Schwierige Lektüre? Eine Replik

49pdf der Druckfassung aus Sezession 49 / August 2012

von Frank Lisson

Wenn ein Autor in seinen Werken dermaßen mißverstanden wird, wie es mir sowohl mit dem Homo Absolutus als auch – und noch mehr – mit der Verachtung des Eigenen bisher erging, muß er sich fragen, woran das liegt: Hat er es nicht vermocht, seine Stoffe dem Leser verständlich zu machen – oder ist der Leser nur nicht bereit, auf die Stoffe einzugehen, weil er gar nicht liest, was dort steht, sondern bloß, was er lesen will?

Daß letz­te­res durch­aus und nicht eben sel­ten vor­kommt, zeigt ein ver­mes­se­ner Blick auf die Rezep­ti­ons­ge­schich­te eini­ger der­je­ni­gen Phi­lo­so­phen, zu denen ich eine gewis­se geis­ti­ge Nähe emp­fin­de; man ver­zei­he mir die Unbe­schei­den­heit die­ses Ver­gleichs: Mon­tai­gne wur­de als Skep­ti­ker erst im 18. Jahr­hun­dert wahr­ge­nom­men, La Mettrie blieb wegen sei­nes Mate­ria­lis­mus über ein Jahr­hun­dert lang ver­ket­zert und unge­le­sen, Stir­ner galt lan­ge als Anar­chist, Kierke­gaard bloß als christ­li­cher Schrift­stel­ler, bis man ihn knapp hun­dert Jah­re nach sei­nem Tod end­lich »exis­ten­tia­lis­tisch« zu lesen begann, bei Scho­pen­hau­er wit­ter­te man lan­ge »dilet­tan­ti­sche Will­kür« und in Nietz­sche woll­te man bis 1890 nur den Schü­ler Scho­pen­hau­ers mit »extrem aris­to­kra­ti­schen Ansich­ten« sehen, der »über­haupt die Sitt­lich­keit« leug­ne; von Speng­ler, der sei­nen Erfolg bis heu­te vor allem einem gro­ßen Miß­ver­ständ­nis zu ver­dan­ken hat, ganz zu schwei­gen – sie alle wur­den kaum oder erst sehr spät gele­sen, vor­schnell abge­ur­teilt oder auf ein bis zwei Begrif­fe reduziert.

Wie die Rezen­si­on von Till Kin­zel ein­mal mehr zeigt, scheint es unmög­lich zu sein, aus dem Schat­ten der Gro­ßen her­aus­zu­tre­ten, sofern man mit Ter­mi­ni ope­riert, die von die­sen eben­falls benutzt wur­den. Dabei wirkt die Sug­ges­ti­on sol­cher Schlag­wor­te offen­bar der­art, daß sie den Blick auf eben jene Begrif­fe ver­engt, selbst wenn die­se im behan­del­ten Text gar nicht vor­kom­men! So ist bei Kin­zel immer wie­der von »Unter­gang«, »Deka­denz«, »Schick­sal« zu lesen – Begrif­fe, die man in mei­nem Buch ent­we­der gar nicht (Deka­denz) oder kaum, und wenn, in einem ande­ren Kon­text findet.

Ange­sichts der zahl­rei­chen und hete­ro­ge­nen Aspek­te (sie­he abge­druck­tes Inhalts­ver­zeich­nis), die ich in Die Ver­ach­tung des Eige­nen zur Erklä­rung des Phä­no­mens in einen Zusam­men­hang zu brin­gen ver­su­che, wun­dert mich die Reduk­ti­on auf ein paar Reiz­the­men, wodurch sämt­li­che Fein­hei­ten, von denen das Buch lebt, ver­deckt blei­ben. Da wer­den aus einem gro­ßen Mosa­ik drei, vier Stein­chen her­aus­ge­nom­men, die man schon ein­mal in einem ande­ren Bild gese­hen hat, und in eben jenen gewohn­ten Kon­text gestellt. Man schließt also anhand die­ser Stein­chen auf das bereits bekann­te Bild, das man in sich trägt, obwohl die Stein­chen als Bestand­tei­le eines neu­en Mosa­iks etwas ganz ande­res dar­stel­len. Somit ent­geht dem Betrach­ter die Ima­gi­na­ti­on des Gan­zen, da sein Blick an ein­zel­nen Stein­chen hän­gen­bleibt. Hier also der Ver­such einer Klar­stel­lung im ein­zel­nen und der Rei­he nach:

Ent­ge­gen der Les­art Kin­zels fra­ge ich nicht »nach den Ursa­chen des Unter­gangs einer Kul­tur« (das habe ich im Homo Abso­lu­tus und an ande­rer Stel­le getan), und schon gar nicht ist mein The­ma »der Unter­gang des Abend­lan­des im Sin­ne Speng­lers«, son­dern ich for­sche nach den Ursa­chen des kul­tu­rel­len Selbst­has­ses und gehe der Fra­ge nach, wodurch sich die Kul­tur des Abend­lan­des erschöpft hat und an sich selbst ermü­de­te. Das ist durch­aus etwas anderes!

Über­haupt gleicht mei­ne Fra­ge­stel­lung nicht der Speng­lers, denn ich begrei­fe Kul­tu­ren kei­nes­wegs als abge­schlos­se­ne Räu­me, auch nicht in irgend­ei­ner Wei­se als sta­tisch, son­dern als Aus­drucks­for­men bestimm­ter »Zustän­de« oder »Befind­lich­kei­ten«, in die sich Ver­bän­de hin­ein- und eben auch wie­der her­aus­ent­wi­ckeln, also als »Höhe­punk­te« evo­lu­tio­nä­rer Muta­ti­ons­pro­zes­se, die sich weder künst­lich her­stel­len noch kon­ser­vie­ren las­sen. Des­halb ist der Begriff des »Unter­gangs«, den auch Speng­ler ja nie so gemeint hat, auf Kul­tu­ren bezo­gen, im Grun­de völ­lig unan­ge­bracht, wes­we­gen ich lie­ber von »Abschied« spre­che, wenn ein Zustand in einen ande­ren über­geht. Ein Abschied, nach dem das Ver­ab­schie­de­te in Erin­ne­rung bleibt, dort eine not­wen­di­ge Wand­lung voll­zieht und ent­we­der zur »Sehn­sucht« führt oder zur »Nost­al­gie«. Das eine ist die »kul­tu­rel­le« Ver­ar­bei­tung, das ande­re die »zivi­li­sa­to­ri­sche«.

Das Abend­land unter­schei­det sich von allen vor­an­ge­gan­ge­nen Zustän­den mei­nes Erach­tens dadurch, daß es zum ersten­mal Men­schen her­vor­brach­te, die sich als Schöp­fer ihrer selbst emp­fan­den und dadurch einen Frei­heits­be­griff ent­war­fen, der die Ent­wick­lung der Kul­tur glei­cher­ma­ßen pro­duk­tiv wie ver­häng­nis­voll vor­an­trieb. Denn das Abend­land cha­rak­te­ri­siert ein beson­de­res Bil­dungs­er­leb­nis, das gewal­ti­ge Prä­ge­kräf­te ent­hielt, Anschau­un­gen ver­schob und neue Wer­te setz­te, näm­lich durch die »Erfin­dung des Indi­vi­du­ums« auf der Grund­la­ge der »Wil­lens­frei­heit«. Des­halb ver­le­ge ich die Epo­che des Abend­lan­des in den Zeit­raum zwi­schen 1450 und 1950, in dem eben jenes Bil­dungs­er­leb­nis statt­fand. Die Anti­ke gehört sowe­nig dazu wie das christ­li­che Mit­tel­al­ter, weil dort jeweils ande­re Zustän­de herrsch­ten, ande­re Wer­te nor­ma­tiv waren und der Mensch sich noch nicht als »unge­bun­de­nes Sub­jekt« emp­fand. Erst der Huma­nis­mus hat das Spe­zi­fi­sche des abend­län­di­schen Men­schen her­vor­ge­bracht. Weil aber die über­höh­ten Erwar­tun­gen, die mit die­sem aus der »Hoch­kul­tur« erwach­se­nen Zustand ver­bun­den waren, schließ­lich ent­täuscht wur­den, begann der Kul­tur­mensch die Kul­tur und damit sich selbst zu ver­ach­ten. Denn »Kul­tur kann miß­lin­gen. Und zwar dann, wenn die ›Ver­spre­chen‹, die sie impli­ziert, nicht erfüllt wer­den« (S. 11).

Des wei­te­ren schreibt Kin­zel, daß der kul­tu­rel­le Selbst­haß mei­ner »Mei­nung nach unse­re nach­kul­tu­rel­le Welt prä­ge.« Das ist falsch! Denn ich ver­su­che doch im Gegen­teil zu erläu­tern, wie sehr der kul­tu­rel­le Selbst­haß ein Pro­dukt der Kul­tur war; mit Schwin­den des kul­tu­rel­len Bewußt­seins wird auch das Phä­no­men des kul­tu­rel­len Selbst­has­ses ver­schwin­den. Wir erken­nen das etwa dar­an, daß die meis­ten Men­schen in Deutsch­land und Euro­pa die­ses Phä­no­men nicht ein­mal wahr­neh­men, obwohl es sich täg­lich in poli­ti­schen Hand­lun­gen zeigt. Was wir heu­te erle­ben, ist der Höhe­punkt die­ses Selbst­has­ses am Ende einer Epo­che, der des­halb von man­chen so stark emp­fun­den wird, weil er sich seit 1950 mehr und mehr nach innen und nicht mehr nach außen rich­tet. Die­ser Haß, der den Men­schen die Lust am Eige­nen aus­treibt, ebnet den Weg in den neu­en Zustand der »Zivi­li­sa­ti­on«. Denn »Zivi­li­sa­ti­on bedeu­tet die Ent­las­tung von Kul­tur« (S. 13). Und zwar eben des­halb, weil Kul­tur, also der Zustand geleb­ter Dif­fe­renz, für die Schre­cken des 20. Jahr­hun­derts ver­ant­wort­lich gemacht wird.

Fer­ner lesen wir, bei mir befän­den sich »Ver­nunft und Kul­tur in einem Ver­hält­nis der Feind­schaft, weil Ver­nunft« mei­ner Mei­nung nach »eine grund­sätz­lich zer­set­zen­de Kraft hat – die kul­tur­auf­lö­sen­de Wir­kung der Ver­nunft.« Das ist eine selt­sa­me Fehl­in­ter­pre­ta­ti­on. Denn ich unter­schei­de deut­lich zwi­schen einer »wis­sen­schaft­lich-ratio­na­len« und einer »ethisch-phi­lo­so­phi­schen« Ver­nunft (S. 174), wor­aus der spe­zi­fisch abend­län­di­sche Kon­flikt ent­stand: »Die­ser stän­di­ge Zwie­spalt zwi­schen Wol­len und Sol­len, Trieb und Moral för­der­te die euro­päi­sche Unru­he, Streit­lust und inne­re Anspan­nung« (S. 104). Dadurch stan­den sich im Abend­land meh­re­re »Wahr­hei­ten« gegen­über, weil man sich erst noch auf dem Weg hin zu einer all­ge­mei­nen Ver­nunft befand, die die­sem kul­tur­för­dern­den Kon­flikt not­wen­dig fehl­te. »Des­halb kann von einem post­kul­tu­rel­len Zeit­al­ter gespro­chen wer­den, sobald sich eine all­ge­mein­gül­ti­ge Wahr­heit glo­bal unter allen Men­schen durch­setzt. Denn wo über­all das glei­che gilt, ist das Wesen von Kul­tur auf­ge­ho­ben. – Ergo: Ver­nunft ver­nich­tet Kul­tur« (174f.).

Und es ist auch nicht das Eige­ne, das »mit mehr oder weni­ger Not­wen­dig­keit den Selbst­haß her­vor­bringt«, son­dern die Ent­täu­schung über das Ver­sa­gen vor den Ansprü­chen, die vom Eige­nen aus­gin­gen, was aus der Per­spek­ti­ve eines auf­ge­klär­ten Fort­schritts­op­ti­mis­mus ein Schei­tern an der Kul­tur selbst bedeu­te­te. Zumal die­ses Eige­ne aus der eklek­ti­zis­ti­schen Aneig­nung der Wert­vor­stel­lung zwei­er adop­tier­ter Kul­tu­ren bestand, der grie­chisch-römi­schen Anti­ke und der des mosai­schen Glau­bens. Hier­in liegt viel­leicht der gewag­tes­te und hei­kels­te Gedan­ke, näm­lich, daß das Abend­land unter die­ser feh­len­den Kon­ti­nui­tät gelit­ten habe, die stets nur eine kon­stru­ier­te war, man aber immer das Kind zwei­er »frem­der Eltern« blieb, moch­te man sich auch noch so gut in ihrer Obhut auf­ge­ho­ben fühlen.

Nun erweckt Kin­zel mit sei­nem Ver­weis auf Leo Strauss den Ein­druck, als ver­kenn­te ich die Bedeu­tung einer Iden­ti­tät, die sich als »pro­duk­ti­ve Aneig­nung und Zusam­men­set­zung von Frem­dem begreift.« Dabei ist doch der Kon­flikt, der sich aus »die­ser grund­sätz­lich nicht auf­heb­ba­ren Span­nung« ergab und wor­in das »Geheim­nis der außer­or­dent­li­chen Vita­li­tät des Abend­lan­des« bestand, genau das Grund­the­ma mei­nes Buches! Nicht nur Abschnit­te wie »Von der Frucht­bar­keit frem­den Wis­sens« (S. 39–42), son­dern auch die Ein­lei­tung und bald der gesam­te übri­ge Text sind von dem Ver­such einer Ana­ly­se eben die­ser Span­nung geprägt, wor­in ich doch gera­de Ursa­che und Patho­ge­ne­se des kul­tu­rel­len Selbst­has­ses erblicke!

Fer­ner wird ver­mu­tet, mir sei nur »an man­chen Kul­tur­leis­tun­gen des Abend­lan­des gele­gen.« – Ja, ist denn der weh­mü­tig-melan­cho­li­sche Ton, der alle Beschrei­bun­gen eben die­ser Kul­tur­leis­tun­gen durch­weht, völ­lig über­hört worden?

Auch han­delt es sich um ein gro­bes Miß­ver­ständ­nis, wenn behaup­tet wird, daß »Hei­mat­lo­sig­keit« und »Ein­sam­keit« bei mir »posi­tiv besetzt« sei­en, nur weil ich an die lan­ge Tra­di­ti­on einer beson­ders unter anti­ken und abend­län­di­schen Phi­lo­so­phen weit­ver­brei­te­ten Mei­nung erin­ne­re, wonach man allein über bin­dungs­lo­se Ein­sam­keit zur »Frei­heit« im phi­lo­so­phi­schen Sin­ne gelan­gen könne.

Und wo »mar­kie­re« ich »unmiß­ver­ständ­lich« mei­ne »Distanz« zum »Prin­zip An­taios«, da ich die­ses doch »ein schö­nes Bild« nen­ne und mit Heid­eg­ger für die Suche nach einem neu­en Hei­mat­be­griff unter den Bedin­gun­gen der Welt­zi­vi­li­sa­ti­on argu­men­tie­re (S. 137–140)?

Son­der­bar ver­fehlt auch der letz­te Abschnitt, in dem von einem phi­lo­so­phi­schen Ergrün­dungs­ver­such Lösungs­vor­schlä­ge erwar­tet wer­den. Und dann der Hin­weis auf das, wonach, laut Kin­zel, drin­gen­der zu fra­gen gewe­sen wäre; wenn sich jemand Gedan­ken über Gestalt, Auf­bau und Bewe­gung des Son­nen­sys­tems gemacht hat, kann man ihm doch nicht damit begeg­nen, daß das Pro­blem der Gra­vi­ta­ti­on auf der Erde aber wich­ti­ger sei.

Was ich also am Wei­ter­den­ken Till Kin­zels, bei allem Respekt, kri­ti­sie­ren muß, ist der Man­gel an Syn­op­tik. Ohne die Bereit­schaft, das Gan­ze des Tex­tes bei des­sen Beur­tei­lung zu berück­sich­ti­gen, bleibt der Zugang zum Phä­no­men not­wen­dig ver­schlos­sen. Denn Wesent­li­ches mei­ner Cha­rak­te­ris­tik des Abend­lan­des, das für den Ver­lauf des kul­tu­rel­len Selbst­has­ses ele­men­tar ist, wur­de völ­lig außer acht gelas­sen: so etwa die enor­me Wir­kung, die von der Indi­vi­dua­ti­on und dem damit ver­bun­de­nen Anspruch aus­ging, ein Ich zu ver­kör­pern; sodann die beson­de­re Stel­lung, die Lie­be, Sexua­li­tät und das Geschlech­ter­ver­hält­nis im Abend­land ein­nah­men, wor­in ich eine ganz ent­schei­den­de Trieb­kraft bei der Gene­se des kul­tu­rel­len Selbst­has­ses zu erken­nen glau­be. Über­haupt ist der gesam­te kör­per­li­che Kom­plex gänz­lich unbe­ach­tet geblie­ben, obwohl die Leib­erfah­rung des abend­län­di­schen Men­schen von höchs­ter Bedeu­tung für die Ent­ste­hung der Selbst­ver­ach­tung ist, die natür­lich eng mit den Sün­den­vor­stel­lun­gen der Kir­che zusam­men­hängt, wel­che wie­der­um für jene Ver­stö­run­gen sorg­ten, die das Chris­ten­tum bei einem Groß­teil der abend­län­di­schen Intel­li­genz aus­lös­te. Auch spielt die sozia­le Funk­ti­on des staat­lich insze­nier­ten Haß­ob­jek­tes eine gewich­ti­ge Rol­le. Fer­ner ist der kul­tu­rel­le Selbst­haß kaum ver­ständ­lich ohne Berück­sich­ti­gung des »tra­gi­schen Bewußt­seins«, das sich vor allem aus der Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Alter­tum und der anti­ken Tra­gö­die ergab.

All die­se Aspek­te blie­ben uner­wähnt. – War­um? Viel zu oft wird aus Büchern allein das her­aus­ge­le­sen, wonach der jewei­li­ge Betrach­ter sucht. So kommt es immer wie­der zur mund­ge­rech­ten Zer­klei­ne­rung äußerst kom­ple­xer Sach­ver­hal­te, die zuletzt dazu führt, daß einem Autor zwei, drei Begrif­fe umge­hängt wer­den, die er dann nie mehr abschüt­teln kann. Nietz­sche, der Ver­kün­der des »Todes Got­tes«, Speng­ler, der Pro­phet des »Unter­gangs«, und auch Fuku­ya­mas »Ende der Geschich­te« wer­den gern all­zu wört­lich genom­men, ohne daß dabei ermes­sen wür­de, was sich alles hin­ter die­sen For­meln ver­birgt, die der Autor zumeist nicht ein­mal absichts­voll, son­dern mehr aus Ver­se­hen in die Welt gesetzt hat.

Ich hoff­te, der »Haupt­wert des Buches« bestün­de nicht allein dar­in, daß die »Geis­ter sich dar­an schei­den wer­den«, wie Kin­zel schreibt, son­dern im Reich­tum der vie­len klei­nen Beob­ach­tun­gen, die so viel­leicht noch kaum jemand gemacht hat, sowie in der Dar­stel­lung gewis­ser Zusam­men­hän­ge, wie sie so viel­leicht noch kaum gese­hen wur­den. Denn tat­säch­lich geht es mir um das »Gan­ze«. Ich will ver­ste­hen, was die­ses wun­der­ba­re Phä­no­men Abend­land, das der Welt fast fünf­hun­dert Jah­re lang sei­nen Stem­pel auf­drück­te, eigent­lich war. Dies hal­te ich für not­wen­dig, um die Gegen­wart begrei­fen zu kön­nen. Kul­tu­rel­le Phä­no­me­ne sind jedoch nicht ohne wei­te­res erklär­bar; sie set­zen einen bestimm­ten Grad an Empa­thie vor­aus: »Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erja­gen« (Goe­the). Das macht den rein wis­sen­schaft­li­chen Umgang mit seis­mo­gra­phi­schen Büchern so schwie­rig und ver­lei­tet dazu, sie auf bestimm­te Begrif­fe brin­gen zu wol­len, von denen der poli­ti­sche viel­leicht der unglück­lichs­te ist.

So lese man denn auch Die Ver­ach­tung des Eige­nen als eine Erzäh­lung der impo­san­ten Tra­gö­die »Abend­land«, von der man kei­ne Patent­re­zep­te erwar­ten darf, son­dern nur Inspi­ra­ti­on, Anre­gun­gen, geis­ti­ges Mate­ri­al zum Sel­ber­den­ken – was das Prin­zip aller ambi­tio­nier­ten Phi­lo­so­phie stets war und immer sein sollte.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)

Für diesen Beitrag ist die Diskussion geschlossen.