Was vom Walde übrigblieb

49pdf der Druckfassung aus Sezession 49 / August 2012

49pdf der Druck­fas­sung aus Sezes­si­on 49 / August 2012

von Ben­ja­min Jahn Zschocke

»Was wäre für dich der schlimms­te Ort?« Lan­ges Schwei­gen. »Die Wäl­der.« »Das ist komisch. Du bist doch die­je­ni­ge, die immer in den Wald gehen woll­te. Wovor fürch­test du dich im Wald? Was macht dir dort angst?« Zähes Schwei­gen. Dann: »Ein­fach alles.« Er hakt nach: »Erzähl’ mir mal, was dir im Wald pas­sie­ren könn­te.« Schwei­gen. Kei­ne Antwort.

Das namen­lo­se Paar in Lars von Triers Film Anti­christ (2009) bohrt, gräbt tief in sich. Die Trau­er um ihr ver­un­glück­tes Kind drückt sie nie­der. Er ist Psy­cho­lo­ge, sie Geis­tes­wis­sen­schaft­le­rin. Seit dem Tod des Kin­des lei­det sie an regel­mä­ßi­gen Ner­ven­zu­sam­men­brü­chen, die ihre tie­fe inne­re Spal­tung zuta­ge för­dern. Ihre größ­te Angst ist die vor der Natur – die der Wie­sen und Wäl­der, aber auch ihrer eige­nen. Die Situa­ti­on spitzt sich zu und erfor­dert eine Entscheidung.

Ihre Ängs­te began­nen in einer Wald­hüt­te, ihrem gemein­sa­men Wochen­end­do­mi­zil, als sie dort an ihrer Dis­ser­ta­ti­on schrieb. Dahin unter­neh­men bei­de einen Aus­flug. Es ist sein the­ra­peu­ti­scher Vor­stoß, ihr Lei­den durch Aus­lie­fe­rung zu über­win­den. Sie bricht unter dem Druck zusam­men und das geschei­ter­te Dis­ser­ta­ti­ons­the­ma kommt hoch: der Gyno­zid, die Hexen­ver­fol­gung. Schritt­wei­se beginnt sie sich mit die­sen zu iden­ti­fi­zie­ren und stei­gert sich in eine extre­me Psy­cho­se hin­ein. Im Wald tobt der­weil der immer­wäh­ren­de Sturm, alles fällt so auf die Natur zurück. In ihr sieht sie »Satans Kirche«.

Anti­christ ist ein Film über die inne­re Spal­tung des christ­lich-abend­län­di­schen Men­schen und sei­ne Angst in der Natur und vor dem Natür­li­chen. Gedreht wur­de er nicht etwa in der skan­di­na­vi­schen Hei­mat des Regis­seurs Lars von Trier, son­dern in einem Wald­ge­biet im Sieg­tal in Nord­rhein-West­fa­len, in dem Wege nur dün­ne Rinn­sa­le bil­den, in dem es weder Jog­ger gibt noch Rad­fah­rer. Wer Ernst Jün­gers Wald­gang (1951) nicht nur als poli­ti­sches Pro­gramm liest, der wird dar­in etwas Art­ver­wand­tes fin­den. Auch die­sem Werk liegt eine Spal­tung zugrun­de, auch dar­in ist der Kon­trast zwi­schen Natur und Zivi­li­sa­ti­on aus­ge­drückt. Doch wäh­rend Trier sei­ne Prot­ago­nis­tin im Wald und der Natur das Böse schlecht­hin erbli­cken läßt, ist es bei Jün­ger umge­kehrt: Der Wald­gän­ger soll sich von den Fes­seln und der Wesens­fremd­heit der Zivi­li­sa­ti­on durch sei­nen Weg in die Natur befrei­en. Der wesent­lichs­te Antriebs­punkt des Indi­vi­du­ums ist auch bei ihm die Angst, die vor dem »tech­ni­schen Kol­lek­tiv« und sei­nen Wir­kun­gen auf den einzelnen.

Wäh­rend Lars von Trier den Wald als einen den Wahn­sinn kata­ly­sie­ren­den Moloch, einen rie­si­gen Orga­nis­mus mit eige­nem, bösem Wil­len zeigt, lobt Jün­ger den Kraft­quell Natur: »Frei­lich ist kein Zufall, daß alles, was uns mit zeit­li­cher Sor­ge bin­det, sich so gewal­tig zu lösen anfängt, wenn sich der Blick auf Blu­men und Bäu­me wen­det und von ihrem Bann ergrif­fen wird.« Der Wald ist für ihn »Frie­de und Sicher­heit, die jeder in sich trägt.« Der durch die Zivi­li­sa­ti­on von sich selbst ent­frem­de­te Mensch soll aus der Mas­se her­aus­tre­ten und wird im Wald »nach sich selbst gefragt.«

Doch Jün­ger warnt den Aben­teu­rer: »Der Wald ist heim­lich. … Das Heim­li­che ist das Trau­li­che, das wohl­ge­bor­ge­ne Zuhau­se, der Hort der Sicher­heit. Es ist nicht min­der das Ver­bor­gen-Heim­li­che und rückt in die­sem Sin­ne das Unheim­li­che her­an. … In die­sem Lich­te ist der Wald das gro­ße Todes­haus, der Sitz ver­nich­ten­der Gefahr. … Der Wald­gang ist daher in ers­ter Linie Todesgang.«

Bei­de Autoren begeg­nen sich beson­ders dort, wo sie dem Wald – und damit der Natur – nach abend­län­di­scher Tra­di­ti­on eine meta­phy­si­sche Kraft zuspre­chen. Bei Jün­ger heißt es: »Immer und über­all ist hier das Wis­sen, daß in der wech­sel­vol­len Land­schaft Ursit­ze der Kraft ver­bor­gen sind.«

Seit kur­zem gibt es nun einen Schnitt­punkt bei­der Blick­win­kel: Yann Min­gards pho­to­gra­phi­sches Werk Repai­res (mit einem Essay von Phil­lip Prod­ger und einem Nach­wort von Natha­lie Hersch­dor­fer, Ost­fil­dern: Hat­je Cantz Ver­lag 2012. 96 S., 35 €). Optisch zwei­fel­los an Trier geschult, sind auch Jün­gers Über­le­gun­gen dar­in viru­lent. Min­gards Auf­nah­men ver­deut­li­chen, daß der Wald ein­la­dend und fremd zugleich ist, daß also nie­mand mehr orga­nisch mit ihm ver­wach­sen lebt. An die­sem Bruch lei­det Triers Prot­ago­nis­tin eben­so wie Jün­gers Wald­gän­ger: Für bei­de ist er nur das, was sie in ihn hin­ein­le­gen, eine Pro­jek­ti­ons­flä­che also. Kann man den Wald fas­sen? Kann man in ihm authen­tisch sein? Wohl nicht, und so erwach­sen aus die­ser Erkennt­nis Fremd­heit und Trauer.

Min­gards Bild­band ist ein Wald­mu­se­um, eines ohne Roman­tik, ohne Pro­jek­tio­nen. Wie ein Natur­wis­sen­schaft­ler zeigt er das, was der Wald­hü­ter in Joseph Vic­tor von Schef­fels Dich­tung Wald­ein­sam­keit (1889) gera­de noch als sei­nen Lebens- und Schaf­fens­raum bezeich­nen moch­te: »Im Zwie­licht des Mor­gens ent­schreit ich dem Haus / Und rück’ halb­ver­schla­fen als Frei­beu­ter aus, / In hohen Gedan­ken und Stie­feln.« In Schef­fels Werk schwingt der Geist der Zeit nach 1871 mit, in der alles zum Teil des natio­na­len Mythos wur­de. Und wie­der wird der Wald zur Pro­jek­ti­ons­flä­che: »Und nicht ohne Ehr­furcht betre­te ich ihn / Gleich dem, der einer Ver­samm­lung sich naht / Der bes­ten Män­ner des Lan­des.« Doch der forsch Aus­schrei­ten­de weiß es heim­lich in sei­ner Brust: Selbst er lebt nur von Mythen, ist letzt­lich »nicht mehr Wald­mensch von einst.«

Wer vom Wald spricht, soll­te im Prä­ter­itum spre­chen, denn der säku­la­ri­sier­te und pro­fa­ne Forst, der den Wald größ­ten­teils ersetzt hat, ist eine Erfin­dung der Moder­ne und eine urdeut­sche dazu. Der mythi­sche Rest­wald gilt folg­lich als hei­lig und schüt­zens­wert. Er dient als life­sty­le­freie Zone und muß für Welt­ret­tungs­nost­al­gi­en eben­so her­hal­ten wie für Patchwork-Erdungen.

Geo­gra­phisch betrach­tet war der Wald über die längs­te Stre­cke sei­ner Kul­ti­vie­rungs­ge­schich­te das, was im Weg war – sei es dem Bau von Sied­lun­gen, Schie­nen- und Stra­ßen­net­zen, sei es dem Acker­bau, den wach­sen­den Städ­ten und Indus­trie­ge­bie­ten. Im raum­knap­pen Deutsch­land bedeu­te­te Fort­schritt immer Natur­ver­zicht. Des­halb ist auch der Natur­schutz ein deut­scher Gedanke.

Mit der Kul­ti­vie­rung des Wal­des und sei­ner Bewoh­ner kam auch das Chris­ten­tum, und mit ihm die radi­ka­le Sub­jekt-Objekt-Tren­nung beim Zugriff auf den Gegen­stand. Der Druck die­ser bipo­la­ren Welt­sicht und die so ent­stan­de­ne inne­re Spal­tung beding­ten nach Frank Lis­son (Die Ver­ach­tung des Eige­nen. Ursa­chen und Ver­lauf des kul­tu­rel­len Selbst­has­ses in Euro­pa, Schnell­ro­da 2012) den kul­tu­rel­len Auf­stieg des Abend­lan­des. Doch mit die­ser Spal­tung begann auch die lan­ge Ket­te der Ent­frem­dung von der Natur, nicht nur der äuße­ren, son­dern auch der eige­nen, und am Ende die­ser Ent­wick­lung steht bei­spiels­wei­se Lars von Triers Frau­en­fi­gur. Denn was die Ger­ma­nen noch intui­tiv (und eben sub­jek­tiv) in die Natur pro­ji­zier­ten, wur­de mit der Chris­tia­ni­sie­rung Teil des einen Ent­we­der-Oder-Got­tes. Die Natur wur­de fest zwi­schen die Wert­po­le gespannt, objek­ti­viert und damit zum Ort vor allem der dunk­len und irra­tio­na­len Wün­sche, Vor­stel­lun­gen und Triebe.

Ein Film wie Anti­christ ist eines der vie­len Stü­cke, die auf der an sich neu­tra­len Büh­ne des Wal­des gespielt wer­den kön­nen, der Wald­gang ist ein wei­te­res. Mit dem Schwei­zer Pho­to­gra­phen Yann Min­gard läßt sich dage­gen begrei­fen: Der Wald ist über­zeit­lich, ahis­to­risch, apo­li­tisch. Er ist ein­fach nur, er ist die Natur selbst und somit außer­halb der mora­li­schen Kate­go­rien Gut und Böse. Genau­so zeigt Min­gard ihn auch: Grä­ser und Moo­se und Bäu­me und Flech­ten. Aus­ge­stellt, ange­strahlt von Kunst­licht, phä­no­ty­pisch erkannt und ein­ge­ord­net als etwas, das über allem steht und gleich­zei­tig alles fun­diert. Der Wald steht außer­halb aller Wer­tun­gen und ist dadurch der unein­deu­ti­ge Raum, in den wir hin­ein­le­gen, was uns und unse­rer Zeit ent­spricht. Viel­leicht ist es mit dem Wald ein wenig so wie mit dem Wolf, der Bran­den­burg und Sach­sen schon erreicht hat und wei­ter nach Wes­ten vor­dringt. Selt­sam roman­tisch begrü­ßen wir ihn, wäh­rend unse­re Vor­fah­ren ziem­lich unro­man­tisch dafür gesorgt hat­ten, daß er weit im Osten und fern der Gren­zen blieb.

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