che, also die Poli­tik über­tra­gen und sie so ihrer viel­fäl­ti­gen Ver­brä­mun­gen ent­klei­det zu haben.

Grae­ber sieht Alter­na­ti­ven zum Schul­den-und-Gewalt-Kapi­ta­lis­mus nur dort, wo Ver­fah­ren der Betei­li­gung ent­wi­ckelt wer­den. Das jedoch beträ­fe jen­seits gras­re­vo­lu­tio­nä­rer Träu­me die Grund­fra­ge nach der Teil­ha­be, also nach Macht und Befug­nis der Akteu­re, und damit wäre man eher als bei Luh­mann oder Rawls bei Carl Schmitt, der zur Staats- und Rechts­phi­lo­so­phie ähn­lich mar­kant kla­re Aus­sa­gen traf wie der frü­he, eigent­lich noch nicht mar­xis­ti­sche Marx es hin­sicht­lich des Nie­der­schlags alles Öko­no­mi­schen in der Gesell­schaft ver­moch­te – bei­de in ihrer luzi­den Spra­che oft als krän­kend emp­fun­den, gera­de so aber die Ver­schwom­men­hei­ten von Euphe­mis­men aufklärend.

In einer Öko­no­mie­ko­lum­ne der Juni-Aus­ga­be des Mer­kur weist der Frank­fur­ter Wirt­schafts­his­to­ri­ker Wer­ner Plum­pe dar­auf hin, daß die »zeit­wei­se Ver­schär­fung der Kri­tik am kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tem kein Moment sei­nes ›Unter­gangs‹, son­dern Teil sei­ner Dyna­mik« sei, und er zieht dafür das wirt­schafts­ge­schicht­lich so stim­mi­ge wie bei­na­he anmu­ti­ge Bild der »lan­gen Wel­len« Joseph A. Schum­pe­ters her­an. Der Öko­nom hat­te 1939, auf­bau­end auf Niko­lai Kond­rat­jew, die The­se for­mu­liert, wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung sei durch lan­ge, von Basis­in­no­va­tio­nen getra­ge­ne Auf­schwung­pha­sen gekenn­zeich­net, nach denen die Dyna­mik eben­so lang­fris­tig abklingt, ein gedehn­tes Auf und Ab, über die Kurz­läu­fig­kei­ten von Boom und Kri­se hin­aus­grei­fend. Bei­spiels­wei­se erkennt Schum­pe­ter einen ers­ten Zyklus von 1770 bis 1830, des­sen Auf­schwung durch die Indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on in Eng­land bestimmt ist, der Abschwung von der Aus­brei­tung der Tex­til­in­dus­trie und dem damit zusam­men­hän­gen­den Pauperismus.

Wei­te­re Wel­len weit­ge­zo­ge­ner Ampli­tu­den schlie­ßen sich an, bis hin zum vor­erst letz­ten Anstieg von der Mit­te der 1940er bis zum Beginn der 1970er Jah­re, der Wohl­stands­pha­se des Wes­tens, maß­geb­lich bestimmt von der Auto­mo­bil­in­dus­trie, abge­löst wie­der­um von Wachs­tums­dämp­fung und dem Struk­tur­wan­del ab etwa 1980, bis die mikro­elek­tro­ni­sche Revo­lu­ti­on und Markt­be­schleu­ni­gun­gen nach dem Zusam­men­bruch des Ost­blocks über neue Finanz­pro­duk­te erst einen Hype und dann die Kri­se der Ban­ken, Haus­hal­te und Wäh­run­gen aus­lös­ten. Damit wer­de es sich aber nicht um das Ende des Kapi­ta­lis­mus han­deln. Plum­pe sieht den Feh­ler der Lin­ken dar­in, »daß sie die empi­ri­schen Befun­de der Abschwung­pha­sen zu sys­tem­ty­pi­schen Merk­ma­len gene­ra­li­siert und auf die­ser über­aus unsi­che­ren Basis dann (Untergangs)Prognosen erstellt.«

Ein­drucks­vol­les Bei­spiel einer ande­ren Fehl­ein­schät­zung ist die ver­häng­nis­vol­le Annah­me Karl Marx’, Kapi­ta­lis­mus und bür­ger­li­ches Zeit­al­ter wären aus sys­tem­im­ma­nen­ten Grün­den im neun­zehn­ten oder frü­hen zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert am Ende. Daß nur die »his­to­ri­sche Mis­si­on der Arbei­ter­klas­se« Befrei­ung, Glück, ja über­haupt den Fort­gang der Geschich­te sichern könn­te, kam ein­hun­dert­fünf­zig Jah­re lang einer säku­la­ren Heils­er­war­tung gleich, die für die Arbei­ter­be­we­gung kul­tur­bil­dend wirk­te, mit der kom­mu­nis­ti­schen Radi­ka­li­tät aller­dings schreck­li­che Kon­se­quen­zen her­auf­be­schwor. Daß der erwar­te­te Unter­gang des Kapi­ta­lis­mus nicht erfolg­te, gab nach Marx’ Tod in der Sozi­al­de­mo­kra­tie – beför­dert durch die Bis­marck­sche Sozi­al­ge­setz­ge­bung – zu einem Revi­sio­nis­mus Anlaß, der von Marx weg und zur gesell­schaft­li­chen Inte­gra­ti­on der Arbei­ter­schaft hin­führ­te – inner­halb des Kapi­ta­lis­mus! Der kom­mu­nis­ti­schen Bewe­gung erging es ähn­lich: Das immer wie­der ora­kel­te Abster­ben des Kapi­ta­lis­mus trat trotz ver­hee­ren­der Kri­sen­er­eig­nis­se und Krie­ge nicht ein, und es mutet heu­te kuri­os an, wel­che Erklä­run­gen sich die Lin­ke dafür erfand.

Ein Vor­teil der Kon­ser­va­ti­ven und Rech­ten mag dar­in lie­gen, daß sie nicht reflex­ar­tig von Mensch­heits­be­frei­ung zu träu­men begin­nen, wenn das Sys­tem mal knirscht, daß sie den sire­ni­schen Reiz der Uto­pien zuguns­ten pes­si­mis­ti­schen Lebens­erns­tes mei­den, wis­send, daß, wer mit uto­pis­ti­scher Sinn­ge­bung auf­brach, oft genug hin­term Sta­chel­draht ankam. Dage­gen ist etwa das Grund­mo­tiv Ernst Blochs gera­de das Auf­su­chen der angeb­lich all­über­all ver­bor­ge­nen kon­kre­ten Uto­pien. Wenn auch, »solan­ge der Mensch im Argen liegt«, das »Noch-Nicht-Bewuß­te, Noch-Nicht-Gewor­de­ne … den Sinn aller Men­schen und den Hori­zont alles Seins erfüllt«, so sei es von der Phi­lo­so­phie als Begriff nie durch­drun­gen wor­den, argu­men­tiert sein Haupt­werk. Für die Lin­ke liegt das »Prin­zip Hoff­nung« in einer gestalt­ba­ren Uto­pie; die Rech­te hin­ge­gen fragt danach, ob der Mensch das aus­hält, und warnt vor der Hybris, die sol­che letz­ten Wel­ten schafft, wie es Robes­pierre, Sta­lin, Mao, Pol Pot versuchten.

Sicher unfrei­wil­lig war Ernst Bloch sei­nem Gegen­bild Fried­rich Nietz­sche nicht unähn­lich, pfleg­te er doch erzäh­lend, essay­is­tisch, apho­ris­tisch den Stil des Pre­di­gers und Pro­phe­ten, und wie sein Held Tho­mas Münt­zer sieht er einem neu­en Him­mel und einer neu­en Erde ent­ge­gen und ver­faß­te dar­über eine gera­de­zu expres­sio­nis­ti­sche Pro­sa. Sein erklär­tes Ziel ist es, »an die Hoff­nung, als eine Welt­stel­le, die bewohnt ist wie das bes­te Kul­tur­land und uner­forscht wie die Ant­ark­tis, Phi­lo­so­phie zu brin­gen.« Die­se »Welt­stel­le Hoff­nung« ist auch der Ort gegen­wär­ti­ger Kapi­ta­lis­mus­kri­tik. Die ist ange­sichts finanz­ka­pi­ta­lis­ti­scher Exzes­se berech­tigt! Nur: Gab es je eine grund­sätz­li­che Alter­na­ti­ve? Die letz­te, jene von 1917ff., gene­rier­te einen »Sozia­lis­mus« in staats­ka­pi­ta­lis­ti­scher Vari­anz, ein Sys­tem, das den Pla­ne­ten noch gna­den­lo­ser aus­ge­beu­tet haben wür­de, hät­te es über das tech­ni­sche Besteck und den glo­ba­len Ein­fluß ver­fügt. Des­sen Rhe­to­rik war anti­ka­pi­ta­lis­tisch, ja anti­im­pe­ria­lis­tisch, sei­ne Öko­no­mik war es grund­sätz­lich nicht. Marx selbst kann nicht nur als gro­ßer Kri­ti­ker des Kapi­ta­lis­mus gel­ten, son­dern eben­so als des­sen frü­her Bewun­de­rer, eben­so wie der real­exis­tie­ren­de Sozia­lis­mus den volks­wirt­schaft­li­chen Para­me­tern nach der Logik sei­nes Geg­ners folg­te, auf ihn fixiert war und ihn wirt­schaft­lich zu besie­gen trachtete.

Die Lin­ke wünscht sich viel und steckt phi­lo­so­phisch gern im Als-ob. So wünsch­te sich Blochs Weg­ge­fähr­ten, Georg Lukács, daß es schon geis­tes­ge­schicht­lich doch bes­ser bei Kant und Hegel geblie­ben wäre. Schel­ling, noch mehr aber Scho­pen­hau­er und Nietz­sche hin­ge­gen hät­ten die ver­meint­lich siche­re Ver­nunft in der Phi­lo­so­phie vor­sätz­lich ver­dor­ben, wes­halb das auf­ge­klär­te Bür­ger­tum dann zur Deka­denz ver­kam: Phi­lo­so­phie erscheint so als fort­schrei­ten­de Para­ly­se, Impe­ria­lis­mus als deren soma­ti­sche Fol­ge, Hit­ler und Mus­so­li­ni als Voll­stre­cker ver­meint­lich irra­tio­na­lis­ti­scher Den­ker des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts. Die Lin­ke möch­te sich die Welt gut­den­ken und das Böse aus­wei­sen. Wohin eigentlich?

Die gegen­wär­ti­ge Kri­se hat das Zeug zur Grö­ße. Wirt­schaft­lich und recht­lich wird man umbau­en müs­sen, aber auf revo­lu­tio­nä­re Wei­se nichts ursprüng­lich Anders­ar­ti­ges grün­den kön­nen. Es wäre dies ein neu­er Alp­traum. Je kon­se­quen­ter die bür­ger­li­che Poli­tik zu Kor­rek­tu­ren bereit ist, um so wirk­sa­mer wird radi­ka­len Aus­schlä­gen zu begeg­nen sein.

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