Er fragt aber auch nach den Ursachen dafür, warum eine bestimmte Kultur, die nach der von Griechen und Römern geprägten antiken Welt entstand und die er mit einer gewissen Idiosynkrasie die abendländische nennt, eine weltweit einzigartige Dynamik entfaltet hat. Weiter fragt er, warum diese Kultur heute der Vergangenheit angehöre, da sie sich nämlich seiner These nach in eine Zivilisation verwandelt habe. Sein Thema ist, kurz gesagt, der Untergang des Abendlandes im Sinne Oswald Spenglers, mit dessen Denken sich Lisson intensiv auseinandergesetzt hat (Oswald Spengler. Philosoph des Schicksals, Schnellroda 2005). Fürwahr keine Kleinigkeit!
Bereits diese Fragestellungen zeigen, daß Lisson in seiner Kulturphilosophie aufs Ganze geht. Aufs Ganze zu gehen ist das vornehmste Recht der Philosophie, und dieses Recht nimmt Lisson für sich in Anspruch, wenn er als freier Geist im Sinne Nietzsches und Schopenhauers spricht. Lisson versteht sich als Denker außerhalb des akademischen juste milieu, in dem man allzumeist nicht aufs Ganze blickt, sondern auf das Detail, die Reputation und die Drittmittelanschlußfähigkeit – und alles meist im Rahmen einer wie auch immer näher zu bestimmenden politischen Korrektheit. Damit knüpft Lisson ebenso wie mit seiner Diagnose, wir lebten heute »nach den Kulturen«, an seinen kulturphilosophischen Entwurf Homo Absolutus (2008) an. Während aber dieses Buch eine eher kaleidoskopische Form hat und aus teils längeren »Aphorismen« im Stile Nietzsches besteht, unternimmt Lisson nun in Die Verachtung des Eigenen den Versuch einer systematischeren Analyse und bietet eine Erzählung davon, wie es zu dem so eigenartigen Selbsthaß kommen konnte, der seiner Meinung nach unsere nachkulturelle Welt präge.
Aus dem philosophischen Interesse am freien Denken heraus verweigert sich Lissons Kulturkritik auch einer gegenläufigen Dogmatisierung, die auf eine politische Korrektheit von rechts hinauslaufen würde. Nun könnte man meinen, daß eine solche nach Lage der Dinge ohnehin nicht zu erwarten ist – doch eine solche rechte politische Korrektheit wäre Lisson, das darf man wohl sagen, im letzten ebenso zuwider wie eine linke Hegemonie. Lisson will und sucht den geistigen Streit um das Wesentliche – zu Recht, weil Auseinandersetzung und radikale Kritik in der Sache selbst ein Prinzip abendländischer Geistigkeit darstellen.
Weil es Lisson um die großen Zusammenhänge geht und die Darstellung des kulturellen Selbsthasses zugleich auch eine Wertung einschließt, ist jede Kritik seiner Darstellung vor ein großes Problem gestellt. Denn einerseits könnte sie sich daranmachen, im Detail zu zeigen, was an der Analyse stimmt und was nicht; sie könnte andererseits aber auch das Hauptaugenmerk darauf legen, ob die Analysen Lissons im großen und ganzen stimmig sind. Zuletzt wird man aber auch fragen müssen, ob man den Wertungen Lissons, die teils implizit und teils explizit vorgetragen werden, zustimmen kann oder soll. Es ist an diesem Punkt, daß sich die Geister scheiden werden – und darin liegt der Hauptwert des Buches von Lisson.
Jede Analyse des Abendlandes und seines Schicksals kommt nicht umhin, die Diagnose Nietzsches ernst zu nehmen, die einen engen Zusammenhang von Abendland, Tod Gottes und Nihilismus erkannte oder herstellte. Wie etwa Carlo Gentili herausgearbeitet hat, sind für Nietzsche abendländische Tradition und Nihilismus im Grunde Synonyme (Nietzsches Kulturkritik zwischen Philologie und Philosophie, Basel 2010, S. 204). Daraus folgen auch für Lisson entscheidende Weichenstellungen im Denken: Weil auch das Christentum als essentieller Bestandteil des sogenannten Abendlandes in letzter Instanz mit dem Nihilismus im Sinne Nietzsches in eins fällt, kann die Krise des Abendlandes auch nicht durch einen Sprung zurück ins Christentum behoben oder abgewendet werden. Der Untergang des Abendlandes, den Nietzsches »Schüler« Spengler und mit ihm Frank Lisson diagnostiziert, ist in dieser Perspektive eine Tatsache, an der es nichts zu deuteln und im Grunde auch nichts zu ändern gibt. Er ist nämlich nicht nur eine Tatsache unter anderen, sondern unabwendbares Schicksal.
Insofern es gute Gründe gibt, dieser Diagnose zuzustimmen, wird man die Stärke der in Lissons Buch entfalteten Position zugestehen müssen: Lisson sieht die Realität eines Selbsthasses, der ein Indiz für Dekadenz ist, und er macht sich keine Illusionen über Sinn und Möglichkeit einer Restitution des »Abendlandes«, ob nun halbherzig oder in voller Überzeugung angestrebt. Lisson bietet insofern eine philosophisch radikale, keine konservative Deutung der Dekadenz: Weil das Abendland selbst seinen Untergang hervorgebracht hat, lokalisiert Lisson auch den kulturellen Selbsthaß im Kern des Abendlandes selbst, nämlich im Christentum, das indes selbst wieder als eine Fortentwicklung des Platonismus verstanden werden könne (S. 56). Für die Entstehung des kulturellen Selbsthasses hält Lisson die Gewissensbildung für zentral, denn es gebe einen Zusammenhang von Gewissensbildung und Selbstverachtung. Wie dem auch sei: Für Lisson stehen Vernunft und Kultur in einem Verhältnis der Feindschaft, weil Vernunft seiner Meinung nach eine grundsätzlich zersetzende Kraft hat – die kulturauflösende Wirkung der Vernunft. Hier wird man zurückfragen müssen, was für eine Vernunft Lisson meint, denn das zersetzende (»analytische«) Prinzip eignet nur einer sich selbst mißverstehenden Vernunft, nicht schon der Vernunft an sich.
Es kann bei einem so engagierten Text, der mit hohem Einsatz das freie Denken praktiziert, nicht ausbleiben, daß es im Großen wie im Kleinen Anlaß zum Widerspruch gibt. So etwa goutiert Martin Lichtmesz die kritische Wertung des Christentums bei Lisson nicht und entdeckt zudem einen »destruktiven Zug« in dessen Denken, dem er in der Konsequenz eine zumindest implizite Nähe zu einem »Nihilismus Cioranscher Prägung« vorwirft (Junge Freiheit vom 16. März 2012). Das aber müßte nicht mehr besagen, als daß Lisson eben keine beruhigende Pille als Mittel gegen die Dekadenz unserer Zeit anbietet. Und soviel ist wahr: Lisson ist zweifellos kein Konservativer. Denn auch wenn Lisson die »Verachtung des Eigenen« als ein entscheidendes Problem unserer Zeit begreift, geht aus seinem Buch letztlich auch hervor, daß das »Eigene« selbst ebenso problematisch und zu unbestimmt ist, um gegen den sich faktisch vollziehenden Kulturverlust noch in Stellung gebracht werden zu können. Dieser Punkt aber läßt die bei Lisson zu beobachtende polemische Stoßrichtung zweischneidig erscheinen: Denn wenn das Eigene selbst mit mehr oder weniger Notwendigkeit den Selbsthaß hervorbringt, den Lisson als kulturelle Pathologie diagnostiziert, ist eigentlich nicht recht zu verstehen, warum man überhaupt gesteigerten Wert auf das Eigene legen sollte. Warum es nicht drangeben, wenn man damit auch den Selbsthaß loswerden könnte? So ist in Lissons Sicht nicht nachvollziehbar, wie überhaupt irgend etwas Substantielles der Verfallsgeschichte des Abendlandes entgegengesetzt werden kann.
Das aber heißt im letzten, daß die Kulturkritik Lissons nur die behauptete Substanzlosigkeit des Abendlandes im Medium der Reflexion wiederholt – sie ist ebenso unfruchtbar wie das längst drangegebene Eigene. So behauptet Lisson etwa, das Abendland habe keine eigene Identität besessen, weil es an der Nabelschnur der Antike hing. Doch setzt diese Kritik eine Vorstellung von »Identität« und »Eigenem« voraus, die diese nur als Phänomene der Abgrenzung oder der Abhängigkeit vom anderen, nicht aber der produktiven Aneignung und Zusammensetzung von Fremdem begreift. Das Eigene des Abendlandes ist aber nicht deshalb problematisch, weil es antike Quellen hat; man kann sogar sagen, daß das Abendland eben dadurch seine Identität erlangte, daß es diejenigen kulturellen Systeme, die mit den Chiffren »Athen« und »Jerusalem« bezeichnet sind, in eine bis heute fortwirkende produktive Spannung gebracht, sie sich also produktiv angeeignet hat. Leo Strauss hat sogar in dieser grundsätzlich nicht aufhebbaren Spannung, die zwischen den großen Entwürfen der philosophischen Vernunft und des religiösen Offenbarungsglaubens besteht, das Geheimnis der außerordentlichen Vitalität des Abendlandes erblickt. Ob diese Kultur ohne diese Spannung zu den Höchstleistungen in der Lage gewesen wäre, die wir heute mit dem Abendland verbinden, kann man füglich bezweifeln.
Daß Lissons Kulturkritik entgegen einem an manchen Stellen spürbaren Pathos der analytischen Distanz normativ aufgeladen ist, wird etwa dort deutlich, wo er seinem eigenen Konzept des Abendlandes entgegenlaufende Phänomene schlicht aus dem »eigentlichen« Abendland ausgrenzt – und damit auch notwendigerweise eine Verzerrung des Analysegegenstandes selbst in Kauf nimmt. Schon im antiken Denken liegt eine Einsicht vor, die man als Kritik des Eigenen im Lichte des Guten verstehen kann. Es war hier indes noch nicht von endemischen Selbstzweifeln die Rede, die sich in einen kulturellen Selbsthaß verwandelt hätten. Dennoch liegt hier der Keim für die intransigente Selbstbefragung einer Kultur oder auch Nachkultur, der sich auch Lisson selbst noch zugehörig empfinden dürfte; denn sein Buch hat selbst die Intensität, aus der sich auch der kulturelle Selbsthaß speist.
Wie die Rede vom Selbsthaß schon nahelegt, beruht Lissons Methode stark auf psychologischen Begriffen, die zudem changierend auf Individuen und auf Kollektive oder gar übergreifende geschichtliche Phänomene wie das Abendland überhaupt angewandt werden. Das ist, wie man wohl sagen muß, methodisch bedenklich, aber es kann nicht darum gehen, Lissons ernste Anfragen durch Methodenkritik zu neutralisieren. Aber wenn Selbsthaß in der Gegenwart ein vorwiegend deutsches Phänomen ist, das sich zudem protestantischen Wurzeln verdankt, ist damit noch nicht das ganze Abendland drangegeben. Es bleibt bei Lisson aufgrund seiner eigenen Voraussetzungen unklar, was nun mit Abendland gemeint ist und worin die Quellen des Selbsthasses genau liegen, da dieser tatsächlich in den einzelnen Ländern des Westens sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Lissons Analyse des kulturellen Selbsthasses müßte soziologisch präzisiert werden im Hinblick auf die tatsächlichen Träger dieser skurrilen Mentalität, die zwar eine hohe mediale Präsenz genießen, deren tatsächlich elitäre Ideen aber möglicherweise weniger beherrschend sind, als Lisson unterstellt.
Jenseits der Stichhaltigkeit und der Berechtigung der Analysen Lissons im einzelnen ist der Wert seines Buches erheblich, weil es den (nicht in jeder Hinsicht erfolgreichen) Versuch unternimmt, über die Misere unserer Gesellschaft auf einem angemessen hohen Niveau nachzudenken. Oswald Spenglers bekannter Satz »Man will nur noch denken, was man wollen soll, und eben das empfindet man als seine Freiheit« hat nichts von seiner Aktualität verloren. Lisson aber will nicht nur denken, was man wollen soll. Und wenn man als sein Leser nicht möchte, daß »das große Schweigen«, von dem Spengler einst sprach, das letzte paradoxe »Wort« unserer gegenwärtigen Gesellschaft bleibt, wird man hoffen müssen, daß Lissons Text Anstoß erregen wird. Denn aus einem solchen Anstoß kann die notwendige Klärung der Gedanken folgen, was das Eigene ist, dessen Erhaltung uns wert ist und wert sein soll. Lisson selbst zeigt in seinen ästhetischen Reaktionen, daß auch ihm an manchen Kulturleistungen des Abendlandes gelegen ist; so etwa wenn er die »Ungeheuerlichkeit« der Vernichtung von historischer Bausubstanz in den 1950er und 1960er Jahren kritisiert, die aber natürlich nur dann eine Ungeheuerlichkeit ist, wenn man die Normativität der abendländischen Ästhetik und des Sinns für Geschichte akzeptiert, Voraussetzungen, die Lisson als freier, bindungsloser Geist aber konsequenterweise gar nicht akzeptieren kann.
Er unterschätzt die Bedeutung eines Freiheitsbegriffs, wie er in der Geschichte des Abendlandes entwickelt wurde und der eben nicht mit Bindungslosigkeit identisch ist. Lisson verknüpft aber drei Konzepte in einer Weise, die zu einem im wesentlichen apolitischen Freiheitsbegriff führen, wenn er zunächst Heimatlosigkeit als Weltschicksal apostrophiert und sich dazu ausgerechnet auf Ernst Bloch bezieht. An dieser Stelle markiert Lisson unmißverständlich seine Distanz zu dem, was man das Prinzip Antaios nennen könnte (S. 138), nämlich das Recht und die Notwendigkeit der Verwurzelung und der Beheimatung, des Ansiedelns (»settling« im Sinne von Roger Scruton). Die Argumentationskette geht dann so, daß nur Heimatlosigkeit echte Einsamkeit ermöglicht, die Lisson beide positiv besetzt; und es ist dann diese Einsamkeit, die ihm als Grundlage der Erfahrung echter Freiheit gilt (S. 139): »Nur wer weitgehend ohne Bindungen lebt, versteht es im philosophischen Sinne frei zu sein.«
Diese an den Homo Absolutus erinnernde Schlußfolgerung aber, so wird man Lisson entgegenhalten müssen, ist weit mehr ein Teil des Problems als irgendeiner Lösung. Denn es ist ja gerade die Heimatlosigkeit als Weltprinzip, mittels dessen die unverantwortliche Hypostasierung der Migration zur wünschenswerten conditio humana gemacht wurde. Die Attitüde der Schicksalhaftigkeit des Geschehens, die Lissons Kulturkritik prägt, ist im letzten irritierend, denn ein Wissen von dieser Schicksalhaftigkeit kann es nicht geben. Auch ist es keineswegs ausgemacht, daß Zivilisation das unausweichliche Schicksal der Kultur ist.
Anders gesagt: Lisson trifft etwas Richtiges, wenn er die Existenz eines kulturellen Selbsthasses diagnostiziert; aber mir scheint, daß es für das Abendland, oder was davon noch übriggeblieben ist, ein viel größeres Problem als diesen Selbsthaß gibt, ein Problem, das mit dem »letzten Menschen« Zarathustra-Nietzsches emblematisch verbunden ist – es ist die schier unerträgliche Selbstzufriedenheit und das Umlügen der Realität sozialer und politischer Verwerfungen, beispielsweise in multikulturelle Buntheit. Kulturelle Selbstzufriedenheit, Selbstgenügsamkeit und Selbstbetäubung mit einem Lüstchen für den Tag und einem Lüstchen für die Nacht sind viel dominanter als Selbsthaß – es muß daher darüber nachgedacht werden, wie ein Eigenes beschaffen sein müßte, an das ein vitales Interesse an Selbsterhaltung jenseits von Selbsthaß und Selbstgenügsamkeit anknüpfen könnte.