Sie wird oft zitiert, meistens aber sinnverkehrend. Denn Buffon sprach nicht vom Stil als Ausdrucksform des Individuums, und ebensowenig hatte er eine Variante des Satzes von Seneca im Sinn: Oratio vultus animi est (»Der Stil ist der Spiegel der Seele«). Er wollte vor allem zum Ausdruck bringen, daß allein die gut geschriebenen Werke eine Aussicht darauf haben, bis in die Nachwelt hinein zu überdauern. Ohne Geschmack und ohne Genie geschrieben, würden sie bald in Vergessenheit geraten; nur die Qualität des Stils garantiere ihre Unsterblichkeit. Buffon hatte aber auch nicht die Absicht, eine Literaturtheorie vorzutragen. Er beschrieb die Form, die einem wissenschaftlichen Werk angemessen sei, und darüber hinaus die Kunst des Schreibens an sich. In der Tat meinte Buffon mit »Stil« in erster Linie einen Charakterzug der menschlichen Natur überhaupt. In seinen Augen hat der Begriff des Stils eine anthropologische Reichweite: Der Stil, das sei der Mensch selbst, und der Mensch sei das einzige Tier, das Stil haben könne.
Der Akzent, der in Frankreich mit Vorliebe auf diesen Begriff gesetzt wurde, ist jedoch anders geartet. Er meint auch nicht den Stil eines Schriftstellers oder Künstlers, also eine Art zu schreiben oder zu malen, die durch ihre Einheitlichkeit eine Interpretation und hermeneutische Analyse ermöglicht. Die entscheidende Idee ist, daß die Art und Weise, in der man eine Sache tut, ebensoviel, wenn nicht gar mehr zählt als die Sache selbst. Aus ihr leitet sich die Wichtigkeit ab, die man der »beau geste«, der »schönen Geste« zusprach, der Eleganz, mit der eine Tat ausgeführt wird, der Uneigennützigkeit, der äußeren Erscheinung, der Haltung, all dessen, was die französische Sprache in dem schwer zu übersetzenden Begriff »panache« (wörtlich: Federbusch, Schneid) zusammenfaßt.
Die Kernfrage des Stils ist die Gewichtung der Form im Verhältnis zum Inhalt. In anderen europäischen Ländern, vor allem protestantisch geprägten, wird die Form eher als Nebensache betrachtet. Man schätzt den Inhalt als wichtiger ein, und oft wird ein Beharren auf der Form als Zeichen eines »oberflächlichen« Geistes gewertet, wie man ihn auch häufig den Franzosen vorgeworfen hat. In Frankreich herrscht die gegenteilige Auffassung: Es ist die Form, die nicht den Wert der Tat, sondern desjenigen, der sie ausführt, bestimmt.
Stil hat wenig mit Moral, aber viel mit Ethik zu tun. Stil ist vor allem eine Haltung gegenüber dem Leben, eine Art, die Dinge zu tun, welche an eine sehr alte Form der Ethik erinnert, die man die »Ethik der Ehre« nennen könnte. Wie ihr aristokratischer Beiklang andeutet, war dies die herrschende Ethik der Epoche des Ancien régime. Die Ethik der Ehre verweigert das Zugeständnis und die Entwürdigung. Sie ist überzeugt, daß es Dinge gibt, die schlimmer sind als der Tod, und sie ist bereit, um dieser Ehre willen zu sterben. Deren Gegenteil ist die Schande – nicht die Sünde.
Im Lauf der Jahrhunderte hat sich bekanntlich der Sinn von Ethik und Moral stetig gewandelt. Die Moral, sei sie privat oder öffentlich, besteht aus einem Kanon aus Regeln, die man beachten muß, um das Gute zu tun. Die Ethik dagegen hat einen individuellen Kern, wobei die Ethik des Helden als eine Art glühender Gipfelpunkt betrachtet wird. In vieler Hinsicht sind Ethik und Moral einander vollkommen entgegengesetzt. Die Moral trachtet danach, das Gute zu tun und das Böse zu bekämpfen. Die Ethik stellt sich kurzerhand über diese Kategorien – in den Worten Nietzsches: »jenseits von Gut und Böse«.
Im günstigsten Fall hält die Ethik daran fest, daß nicht gut sein kann, was nicht auch gleichzeitig schön ist. Manchmal zieht sie aber auch die Schönheit, die mit dem »Bösen« assoziiert wird, der Mittelmäßigkeit des »Guten« vor. Schon im alten Griechenland sagte Perikles, daß der »unsterbliche Ruhm« der Hellenen darin bestehe, daß sie »im Guten wie im Bösen große Dinge« vollbracht hätten.
Diese Vorstellung von Stil wurde auch in Deutschland rezipiert. Es war in diesem Land, wo sich Ende des 19. Jahrhunderts eine neue literarische Disziplin entwickelte: die Stilkunde, eine Erbin der romanischen Philologie und der Hermeneutik eines Schleiermacher oder eines Dilthey. Oswald Spengler (Preußentum und Sozialismus, 1920) und Moeller van den Bruck (Der preußische Stil, 1916 und 1922), um nur diese beiden zu nennen, haben viele ihrer Schriften der Erkundung des »preußischen Stils« gewidmet. Aber sie gebrauchten das Wort in einem etwas anderen Sinn. Stil bedeutete ihnen vor allem das Zusammenspiel der Charakteristiken, die eine Epoche kennzeichnen.
Stil stellt sich taub gegenüber den Vorschriften einer abstrakten dogmatischen Moral, er unterscheidet nicht zwischen Sein und Schein. Er trachtet nicht nach dem Guten, sondern nach der »schönen Geste«, dem schönen Anlaß, dem schönen Tod. Daher haben Pierre Drieu la Rochelle, Henry de Montherlant oder Yukio Mishima mit ihrem Freitod ein Beispiel für Stil gegeben. Auch der freiwillige Tod für eine Sache, an die man nicht glaubt, kann ein Ausdruck von Stil sein.
Stil verwirft außerdem jegliche Form des bürgerlichen Utilitarismus. Sein Kennzeichen ist, daß er niemals vorrangig nach seinem eigenen Vorteil, sondern nach dem »Adel der Seele« trachtet. Er findet Geschmack an dem Nutzlosen, das dem Leben dennoch einen Sinn gibt. »Es ist viel schöner, wenn es nutzlos ist!« Dieser Ausruf des Cyrano de Bergerac aus dem berühmten Stück Edmond Rostands bedeutet ihm alles.
Stil ist mit Pflichtgefühl verbunden, aber die Erfüllung dieser Pflicht dient nichts anderem als den Formen, die seine Vollendung perfektionieren. Montherlant schrieb in seinem »Brief eines Vaters an seinen Sohn« (1932): »Das Wesentliche ist allein die innere Lebenshöhe. Sie wird Dir alles ersetzen. Sie wird Dir sogar Dein Vaterland ersetzen, wenn es Dir eines Tages fehlen sollte.«
Im politischen Bereich führt der Stil oft, vielleicht allzuoft, zu einer Ästhetisierung der Politik, deren Grenzen und Gefahren immer wieder betont wurden, insbesondere von Walter Benjamin. Armin Mohler charakterisierte den Faschismus in erster Linie als einen »Stil«. Als Beispiel nannte er das Opfer der Kadetten des Alcázar von Toledo und den berühmten Dialog zwischen Oberst Moscardó und seinem Sohn über dessen bevorstehende Hinrichtung.
Die modernen Faschismen und Totalitarismen haben zweifellos versucht, die Politik zu ästhetisieren, aus ihr eine Art »Gesamtkunstwerk« im wagnerianischen Sinn zu machen, und daraus erklärt sich auch ihre Anziehungskraft auf einen großen Teil der Intellektuellen. Die »faschistischen« französischen Schriftsteller hatten überwiegend wenig Ahnung von den faschistischen Doktrinen, waren aber fasziniert von ihren Aktionsformen. Es waren weniger die Programme und Konzepte, die sie anzogen, als die Bilder, die sie hervorbrachten.
So sprach Robert Brasillach noch 1945, als er im Gefängnis seine Hinrichtung erwartete, vom »Geist des Faschismus«, vom »gewaltigen und rotglühenden Faschismus«, seinen »Liedern und Aufmärschen« und seinen »Lichtdomen«: »Der Faschismus erschien uns über lange Zeit als eine Form der Poesie, als die Poesie des 20. Jahrhunderts überhaupt (ohne Zweifel zusammen mit dem Kommunismus).« Auch nach dem Krieg waren es weniger die Ideen und Doktrinen als vor allem die Ästhetiken der totalitären Regime, die bei bestimmten Randgruppen weiterhin Begeisterung und absurde politische Nostalgien lebendig hielten. Hannah Arendt hat demgegenüber aufgezeigt, daß sich die Analogie zwischen Politik und Ästhetik von selbst aus der Tatsache ergibt, daß in beiden Sphären dieselbe menschliche Urteilskraft am Werk sei.
Natürlich weist Stil über die historischen Zufälligkeiten hinaus. Gemäß seiner Definition steht er über aller Zeit. Er kann jeden Moment wieder erscheinen und sich in einer neuen Art des Seins manifestieren. Eine Art des Seins, die der heutigen Welt fremd ist, einer Welt, die von Reichtümern, Spektakeln, neuen Technologien zum Überlaufen gebracht wird, von einer Flut von Waren und Ablenkungen aller Art – die aber keinen Stil mehr hat.