Rechtsphilosophie nach ’45

49pdf der Druckfassung aus Sezession 49 / August 2012

von Günter Maschke

Zwar können Skizzen stärker anregen als penibel ausgeführte Gemälde, doch auch sie benötigen ihr Maß. Der Versuchung, sie allzu kärglich ausfallen zu lassen, widerstehen nur wenige.

Auch ein so umsich­ti­ger und kennt­nis­rei­cher Rechts­his­to­ri­ker wie Has­so Hof­mann, des­sen oft unge­rech­tes Buch Legi­ti­mi­tät und Lega­li­tät – Der Weg der poli­ti­schen Phi­lo­so­phie Carl Schmitts (1964) für immer aus dem Oze­an der Carl-Schmitt-Lite­ra­tur her­aus­ragt, ist die­ser Gefahr erle­gen. Wer die nun­mehr 67 Jah­re umfas­sen­de Geschich­te der deut­schen Rechts­phi­lo­so­phie und ‑theo­rie seit dem Kriegs­en­de auf 61 Sei­ten abhan­delt (die Sei­ten 62–75 ent­hal­ten eine rela­tiv statt­li­che Biblio­gra­phie), über­treibt den löb­li­chen Wil­len, spar­sam mit Papier umzu­ge­hen. Doch eine Taschen­lam­pe ist nur eine Taschen­lam­pe und ersetzt nicht ein­mal eine Notbeleuchtung.

Hof­manns asthe­ni­sche Schrift (Rechts­phi­lo­so­phie nach 1945 – Zur Geis­tes­ge­schich­te der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, Ber­lin: Duncker&Humblot 2012. 75 S., 18 €), auf einem Vor­trag vom Okto­ber 2011 bei der Sie­mens-Stif­tung beru­hend, beginnt mit der berühm­ten »Natur­rechts­re­nais­sance« nach 1945. Ein eher behaup­te­tes denn durch­ge­form­tes aris­to­te­lisch-tho­mis­ti­sches Natur­recht, sich legie­rend mit der Sozi­al­leh­re des poli­ti­schen Katho­li­zis­mus, bestimm­te damals bis in die fünf­zi­ger Jah­re die juris­ti­schen und rechts­theo­re­ti­schen Debat­ten der frü­hen Bun­des­re­pu­blik. Wie schon 1918 lie­ßen sich die Geschla­ge­nen vom sonst ger­ne igno­rier­ten katho­li­schen Gedan­ken anlei­ten. Zum gro­ßen Schul­di­gen am Desas­ter der Jus­tiz unterm Natio­nal­so­zia­lis­mus wur­de der »Rechts­po­si­ti­vis­mus« ernannt. Daß die deut­schen Juris­ten sich zwi­schen 1933 und 1945 so will­fäh­rig zeig­ten, lag angeb­lich am her­ge­brach­ten »Gesetz-ist-Gesetz«-Denken, mit dem man das die Men­schen­wür­de und die Mensch­lich­keit ach­ten­de Natur­recht igno­rier­te. Jetzt aber soll­te der Vor­rang der Lex natu­ra­lis (des durch die Ver­nunft all­ge­mein erkenn­ba­ren Teils eines angeb­lich »ewi­gen Geset­zes«) gegen­über dem Jus posi­ti­vum durch­ge­setzt wer­den; letz­te­res hat­te sich ers­te­rem unterzuordnen.

Aber der Skan­dal der Juris­pru­denz wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus fin­det sich (zumal wenn man die damals eher gerin­ge Pro­duk­ti­on neu­er Geset­ze bedenkt!) nicht in einem knech­ti­schen Rechts­po­si­ti­vis­mus, son­dern in der Ten­denz zur »unbe­grenz­ten Aus­le­gung« (Bernd Rüt­hers) schon lan­ge bestehen­der Geset­ze. Dabei darf man auch dar­an erin­nern, daß die­se sinist­re Kunst der Aus­le­gung sich nicht sel­ten auf ein angeb­li­ches natio­nal­so­zia­lis­ti­sches Natur­recht stütz­te. Man begann also 1945 mit einer Legen­de – mit der Legen­de von der Schuld des Rechts­po­si­ti­vis­mus; Hof­mann spricht hier trif­ti­ger­wei­se von »Bewäl­ti­gungs­li­te­ra­tur«. Die­se Legen­de barg auch ein beacht­li­ches destruk­ti­ves Poten­ti­al: Jetzt konn­te man den Staat dif­fa­mie­ren und ihn bzw. das, was von ihm noch übrig­ge­blie­ben war, demon­tie­ren. Der den Rechts­po­si­ti­vis­mus durch­set­zen­de Levia­than wur­de zer­schnit­ten. Mit­tels der Legen­de vom Rechts­po­si­ti­vis­mus fälsch­te man den radi­ka­len Nicht-Staat des Natio­nal­so­zia­lis­mus, einen wah­ren Behe­mo­th, zu einem Staat, nein: zu einem extre­men Hyper-Staat um. So wur­de der Staat, die wehr­haf­te Rela­ti­on von Schutz und Gehor­sam, ein wei­te­res Mal, dies­mal von einer ande­ren Sei­te her, atta­ckiert. Im end­lich voll­ende­ten Groß­tri­zo­ne­si­en weih­ten sich schließ­lich auch die Juris­ten der ver­meint­lich so men­schen­freund­li­chen Staatsfeindschaft.

Tat­säch­lich setz­te die­se Ent­wick­lung, heu­te offen zuta­ge­lie­gend, 1945 mit den Leer­for­meln des Natur­rechts ein. In einer sich beschleu­nigt säku­la­ri­sie­ren­den, par­ti­ku­la­ri­sie­ren­den, an der Ober­flä­che plu­ra­li­sie­ren­den Gesell­schaft wur­de ein ewi­ges Sit­ten­ge­setz ver­kün­det, von dem man bekannt­lich rasch gehö­ri­ge Abstri­che machen muß­te. Der Ein­fluß des – wie sei­ne Geschich­te beweist! – so wan­del­ba­ren Natur­rechts führ­te zu Absur­di­tä­ten wie der, daß der Bun­des­ge­richts­hof 1954 den Ver­lob­ten­bei­schlaf zur »Unzucht« erklär­te. Die Mei­nung mach­te die Run­de, daß das Recht dazu da sei, die Bevöl­ke­rung zu einer bestimm­ten Moral anzu­hal­ten, – zu einer Moral, in der sich das wah­re Wesen und die wah­re Bestim­mung des Men­schen aus­drü­cken soll­ten. Im Rück­blick ver­wun­dert es nicht, daß die mit Aplomb vor­ge­tra­ge­nen Natur­rechts­frag­men­te bald in einer Wert­phi­lo­so­phie des Rechts ihre Erbin fan­den, einer Wert­phi­lo­so­phie, die mitt­ler­wei­le das Staats- und Ver­fas­sungs­recht mit mora­li­sie­ren­den Sug­ges­tio­nen und Gesin­nungse­infor­de­run­gen zer­setzt und die eine schreck­li­che Toch­ter gebar: die poli­ti­cal cor­rect­ness. Hier fehlt auch ein kri­ti­scher Blick auf das Sur­ro­gat einer Ver­fas­sung, auf das poli­tisch wie intel­lek­tu­ell defi­zi­tä­re Grund­ge­setz, das eher ein Oktroi der Besat­zer war als eine eige­ne Schöp­fung, – Hof­mann rafft sich bei die­ser Gele­gen­heit immer­hin dazu auf, etwas spöt­tisch des­sen »Sakra­li­sie­rung« zu vermerken.

Gewiß hat sich der ideo­lo­gi­sche Über­bau der Juris­pru­denz seit den Jah­ren 1945 bis ca. 1955 beträcht­lich ver­wan­delt. Geblie­ben aber ist die Ten­denz zur Abschaf­fung der Frei­heit mit­tels der »Wer­te«. Zuwei­len spürt man, daß Hof­mann gegen­über eini­gen Aspek­ten die­ser Ent­wick­lung Ein­wän­de hegt, doch er spitzt nur mit gro­ßer Dezenz die Lip­pen und ver­bie­tet sich das Pfei­fen. Die sich gemäß den has­ti­gen Zeit­läuf­ten rasch ändern­de Melan­ge aus sug­ges­tiv sein sol­len­den Natur­rechts­ele­men­ten, aus dem Staa­te vor­ge­la­ger­ten »Wer­ten« und aus einer eklek­tisch-vagen Huma­ni­täts­phi­lo­so­phie, die zu uner­bitt­li­chen Exklu­sio­nen fähig ist, ange­rei­chert mit etwas Orwell und etwas Hux­ley – all die­se so wan­del­bar schei­nen­den Ideo­lo­ge­me, die doch nur moder­ni­sier­te Ver­sio­nen der Melo­die von 1945 sind, kom­men zum immer­glei­chen Refrain: Wen die­se Wor­te nicht erfreu­en, der ver­die­net nicht, ein Mensch zu sein.

Hof­mann geht auch auf die Debat­te zur ana­ly­ti­schen Rechts­phi­lo­so­phie, zur Rechts­lo­gik und zur Top­ik ein, sowie auf die in den sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­ren Ter­rain gewin­nen­de Rechts­so­zio­lo­gie. Man darf aber anneh­men, daß sowohl das Rechts­be­wußt­sein der Bevöl­ke­rung als auch die juris­ti­sche Pra­xis von die­ser Art theo­re­ti­scher Erör­te­run­gen wenig beein­flußt wur­den. Bedeut­sa­mer scheint da wohl der bald die Ver­fas­sungs­ebe­ne errei­chen­de Weg vom Rechts­staat zum sozia­len Rechts­staat zu sein. Wir möch­ten hier aber Hof­manns so knap­pe Skiz­ze nicht mit­tels einer noch kür­ze­ren abschil­dern und reflektieren.

Zum Schluß wirft Hof­mann noch einen Blick auf die all­über­all kund­ge­ta­ne »Ankunft in der Welt­ge­sell­schaft«. In die­ser wird angeb­lich die »Fra­ge nach Zukunft« (Hof­mann) unab­weis­bar. Doch die For­de­rung Kants, daß die »Rechts­ver­let­zung an einem Platz der Erde an allen gefühlt« wer­de, ist nur eine trü­ge­ri­sche, dazu noch intel­lek­tu­ell pein­li­che Hoff­nung. Ein Welt­bür­ger­recht als Recht von Indi­vi­du­en, das an die Stel­le des inter­na­tio­na­len zwi­schen­staat­li­chen Rechts tritt, führt nur zu einem zügel­lo­sen Pan-Inter­ven­tio­nis­mus und Men­schen­rechts­im­pe­ria­lis­mus, des­sen »Vor­grif­fe« auf das Welt­bür­ger­recht uns in den letz­ten Jah­ren eini­ge ent­setz­li­che Blut­bä­der bescher­ten. Der Trä­ger des Frie­dens­prei­ses des Deut­schen Buch­han­dels, Jür­gen Haber­mas, hielt den Koso­vo-Krieg, in dem die NATO alle bis­he­ri­gen Rekor­de in der Dis­zi­plin »Pro­pa­gan­da­lü­ge« brach, für einen der­ar­ti­gen »Vor­griff« auf die von ihm gelieb­te schwar­ze Uto­pie des Welt­bür­ger­rechts, – wenn auch, wie es einem kri­ti­schen Intel­lek­tu­el­len bei uns ziemt, aus Nai­vi­tät und nicht aus Bosheit.

Soll man zum Ewi­gen Frie­den durch den Ewi­gen (dazu noch Gerech­ten) Krieg gelan­gen? Es gibt eini­ge alte, sich immer wie­der bestä­ti­gen­de Wahr­hei­ten: Wer Mensch­heit sagt, will betrü­gen, und Ord­nung kann nur auf Ortung beru­hen. An die­sen Wahr­hei­ten fest­zu­hal­ten, wäre die ehren­vol­le Auf­ga­be eines Rechts­den­kens, das, um sei­ne fast aus­weg­lo­se Schwä­che wis­send, die furcht­ba­ren Tat­säch­lich­kei­ten beim Namen nennt und die­se weder ganz oder par­ti­ell beschweigt, ver­harm­lost, noch, nach­dem man sich zum Hans Wurst des Gerech­ten Krie­ges mach­te, mit etwas Bedau­ern recht­fer­tigt. Dazu soll­te man auch ver­ste­hen, daß das Recht nicht den Frie­den schaf­fen kann, son­dern – im Glücks­fall! – der Frie­den das Recht.

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