Auch ein so umsichtiger und kenntnisreicher Rechtshistoriker wie Hasso Hofmann, dessen oft ungerechtes Buch Legitimität und Legalität – Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts (1964) für immer aus dem Ozean der Carl-Schmitt-Literatur herausragt, ist dieser Gefahr erlegen. Wer die nunmehr 67 Jahre umfassende Geschichte der deutschen Rechtsphilosophie und ‑theorie seit dem Kriegsende auf 61 Seiten abhandelt (die Seiten 62–75 enthalten eine relativ stattliche Bibliographie), übertreibt den löblichen Willen, sparsam mit Papier umzugehen. Doch eine Taschenlampe ist nur eine Taschenlampe und ersetzt nicht einmal eine Notbeleuchtung.
Hofmanns asthenische Schrift (Rechtsphilosophie nach 1945 – Zur Geistesgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Berlin: Duncker&Humblot 2012. 75 S., 18 €), auf einem Vortrag vom Oktober 2011 bei der Siemens-Stiftung beruhend, beginnt mit der berühmten »Naturrechtsrenaissance« nach 1945. Ein eher behauptetes denn durchgeformtes aristotelisch-thomistisches Naturrecht, sich legierend mit der Soziallehre des politischen Katholizismus, bestimmte damals bis in die fünfziger Jahre die juristischen und rechtstheoretischen Debatten der frühen Bundesrepublik. Wie schon 1918 ließen sich die Geschlagenen vom sonst gerne ignorierten katholischen Gedanken anleiten. Zum großen Schuldigen am Desaster der Justiz unterm Nationalsozialismus wurde der »Rechtspositivismus« ernannt. Daß die deutschen Juristen sich zwischen 1933 und 1945 so willfährig zeigten, lag angeblich am hergebrachten »Gesetz-ist-Gesetz«-Denken, mit dem man das die Menschenwürde und die Menschlichkeit achtende Naturrecht ignorierte. Jetzt aber sollte der Vorrang der Lex naturalis (des durch die Vernunft allgemein erkennbaren Teils eines angeblich »ewigen Gesetzes«) gegenüber dem Jus positivum durchgesetzt werden; letzteres hatte sich ersterem unterzuordnen.
Aber der Skandal der Jurisprudenz während des Nationalsozialismus findet sich (zumal wenn man die damals eher geringe Produktion neuer Gesetze bedenkt!) nicht in einem knechtischen Rechtspositivismus, sondern in der Tendenz zur »unbegrenzten Auslegung« (Bernd Rüthers) schon lange bestehender Gesetze. Dabei darf man auch daran erinnern, daß diese sinistre Kunst der Auslegung sich nicht selten auf ein angebliches nationalsozialistisches Naturrecht stützte. Man begann also 1945 mit einer Legende – mit der Legende von der Schuld des Rechtspositivismus; Hofmann spricht hier triftigerweise von »Bewältigungsliteratur«. Diese Legende barg auch ein beachtliches destruktives Potential: Jetzt konnte man den Staat diffamieren und ihn bzw. das, was von ihm noch übriggeblieben war, demontieren. Der den Rechtspositivismus durchsetzende Leviathan wurde zerschnitten. Mittels der Legende vom Rechtspositivismus fälschte man den radikalen Nicht-Staat des Nationalsozialismus, einen wahren Behemoth, zu einem Staat, nein: zu einem extremen Hyper-Staat um. So wurde der Staat, die wehrhafte Relation von Schutz und Gehorsam, ein weiteres Mal, diesmal von einer anderen Seite her, attackiert. Im endlich vollendeten Großtrizonesien weihten sich schließlich auch die Juristen der vermeintlich so menschenfreundlichen Staatsfeindschaft.
Tatsächlich setzte diese Entwicklung, heute offen zutageliegend, 1945 mit den Leerformeln des Naturrechts ein. In einer sich beschleunigt säkularisierenden, partikularisierenden, an der Oberfläche pluralisierenden Gesellschaft wurde ein ewiges Sittengesetz verkündet, von dem man bekanntlich rasch gehörige Abstriche machen mußte. Der Einfluß des – wie seine Geschichte beweist! – so wandelbaren Naturrechts führte zu Absurditäten wie der, daß der Bundesgerichtshof 1954 den Verlobtenbeischlaf zur »Unzucht« erklärte. Die Meinung machte die Runde, daß das Recht dazu da sei, die Bevölkerung zu einer bestimmten Moral anzuhalten, – zu einer Moral, in der sich das wahre Wesen und die wahre Bestimmung des Menschen ausdrücken sollten. Im Rückblick verwundert es nicht, daß die mit Aplomb vorgetragenen Naturrechtsfragmente bald in einer Wertphilosophie des Rechts ihre Erbin fanden, einer Wertphilosophie, die mittlerweile das Staats- und Verfassungsrecht mit moralisierenden Suggestionen und Gesinnungseinforderungen zersetzt und die eine schreckliche Tochter gebar: die political correctness. Hier fehlt auch ein kritischer Blick auf das Surrogat einer Verfassung, auf das politisch wie intellektuell defizitäre Grundgesetz, das eher ein Oktroi der Besatzer war als eine eigene Schöpfung, – Hofmann rafft sich bei dieser Gelegenheit immerhin dazu auf, etwas spöttisch dessen »Sakralisierung« zu vermerken.
Gewiß hat sich der ideologische Überbau der Jurisprudenz seit den Jahren 1945 bis ca. 1955 beträchtlich verwandelt. Geblieben aber ist die Tendenz zur Abschaffung der Freiheit mittels der »Werte«. Zuweilen spürt man, daß Hofmann gegenüber einigen Aspekten dieser Entwicklung Einwände hegt, doch er spitzt nur mit großer Dezenz die Lippen und verbietet sich das Pfeifen. Die sich gemäß den hastigen Zeitläuften rasch ändernde Melange aus suggestiv sein sollenden Naturrechtselementen, aus dem Staate vorgelagerten »Werten« und aus einer eklektisch-vagen Humanitätsphilosophie, die zu unerbittlichen Exklusionen fähig ist, angereichert mit etwas Orwell und etwas Huxley – all diese so wandelbar scheinenden Ideologeme, die doch nur modernisierte Versionen der Melodie von 1945 sind, kommen zum immergleichen Refrain: Wen diese Worte nicht erfreuen, der verdienet nicht, ein Mensch zu sein.
Hofmann geht auch auf die Debatte zur analytischen Rechtsphilosophie, zur Rechtslogik und zur Topik ein, sowie auf die in den sechziger und siebziger Jahren Terrain gewinnende Rechtssoziologie. Man darf aber annehmen, daß sowohl das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung als auch die juristische Praxis von dieser Art theoretischer Erörterungen wenig beeinflußt wurden. Bedeutsamer scheint da wohl der bald die Verfassungsebene erreichende Weg vom Rechtsstaat zum sozialen Rechtsstaat zu sein. Wir möchten hier aber Hofmanns so knappe Skizze nicht mittels einer noch kürzeren abschildern und reflektieren.
Zum Schluß wirft Hofmann noch einen Blick auf die allüberall kundgetane »Ankunft in der Weltgesellschaft«. In dieser wird angeblich die »Frage nach Zukunft« (Hofmann) unabweisbar. Doch die Forderung Kants, daß die »Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt« werde, ist nur eine trügerische, dazu noch intellektuell peinliche Hoffnung. Ein Weltbürgerrecht als Recht von Individuen, das an die Stelle des internationalen zwischenstaatlichen Rechts tritt, führt nur zu einem zügellosen Pan-Interventionismus und Menschenrechtsimperialismus, dessen »Vorgriffe« auf das Weltbürgerrecht uns in den letzten Jahren einige entsetzliche Blutbäder bescherten. Der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Jürgen Habermas, hielt den Kosovo-Krieg, in dem die NATO alle bisherigen Rekorde in der Disziplin »Propagandalüge« brach, für einen derartigen »Vorgriff« auf die von ihm geliebte schwarze Utopie des Weltbürgerrechts, – wenn auch, wie es einem kritischen Intellektuellen bei uns ziemt, aus Naivität und nicht aus Bosheit.
Soll man zum Ewigen Frieden durch den Ewigen (dazu noch Gerechten) Krieg gelangen? Es gibt einige alte, sich immer wieder bestätigende Wahrheiten: Wer Menschheit sagt, will betrügen, und Ordnung kann nur auf Ortung beruhen. An diesen Wahrheiten festzuhalten, wäre die ehrenvolle Aufgabe eines Rechtsdenkens, das, um seine fast ausweglose Schwäche wissend, die furchtbaren Tatsächlichkeiten beim Namen nennt und diese weder ganz oder partiell beschweigt, verharmlost, noch, nachdem man sich zum Hans Wurst des Gerechten Krieges machte, mit etwas Bedauern rechtfertigt. Dazu sollte man auch verstehen, daß das Recht nicht den Frieden schaffen kann, sondern – im Glücksfall! – der Frieden das Recht.