Solcher Verbreitungsgrad einer Auffassung spricht dagegen, daß es sich um ein belangloses Klischee handelt. Jedem fallen rasch und wahllos Beispiele ein: von der Neigung des deutschen Mannes zu Tennissocken bis zum Dekolleté der Kanzlerin in Bayreuth, vom Fehlen jeder Weltläufigkeit bei unseren Außenministern bis zur Distanz zwischen Geist und Macht überhaupt, von der Häßlichkeit unserer Fußgängerzonen bis zur Unerfreulichkeit des deutschen Schlagers, von der Unterwürfigkeit gegenüber allem Fremden bis zum grundlosen Beharren auf der eigenen weil »deutschen Sch. …« (Rudolf Schlichter). Das alles soll irgendwie mit einem Mangel an Gewandtheit zu tun haben, an Stilbewußtsein, an Formsicherheit eben, kein savoir-vivre, keine maniera, nicht einmal die polnische Mischung aus Chopin und Schludrigkeit.
Natürlich ist viel von dem Aufgezählten belanglos oder einfach Teil jener sozialen Phänomene, die auf Vermassung zurückgehen, gibt es nur wenige, die Vergleichsmöglichkeiten haben oder solche nutzen, scheint weder die Begegnung mit betrunkenen holländischen Fußballfans noch die mit britischen Labour-Abgeordneten, weder die Tristesse moderner französischer Zweckbauten noch der Zusammenprall mit russischen Hotelgästen am Büfett, weder das Auftreten von nordamerikanischem trash noch die Kleidungsgewohnheit von Jugendbanden orientalischer Herkunft etwas an der Generaleinschätzung zu ändern.
Soweit es um Urteile geht, die von außen kommen, darf man Deutschenhaß in Rechnung stellen, soweit es sich um selbstkritische Äußerungen handelt, muß man vieles der großen Depression zuschlagen, die die Deutschen befallen hat. Die Neigung, sich schlechtzumachen, in jedem Fall schlechter, als man ist, hat natürlich mit der herrschenden Stimmungslage zu tun und der Wucht, mit der man der Nation ihren Unwert eintrichtert.
Trotzdem wäre es falsch, den Vorwurf der Formlosigkeit einfach aus aktuellen ideologischen Vorgaben zu erklären. Es geht vielmehr um ein Phänomen langer Dauer, das nicht zufällig so viele kluge Köpfe zu Stellungnahmen herausgefordert hat und bis heute herausfordert. Jedenfalls sprach Arnold Gehlen noch in einem seiner letzten Texte der »Unbestimmtheit, Unstabilität unseres Wesens« entscheidende Bedeutung zu, dem »mangelnden Sinn für das Haltgebende«, und zitierte zustimmend Germaine de Staël, die vor zweihundert Jahren zu ganz ähnlichen Einschätzungen kam: »Denn man muß zugeben, daß die Deutschen heutzutage nicht das haben, was man Charakter nennt … die Gesichter und Manieren scheinen eine feste Gesinnung anzuzeigen, und man ist unangenehm überrascht, wenn man sie nicht findet.«
Unschwer kann man von diesen Feststellungen einen Bogen zu dem Essay schlagen, den Karl Heinz Bohrer vor einiger Zeit dem Stilmangel der Deutschen gewidmet hat. Der Unterschied zwischen früheren und aktuellen Beobachtungen hängt vor allem mit unterschiedlichen Generationenerfahrungen zusammen. Was Bohrer die »Grundstruktur von deutscher Ausdruckslosigkeit« nennt, erfährt jetzt etwa eine Aktualisierung durch die Unfähigkeit der neuen Mittelschicht, sich »formell und originell zugleich zu verhalten«, nicht über reduziertes Bauhaus und damit das »Ausdrucksvermögen von Spießern« hinauszukommen, überhaupt keine Ausdruckssicherheit an den Tag legen zu können, die man Briten, Franzosen, Spaniern oder Italienern selbstverständlich zugesteht. Wichtiger als das ist aber die Feststellung einer Schnittmenge in der Argumentation Gehlens und Bohrers, insofern als beide Bezug auf Nietzsche als Referenzpunkt nehmen, der jenen erweiterten Stilbegriff eingeführt hat, der es erlaubt, Stilkritik als eine Variante der Kulturkritik zu treiben.
Erstaunlich ist jedenfalls das Maß, in dem Nietzsche nicht nur Literatur, Musik und bildende Kunst, sondern auch Politik, Religion und tägliches Leben einem Urteil unterwarf, das nur Stil oder Stillosigkeit, guten oder schlechten Stil kannte. Damit war auch alles einem im letzten ästhetischen Maßstab ausgesetzt, der auf das Ethische übergreift, eine – wie Nietzsche genüßlich hervorhob – ganz und gar undeutsche Verfahrensweise. Nietzsche hat den deutschen Stilmangel auf einen Mangel an Stilbewußtsein zurückgeführt, einen Mangel an Klassizität, den die geistig führenden Schichten der Deutschen nie behoben hätten. Wie immer in diesem Fall wird vor allem die französische Kultur als Gegenbild entworfen, die – um es mit den Worten eines Nietzscheaners zu sagen – noch stets zurückgreifen konnte auf den »Schatz, den es aus seiner aristokratischen Vergangenheit herübergerettet und in der ästhetischen Durchgeformtheit des französischen Menschentypus weitergepflegt hat« (Max Weber).
Zur Wirkung von Nietzsches Kritik an der Formlosigkeit der Deutschen gehört ein besonderer deutscher »Stildiskurs« seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, dessen Spur sich verfolgen läßt vom Wunsch nach einem jugendbewegten neuen »Lebensstil« (Wilhelm Stählin), über die Idealisierung des »preußischen Stils« (Moeller van den Bruck) und die Intellektuellensehnsucht nach »stilvoller Wildheit« (Thomas Mann) bis zur Analyse von »Kulturstilen« (Oswald Spengler), die Vorstellung, daß der fehlende Widerstand des deutschen Bürgertums gegen Hitler auf »Formschwäche« (Helmuth Plessner) beruhte, und den Überlegungen eines Nachläufers, zu dessen wirkungsvollsten Texten ausgerechnet einer über den »faschistischen Stil« (Armin Mohler) gehörte. Allerdings hat Nietzsche auch die Wahrnehmung dafür geschärft, daß die Sonderstellung der Deutschen unter den (europäischen) Völkern sich aus einer besonderen Denk- und Verhaltensweise erklärt, deren Vorhandensein man nicht einfach durch eine Reihe historischer Fehlschläge erklären kann – den Mangel an imperialer Erfahrung und eines maßgebenden höfischen Lebens vor allem –, sondern zurückführen muß, auf das, was immer etwas hilflos »Mentalität« genannt wird, eine tiefere, allerdings auch schwerer faßbare Ursache.
Bei genauer Betrachtung erweist sich die Formlosigkeit der Deutschen dann weniger als Defekt, eine Art Charakterschwäche, sondern als Gegenseite eines Komplexes von Eigenschaften, die das deutsche Wesen ausmachen. Man kann manches davon natürlich auch empirisch erfassen. Im folgenden soll es allerdings um die Tiefenschicht gehen, die sich kaum in Datensätzen niederschlägt, und das Gemeinte anhand von vier Begriffen erläutert werden:
1. |
Ursprung – Kein Deutscher liest wachen Sinns die Germania des Tacitus, ohne den Eindruck zu haben, daß die, von denen da antik geredet wird, ihm ähnlich sind. Eine Wahrnehmung, die noch ungleich stärker war, als man die Germania im 15. Jahrhundert wiederentdeckte und wie einen Spiegel nahm. Was sich hier vorgeformt fand, war die Idee von den Deutschen als einem »Urvolk« mit einer »Ursprache«, die später Fichte so wirkungsvoll formuliert hat und die sich so oder ähnlich in fast jedem Text der frühen Nationalbewegung, aber auch bei Bernard Willms findet. Der deutsche Gedanke, sich näher an den eigenen – reineren – Anfängen zu befinden als die übrigen Nationen Europas, hat die frappierende Gleichsetzung mit dem Volk Israel gespeist, aber auch die Proklamation zum »jungen Volk« der Mitte, die Vorstellung noch »Kultur« und noch nicht »Zivilisation« zu sein, die dem »Westen« ganz und gar suspekte Begeisterung für den »Osten«, von der Übersetzung Tolstois bis zum Nationalbolschewismus der Weimarer Zeit.
Die Hochschätzung des Ursprungs bedeutet aber nicht oder nicht nur eine Verklärung der Anfänge, wie sie jede vitale Gemeinschaft kennt, sondern ist auch verbunden mit der Annahme, jederzeit aus der Quelle der eigenen Lebenskraft schöpfen zu können, daß sie zugänglich bleibe, trotz des Gangs der Dinge und der Entfernung vom Beginn. Die Deutschen waren nie nur stolz auf ihre Vorfahren, sondern auch auf einen »barbarischen« Zug, der sich ihnen erhalten hatte. Darauf beruhte, was Max Scheler die »Unausgetrunkenheit« der Deutschen nannte, ihr Noch-nicht-zum-Ziel-gekommen-Sein, das Unfertige, die Vorstellung, sein Ziel noch nicht erreicht zu haben, die aus der Formlosigkeit resultierende Chance, sich immer wieder als ein anderer zu entpuppen. Wenn der Franzose Charles Maurras meinte, aller Anfang sei häßlich, neigt der Deutsche Hermann Hesse zu der Auffassung: »… und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne«.
2. |
Eigensinn – Man könnte das Gemeinte auch als Folge von Eigensinn charakterisieren, – ein sehr deutsches Wort. Gegen eine Wahrnehmung, die »Ordnung« für typisch deutsch hält, stand lange Zeit die Betonung des Unordentlichen im deutschen Wesen. Man hat das auf die nur teilweise Romanisierung des deutschen Gebiets zurückführen wollen, aber auch prinzipielle Gründe genannt, vor allem einen tiefverwurzelten Zug ins Anarchische, der allem regulierenden Sinn des Lateinischen widersprechende Drang nach Selbstbestimmung und Freiheit, der sich auch bei den stammverwandten Völkern findet und jede politische wie religiöse Zusammenfassung erschwert. Die Reihe deutscher Rebellen, von Arminius über Luther bis zu Stauffenberg, die weniger konkrete politische Ziele als eine prinzipielle Infragestellung der Verhältnisse vor Augen hatten, ist jedenfalls erklärungsbedürftig.
Dasselbe gilt für eine Figur wie Michael Kohlhaas, dem Kleist ein Denkmal setzte und dessen irritierendes Bild darauf verweist, daß sich deutscher Eigensinn nicht zuletzt in Gründlichkeit niederschlägt, in der Unfähigkeit oder doch dem Unwillen, etwas nur halb zu machen, eine Sache auf sich beruhen zu lassen, im Widerwillen gegen jede Art von Korruption oder der sich oft als naiv erweisenden Sehnsucht nach Authentizität und Natürlichkeit. Gehlen hat dafür den Begriff des »Konsequenzfanatismus« gebraucht, der sich besonders eindrucksvoll auf intellektuellem Gebiet niedergeschlagen hat, vor allem in den großen philosophischen Systemen, die deutsche – und nur deutsche – Denker in den letzten zweihundertfünfzig Jahren schufen.
3. |
Werden – Die Grenzen der Übertragbarkeit (zuerst: Übersetzbarkeit) dieser Denkbewegungen von Kant bis Heidegger haben eine Ursache auch darin, das heißt einem latenten Unwillen vor allem des Westens gegenüber dem, was man als Ausufern wahrnimmt, die Ungewöhnlichkeit der Begriffsbildungen und die Angestrengtheit. Es kommt allerdings noch ein Drittes ins Spiel: der Aspekt des Unabgeschlossenen, ein auf den ersten Blick zielloser Prozeß der Veränderung, der sich zu verlieren droht und »irrational« ist, keine Begrenzung findet, auch keine in dem bewußten Akt des »rationalen« Einhaltens, das anderen Denkstilen so typisch ist.
Frappierenderweise haben der Franzose de Maistre wie der Russe Dostojewski als Ursache der dauernden Umwälzungsprozesse in der Moderne die deutsche Reformation angesehen. Ihnen erschien als unheimlicher Prozeß, was die ganz deutsche Romantik als »organisch« betrachtete, also als »lebendig«, und was vor allem zu einer vollständigen Erneuerung des Verständnisses von Geschichte führte, die nicht länger als Niederschlag antiquarischen Interesses oder als Beispielsammlung zu pädagogischen Zwecken verstanden wurde, sondern als ein Ganzes, das sich sinnvoll entfaltet, nicht nach strengen Gesetzen, aber doch Prinzipien folgend, die der menschliche Geist erfassen und – im letzten: künstlerisch – nachgestalten kann.
4. |
Glauben – Es hat kaum etwas anderes so nachhaltig auf das deutsche Bewußtsein gewirkt wie dieser Sinn für das Geschichtliche. Ernst Troeltsch sprach sogar davon, daß er den letzten großen »Fortschritt zu freier, persönlicher und individueller Sittlichkeit« darstellte. Die Betonung des Ethischen ist in diesem Zusammenhang kein Zufall, sowenig wie die Intensität, mit der versucht wurde, die eben auch denkbaren – nihilistischen – Folgen des Historismus zu bändigen. Damit sei auf einen letzten Aspekt hingewiesen, um den es in diesem Zusammenhang gehen muß. Gemeint ist die deutsche Frömmigkeit. Die hat schon bewirkt, daß die Mission der Deutschen ein ganz besonders schwieriger Akt war und daß sie, einmal Christen geworden, den neuen Glauben in ihrer Art besonders ernst nahmen, was auch dazu führte, daß sie nicht irgendwelche Ketzereien hervorbrachten wie ihre Mitchristen, sondern gleich eine neue Kirche gründeten.
Für unseren Zusammenhang wichtiger ist weiter die Feststellung vieler ausländischer Beobachter, die im 19. Jahrhundert nach Deutschland kamen. Sie waren frappiert über die religiöse Ernsthaftigkeit. Nicht daß die Kirchenbindung noch die ursprüngliche Stärke gehabt hätte oder der Volksglaube, der Belgien, Spanien oder Italien prägte, vergleichbar gewesen wäre. Gemeint war vielmehr die Beobachtung unter den Gebildeten, daß sie »Religiosität« zu den wichtigen Aspekten des Mensch-Seins rechneten, daß sie jedenfalls die kennerische Skepsis oder das Spöttische zurückwiesen und daß der Deutsche sogar dann, wenn er sich vom Glauben abwandte, »die Götter opferte in einem strengeren und lauteren Sinn, als ehedem der Mythos Götter opferte« (Leopold Ziegler). Man kann in dem Zusammenhang auch auf die Intensität der Weltanschauungsproduktion der Deutschen verweisen – es gibt wohl keine Großideologie, die nicht zuerst hier durchdacht oder bis zur letzten Konsequenz exerziert wurde –, auch das ein Phänomen, das auf die Ernsthaftigkeit eines »theologischen Volkes« (Ewald Heinrich) verweist.
Die aktuelle Klage über die Formlosigkeit der Deutschen will weder etwas vom Glauben der Deutschen noch von ihrer Ursprungsverhaftung, ihrem Eigensinn oder ihrer Sensibilität für das Werden wissen. Man will nicht in den Verdacht kommen, nach Abhilfe zu suchen, sondern beschränkt sich darauf, den Deutschen Anverwandlung zu empfehlen, Verwestlichung, Amerikanisierung im Normalfall. Ausgeblendet werden deshalb auch jene Phasen der deutschen Geschichte, in denen es zweifellos gelang, etwas wie eine Form zu schaffen, eine Bändigung zu bewirken. Das gilt für die Zeit der Ottonen, aber mehr noch für die der Staufer, das gilt für die durchprägende Kraft der Habsburger genauso wie für Preußen, das gilt im Künstlerischen sicher für das Werk des Naumburger Meisters wie für das Dürers, für die Literatur der Klassik und die klassische Moderne, das gilt im Denkerischen für Leibniz wie für Kant oder Hegel.
Es gilt aber zugegebenermaßen nicht in gleicher Weise für die letzten Abschnitte unserer Geschichte. Schon im Wilhelminismus gab es eine Beunruhigung darüber, ob es noch gelingen werde, den »deutschen Typus der Zukunft« (Franz von Schmidt) zur Erscheinung zu bringen. Und der letzte Versuch, dem nachzuhelfen, im »großen Stil« (Gottfried Benn), ist vollständig gescheitert. Aber das besagt nichts gegen die Aktualität der seitdem gestellten Aufgabe. Ganz im Gegenteil.