Wer mit sicherem Griff einen guten Griffel führte, hatte einen guten Stil. Von diesem zum Stil überhaupt war es ein weiter Weg; jahrtausendelang zeigte sich Stil nur darin, es innerhalb eines vorgegebenen Rahmens zur Meisterschaft zu bringen und dabei die ästhetischen Prinzipien der jeweiligen Kultur und Epoche zu verwirklichen – erst in der Moderne kann jemand schlechthin Stil haben, seinen eigenen Stil ausprägen, aber niemals sonst war Stil auch so sehr bedroht: durch die Stillosigkeit von Mode und Massenproduktion, durch kommerzielle oder ideologische Nivellierung.
Stil ist nicht angeboren; man verwirklicht ihn in einem bewußten, schöpferischen Akt – Tiere haben keinen Stil, Maschinen ebenfalls nicht; weder das »nur Lebendige« noch das Regelmäßig-Mechanische, sondern das Lebendig-Individuelle, sofern in ihm eine Persönlichkeit zum Ausdruck gelangt. Ein unbeschränkter Individualismus, der sich ganz seinen anarchischen Launen hingäbe, könnte ebensowenig einen Stil entwickeln, wie der Fluß ohne das Bett zu fließen vermag, das ihn einschränkt und ihm dadurch seine Form gibt; Fluß und Bett – nicht aber Sumpf oder Kanal – bringen eine Landschaft hervor. Es bedarf also der den Stil bedrohenden Extreme – Chaos oder Schablone, Kauzigkeit und Konformismus –, die er sich anverwandelt, um sein »individuelles Gesetz« (Georg Simmel) zu verwirklichen. Stil ist Arbeit; wer nach ihm strebt, »hat den griffel der sich sträubt zu führen«, wie der Dichter aus Georges Gedicht »Im Park«.
Wer Stil hat, wird ihn allen verfügbaren Dingen aufprägen, aber es ist kein Zufall, daß sich der Stilbegriff ursprünglich vom Schreibakt herleitete und sodann auf das Wie der Beschreibung (statt auf das Beschriebene selbst) bezog; schließlich ist das Schreiben eine ganz besondere Bewegung: Wie in jedem lebendigen Bewegungsablauf kommt in ihm ein Wesen zum Ausdruck, aber gegenüber den meisten anderen Bewegungen hat es den interpretatorischen Vorteil, erstens eine bleibende Spur – die Schrift – zu hinterlassen und sich zweitens den Widerpart des Geistigen einzuverleiben.
Der Schreibende beschreibt etwas Geistiges und offenbart dabei seine spezifische Lebendigkeit. Die Höhe des Stils, den diese Verbindung erreicht, bezeichnet Ludwig Klages in seiner Graphologie als »Formniveau«. Klages war es auch, der die Graphologie auf eine neue Grundlage gestellt hat: zum einen, indem er sie als Teil einer allgemeinen Ausdrucks- und Charakterkunde verstand, die sich ihrerseits in die Metaphysik des Lebens einordnet, deren ontologische Kategorien er in seinem Geist als Widersacher der Seele darzulegen suchte; zum anderen dadurch, daß er sie von einer positivistischen in eine hermeneutische Disziplin verwandelte.
Während die ältere Graphologie etwa des Abbé Michon noch von eindeutigen Merkmalen ausging, die sich tabellarisch bestimmten Charakterzügen zuordnen lassen sollten, erkannte Klages die Polarität des Ausdrucksphänomens: Es gibt nicht einfach ein graphologisches Kennzeichen etwa für Willensstärke, sondern die in der Schrift erscheinenden Charakterzüge, in denen sich Stärke oder Schwäche, Beharrlichkeit oder Unruhe des Willens zeigen, sind jeweils zwischen zwei Polen aufgespannt. Keine Charaktereigenschaft ist für sich gut oder schlecht oder überhaupt isoliert erkennbar, sondern nur eine hermeneutische Betrachtung, die den Zirkel vom Ganzen zu seinen Teilen und von diesen zu jenem beschreitet, kann zur annähernden Erkenntnis eines Charakters führen. Was in dem einen Schriftbild auf maßvolle Bescheidenheit verweist, läßt im anderen vielleicht auf kleinliche Engherzigkeit schließen, und ebensowenig wie eine Schrift künstlerisches Formniveau hat, wenn jemand schwungvolle Schleifen unter seine Unterschrift zieht, hat jemand schon Stil, weil er teure Krawatten oder extravagante Hüte trägt.
Trotzdem lassen sich Grundregeln angeben: Regelmäßigkeit der Schrift steht für Vorherrschaft des Willens, Unregelmäßigkeit für ein Vorwalten des Gefühls; gerade Stellung für »Haltung«, Schrägstellung für Empathie und gesellige Neigung; eine große Schrift für Begeisterungsvermögen, Großzügigkeit oder Stolz, eine kleine kann auf Wirklichkeitssinn, Pflichtgefühl oder Demut hinweisen. Starker Druck mag auf Willensstärke, aber auch auf Verkrampftheit, Schwäche des Druckes auf Zartgefühl oder Wehleidigkeit beruhen. Spricht bogige Weite bald für Freimütigkeit, bald für Flüchtigkeit und Ungeduld, so kann winkelige Enge aus Zurückhaltung oder aus Zaghaftigkeit und Ängstlichkeit folgen. Verbundenheit der einzelnen Elemente kann einer systematischen, aber auch einer fahrigen, das einzelne vernachlässigenden Denkungsart entstammen, Unverbundenheit mit Achtsamkeit, aber auch mit Verbohrtheit zusammenhängen.
Betrachtet man die hier abgebildeten Schriftproben, fällt als erstes ihre Unterschiedlichkeit ins Auge, und es ist verführerisch, vom jeweiligen Stil des Schreibens zu dem des Denkens hinüberzuspringen, da die von den Jahrhundertautoren hinterlassenen Werke die Interpretation der Schrift scheinbar erleichtern, tatsächlich aber eher den unbefangenen Blick verstellen. Mancher Vordenker zeigt sich plötzlich von seiner »allzumenschlichen« oder weniger stilisierten Seite. Wenn man nicht gleich Freund und Feind oder den Untergang des Abendlandes wiedererkennen will, wird man statt eines »Aha« eher ein »Hoppla« ausrufen.
Womöglich eignet Jüngers Schrift etwas Geziertes und Verschnörkeltes, das hinter dem Kriegerdichter den Dandy in Uniform hervortreten läßt; und der ganz anders geartete Ästhetizismus Georges verrät in seiner auf perlendes Gleichmaß, Ein- und Unterordnung aller wegstrebenden Längen angelegten Schrift etwas von Verzicht und Beschränkung. Frei von jeder Stilisierung ist dagegen die Handschrift Carl Schmitts, der überhaupt jede Form und Ordnung abzugehen scheint; das haltlose Hinauf und Hinunter seines fahrigen Schriftbildes steht in äußerstem Gegensatz zu den harten, gestochenen, fast in einem mechanischen Takt gemeißelten Zügen Spenglers, aus dessen Schrift das Kommando des zivilisatorischen »Cäsaren« vernehmlicher spricht als das ruhige Wachsen der Kulturkreise.