Daß letzteres durchaus und nicht eben selten vorkommt, zeigt ein vermessener Blick auf die Rezeptionsgeschichte einiger derjenigen Philosophen, zu denen ich eine gewisse geistige Nähe empfinde; man verzeihe mir die Unbescheidenheit dieses Vergleichs: Montaigne wurde als Skeptiker erst im 18. Jahrhundert wahrgenommen, La Mettrie blieb wegen seines Materialismus über ein Jahrhundert lang verketzert und ungelesen, Stirner galt lange als Anarchist, Kierkegaard bloß als christlicher Schriftsteller, bis man ihn knapp hundert Jahre nach seinem Tod endlich »existentialistisch« zu lesen begann, bei Schopenhauer witterte man lange »dilettantische Willkür« und in Nietzsche wollte man bis 1890 nur den Schüler Schopenhauers mit »extrem aristokratischen Ansichten« sehen, der »überhaupt die Sittlichkeit« leugne; von Spengler, der seinen Erfolg bis heute vor allem einem großen Mißverständnis zu verdanken hat, ganz zu schweigen – sie alle wurden kaum oder erst sehr spät gelesen, vorschnell abgeurteilt oder auf ein bis zwei Begriffe reduziert.
Wie die Rezension von Till Kinzel einmal mehr zeigt, scheint es unmöglich zu sein, aus dem Schatten der Großen herauszutreten, sofern man mit Termini operiert, die von diesen ebenfalls benutzt wurden. Dabei wirkt die Suggestion solcher Schlagworte offenbar derart, daß sie den Blick auf eben jene Begriffe verengt, selbst wenn diese im behandelten Text gar nicht vorkommen! So ist bei Kinzel immer wieder von »Untergang«, »Dekadenz«, »Schicksal« zu lesen – Begriffe, die man in meinem Buch entweder gar nicht (Dekadenz) oder kaum, und wenn, in einem anderen Kontext findet.
Angesichts der zahlreichen und heterogenen Aspekte (siehe abgedrucktes Inhaltsverzeichnis), die ich in Die Verachtung des Eigenen zur Erklärung des Phänomens in einen Zusammenhang zu bringen versuche, wundert mich die Reduktion auf ein paar Reizthemen, wodurch sämtliche Feinheiten, von denen das Buch lebt, verdeckt bleiben. Da werden aus einem großen Mosaik drei, vier Steinchen herausgenommen, die man schon einmal in einem anderen Bild gesehen hat, und in eben jenen gewohnten Kontext gestellt. Man schließt also anhand dieser Steinchen auf das bereits bekannte Bild, das man in sich trägt, obwohl die Steinchen als Bestandteile eines neuen Mosaiks etwas ganz anderes darstellen. Somit entgeht dem Betrachter die Imagination des Ganzen, da sein Blick an einzelnen Steinchen hängenbleibt. Hier also der Versuch einer Klarstellung im einzelnen und der Reihe nach:
Entgegen der Lesart Kinzels frage ich nicht »nach den Ursachen des Untergangs einer Kultur« (das habe ich im Homo Absolutus und an anderer Stelle getan), und schon gar nicht ist mein Thema »der Untergang des Abendlandes im Sinne Spenglers«, sondern ich forsche nach den Ursachen des kulturellen Selbsthasses und gehe der Frage nach, wodurch sich die Kultur des Abendlandes erschöpft hat und an sich selbst ermüdete. Das ist durchaus etwas anderes!
Überhaupt gleicht meine Fragestellung nicht der Spenglers, denn ich begreife Kulturen keineswegs als abgeschlossene Räume, auch nicht in irgendeiner Weise als statisch, sondern als Ausdrucksformen bestimmter »Zustände« oder »Befindlichkeiten«, in die sich Verbände hinein- und eben auch wieder herausentwickeln, also als »Höhepunkte« evolutionärer Mutationsprozesse, die sich weder künstlich herstellen noch konservieren lassen. Deshalb ist der Begriff des »Untergangs«, den auch Spengler ja nie so gemeint hat, auf Kulturen bezogen, im Grunde völlig unangebracht, weswegen ich lieber von »Abschied« spreche, wenn ein Zustand in einen anderen übergeht. Ein Abschied, nach dem das Verabschiedete in Erinnerung bleibt, dort eine notwendige Wandlung vollzieht und entweder zur »Sehnsucht« führt oder zur »Nostalgie«. Das eine ist die »kulturelle« Verarbeitung, das andere die »zivilisatorische«.
Das Abendland unterscheidet sich von allen vorangegangenen Zuständen meines Erachtens dadurch, daß es zum erstenmal Menschen hervorbrachte, die sich als Schöpfer ihrer selbst empfanden und dadurch einen Freiheitsbegriff entwarfen, der die Entwicklung der Kultur gleichermaßen produktiv wie verhängnisvoll vorantrieb. Denn das Abendland charakterisiert ein besonderes Bildungserlebnis, das gewaltige Prägekräfte enthielt, Anschauungen verschob und neue Werte setzte, nämlich durch die »Erfindung des Individuums« auf der Grundlage der »Willensfreiheit«. Deshalb verlege ich die Epoche des Abendlandes in den Zeitraum zwischen 1450 und 1950, in dem eben jenes Bildungserlebnis stattfand. Die Antike gehört sowenig dazu wie das christliche Mittelalter, weil dort jeweils andere Zustände herrschten, andere Werte normativ waren und der Mensch sich noch nicht als »ungebundenes Subjekt« empfand. Erst der Humanismus hat das Spezifische des abendländischen Menschen hervorgebracht. Weil aber die überhöhten Erwartungen, die mit diesem aus der »Hochkultur« erwachsenen Zustand verbunden waren, schließlich enttäuscht wurden, begann der Kulturmensch die Kultur und damit sich selbst zu verachten. Denn »Kultur kann mißlingen. Und zwar dann, wenn die ›Versprechen‹, die sie impliziert, nicht erfüllt werden« (S. 11).
Des weiteren schreibt Kinzel, daß der kulturelle Selbsthaß meiner »Meinung nach unsere nachkulturelle Welt präge.« Das ist falsch! Denn ich versuche doch im Gegenteil zu erläutern, wie sehr der kulturelle Selbsthaß ein Produkt der Kultur war; mit Schwinden des kulturellen Bewußtseins wird auch das Phänomen des kulturellen Selbsthasses verschwinden. Wir erkennen das etwa daran, daß die meisten Menschen in Deutschland und Europa dieses Phänomen nicht einmal wahrnehmen, obwohl es sich täglich in politischen Handlungen zeigt. Was wir heute erleben, ist der Höhepunkt dieses Selbsthasses am Ende einer Epoche, der deshalb von manchen so stark empfunden wird, weil er sich seit 1950 mehr und mehr nach innen und nicht mehr nach außen richtet. Dieser Haß, der den Menschen die Lust am Eigenen austreibt, ebnet den Weg in den neuen Zustand der »Zivilisation«. Denn »Zivilisation bedeutet die Entlastung von Kultur« (S. 13). Und zwar eben deshalb, weil Kultur, also der Zustand gelebter Differenz, für die Schrecken des 20. Jahrhunderts verantwortlich gemacht wird.
Ferner lesen wir, bei mir befänden sich »Vernunft und Kultur in einem Verhältnis der Feindschaft, weil Vernunft« meiner Meinung nach »eine grundsätzlich zersetzende Kraft hat – die kulturauflösende Wirkung der Vernunft.« Das ist eine seltsame Fehlinterpretation. Denn ich unterscheide deutlich zwischen einer »wissenschaftlich-rationalen« und einer »ethisch-philosophischen« Vernunft (S. 174), woraus der spezifisch abendländische Konflikt entstand: »Dieser ständige Zwiespalt zwischen Wollen und Sollen, Trieb und Moral förderte die europäische Unruhe, Streitlust und innere Anspannung« (S. 104). Dadurch standen sich im Abendland mehrere »Wahrheiten« gegenüber, weil man sich erst noch auf dem Weg hin zu einer allgemeinen Vernunft befand, die diesem kulturfördernden Konflikt notwendig fehlte. »Deshalb kann von einem postkulturellen Zeitalter gesprochen werden, sobald sich eine allgemeingültige Wahrheit global unter allen Menschen durchsetzt. Denn wo überall das gleiche gilt, ist das Wesen von Kultur aufgehoben. – Ergo: Vernunft vernichtet Kultur« (174f.).
Und es ist auch nicht das Eigene, das »mit mehr oder weniger Notwendigkeit den Selbsthaß hervorbringt«, sondern die Enttäuschung über das Versagen vor den Ansprüchen, die vom Eigenen ausgingen, was aus der Perspektive eines aufgeklärten Fortschrittsoptimismus ein Scheitern an der Kultur selbst bedeutete. Zumal dieses Eigene aus der eklektizistischen Aneignung der Wertvorstellung zweier adoptierter Kulturen bestand, der griechisch-römischen Antike und der des mosaischen Glaubens. Hierin liegt vielleicht der gewagteste und heikelste Gedanke, nämlich, daß das Abendland unter dieser fehlenden Kontinuität gelitten habe, die stets nur eine konstruierte war, man aber immer das Kind zweier »fremder Eltern« blieb, mochte man sich auch noch so gut in ihrer Obhut aufgehoben fühlen.
Nun erweckt Kinzel mit seinem Verweis auf Leo Strauss den Eindruck, als verkennte ich die Bedeutung einer Identität, die sich als »produktive Aneignung und Zusammensetzung von Fremdem begreift.« Dabei ist doch der Konflikt, der sich aus »dieser grundsätzlich nicht aufhebbaren Spannung« ergab und worin das »Geheimnis der außerordentlichen Vitalität des Abendlandes« bestand, genau das Grundthema meines Buches! Nicht nur Abschnitte wie »Von der Fruchtbarkeit fremden Wissens« (S. 39–42), sondern auch die Einleitung und bald der gesamte übrige Text sind von dem Versuch einer Analyse eben dieser Spannung geprägt, worin ich doch gerade Ursache und Pathogenese des kulturellen Selbsthasses erblicke!
Ferner wird vermutet, mir sei nur »an manchen Kulturleistungen des Abendlandes gelegen.« – Ja, ist denn der wehmütig-melancholische Ton, der alle Beschreibungen eben dieser Kulturleistungen durchweht, völlig überhört worden?
Auch handelt es sich um ein grobes Mißverständnis, wenn behauptet wird, daß »Heimatlosigkeit« und »Einsamkeit« bei mir »positiv besetzt« seien, nur weil ich an die lange Tradition einer besonders unter antiken und abendländischen Philosophen weitverbreiteten Meinung erinnere, wonach man allein über bindungslose Einsamkeit zur »Freiheit« im philosophischen Sinne gelangen könne.
Und wo »markiere« ich »unmißverständlich« meine »Distanz« zum »Prinzip Antaios«, da ich dieses doch »ein schönes Bild« nenne und mit Heidegger für die Suche nach einem neuen Heimatbegriff unter den Bedingungen der Weltzivilisation argumentiere (S. 137–140)?
Sonderbar verfehlt auch der letzte Abschnitt, in dem von einem philosophischen Ergründungsversuch Lösungsvorschläge erwartet werden. Und dann der Hinweis auf das, wonach, laut Kinzel, dringender zu fragen gewesen wäre; wenn sich jemand Gedanken über Gestalt, Aufbau und Bewegung des Sonnensystems gemacht hat, kann man ihm doch nicht damit begegnen, daß das Problem der Gravitation auf der Erde aber wichtiger sei.
Was ich also am Weiterdenken Till Kinzels, bei allem Respekt, kritisieren muß, ist der Mangel an Synoptik. Ohne die Bereitschaft, das Ganze des Textes bei dessen Beurteilung zu berücksichtigen, bleibt der Zugang zum Phänomen notwendig verschlossen. Denn Wesentliches meiner Charakteristik des Abendlandes, das für den Verlauf des kulturellen Selbsthasses elementar ist, wurde völlig außer acht gelassen: so etwa die enorme Wirkung, die von der Individuation und dem damit verbundenen Anspruch ausging, ein Ich zu verkörpern; sodann die besondere Stellung, die Liebe, Sexualität und das Geschlechterverhältnis im Abendland einnahmen, worin ich eine ganz entscheidende Triebkraft bei der Genese des kulturellen Selbsthasses zu erkennen glaube. Überhaupt ist der gesamte körperliche Komplex gänzlich unbeachtet geblieben, obwohl die Leiberfahrung des abendländischen Menschen von höchster Bedeutung für die Entstehung der Selbstverachtung ist, die natürlich eng mit den Sündenvorstellungen der Kirche zusammenhängt, welche wiederum für jene Verstörungen sorgten, die das Christentum bei einem Großteil der abendländischen Intelligenz auslöste. Auch spielt die soziale Funktion des staatlich inszenierten Haßobjektes eine gewichtige Rolle. Ferner ist der kulturelle Selbsthaß kaum verständlich ohne Berücksichtigung des »tragischen Bewußtseins«, das sich vor allem aus der Auseinandersetzung mit dem Altertum und der antiken Tragödie ergab.
All diese Aspekte blieben unerwähnt. – Warum? Viel zu oft wird aus Büchern allein das herausgelesen, wonach der jeweilige Betrachter sucht. So kommt es immer wieder zur mundgerechten Zerkleinerung äußerst komplexer Sachverhalte, die zuletzt dazu führt, daß einem Autor zwei, drei Begriffe umgehängt werden, die er dann nie mehr abschütteln kann. Nietzsche, der Verkünder des »Todes Gottes«, Spengler, der Prophet des »Untergangs«, und auch Fukuyamas »Ende der Geschichte« werden gern allzu wörtlich genommen, ohne daß dabei ermessen würde, was sich alles hinter diesen Formeln verbirgt, die der Autor zumeist nicht einmal absichtsvoll, sondern mehr aus Versehen in die Welt gesetzt hat.
Ich hoffte, der »Hauptwert des Buches« bestünde nicht allein darin, daß die »Geister sich daran scheiden werden«, wie Kinzel schreibt, sondern im Reichtum der vielen kleinen Beobachtungen, die so vielleicht noch kaum jemand gemacht hat, sowie in der Darstellung gewisser Zusammenhänge, wie sie so vielleicht noch kaum gesehen wurden. Denn tatsächlich geht es mir um das »Ganze«. Ich will verstehen, was dieses wunderbare Phänomen Abendland, das der Welt fast fünfhundert Jahre lang seinen Stempel aufdrückte, eigentlich war. Dies halte ich für notwendig, um die Gegenwart begreifen zu können. Kulturelle Phänomene sind jedoch nicht ohne weiteres erklärbar; sie setzen einen bestimmten Grad an Empathie voraus: »Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen« (Goethe). Das macht den rein wissenschaftlichen Umgang mit seismographischen Büchern so schwierig und verleitet dazu, sie auf bestimmte Begriffe bringen zu wollen, von denen der politische vielleicht der unglücklichste ist.
So lese man denn auch Die Verachtung des Eigenen als eine Erzählung der imposanten Tragödie »Abendland«, von der man keine Patentrezepte erwarten darf, sondern nur Inspiration, Anregungen, geistiges Material zum Selberdenken – was das Prinzip aller ambitionierten Philosophie stets war und immer sein sollte.