Versprengte Truppenteile oder Freischärler schreckten uns nicht. Wir merkten schnell: die posieren mit lächerlichen Waffen. Wir waren mit Fliegenklatschen bewaffnet und fühlten uns sicher. Alle Toten wiesen Einschußlöcher an der gleichen Stelle auf – an den Ohrläppchen. Dadurch, daß dort Haut fehlte, waren die Männer leichter, wir konnten sie wegtragen. Es waren Hunderte.
Nach dem Aufwachen war klar, woher der Traum rührte. Tags zuvor hatte uns in der Werkstatt ein Geselle abkassiert, und während des Vorgangs flüsterte meine Tochter: »Wenn ich durch das Ohrläppchen von dem Mann sehe, kann ich genau unser Auto erkennen!« Der Typ hatte keineswegs abgefahren gewirkt, sondern bieder und tüchtig. Zum Abschied hatte er uns ein Cockpit-Spray geschenkt, mit persönlicher Empfehlung. Damit würden wir den Innenraum unseres VW-Busses blitzblank kriegen. Er schwor auf das Zeug!
Die sogenannten Fleischtunnel, die das Ohrläppchenloch auf bis zu zweieinhalb Zentimeter dehnen und in einem breiten Milieu (Schüler, junge Arbeitslose, Handwerker, Arbeiter) heute eine Standardoption darstellen, sind eilig den Weg gegangen, den etwa knallbunte Strähnen im Frauenhaar in einer längeren zeitlichen Distanz zurückgelegt haben. Bis Mitte der achtziger Jahre griffen allein solche Gestalten zur Farbtube, die tief in Subkulturen verankert waren. Später zogen kesse Gymnasiastinnen oder andere Frauen auf Profilsuche nach: Weinrot und lila gesträhntes Haar ist mittlerweile eine gängige Wahl jenseits des Faschings. Elfjährige tragen es, Kirchentagsbesucherinnen, Bankangestellte, Hausfrauen. Derartigem gilt längst kein zweiter Blick mehr. Die Sache hatte Vorgänger. Ähnlich ging es mit dem Bikini, dem Minirock, dem Nasenpiercing. Oder, im weiteren Rückblick: dem taillenlosen Kleid der Reformbewegung oder der Frauenhose.
Die Geschichte der Frauenmode ist lang, vielfältig und voller Provokationen, die rasch den Status des Herausfordernden verloren und populär wurden. Frau schmückt sich, um zu gefallen. Oft: um Männern zu gefallen. Auch wenn die Geschichte des heute feministisch zum Trend hochgeschriebenen man repelling (Frauenmode, die Männer erwiesenermaßen gräßlich finden wie Haremshosen oder Schulterpolster) weiter zurückreicht als bis zur berüchtigten lila Latzhose, galt doch weitgehend: Frau putzt sich, pflegt die Oberfläche, drückt sich in der Kleidung aus. Die Frau repräsentierte Jahrtausende das modische und modisch weitaus volatilere Geschlecht.
Das Verdikt, daß »allein der Charakter zähle«, dürfte zwar weit häufiger von weiblichem Munde ausgesprochen worden sein, doch hat sich frau diese Formel selbst kaum je zu eigen gemacht. Sie schnürt sich, zwängt sich, richtet sich zu, ohne Rücksicht auf Zweckmäßigkeit und, bewahre!, Bequemlichkeit. Zupfen, bräunen, bleichen, ondulieren, vergrößern, verkleinern, entfernen: Wer schön sein will, muß leiden – und wann in der Menschheitsgeschichte litten je Männer, von höfischen und elitären Minderheitenphänomen abgesehen, unter Modediktaten? Paarungs- und Heiratsverhalten richtete sich kaum je nach der Schönheit des Mannes, umgekehrt wird ein Schuh draus.
Zeiten ändern sich. Vielleicht auch, weil längst mehr Frauen als Männer studieren und das Heiraten oder Anbändeln »nach oben« kein rein weibliches Phänomen mehr sein dürfte. Der Osten der Republik ist dabei abermals Avantgarde: Kombinationen nach dem Muster Maurer/Oberärztin sind hier seit Jahrzehnten gang und gäbe. Wir finden heute auf seiten der Männer einen Körperpflege- und Körpergestaltungskult, der als Massenphänomen historisch seinesgleichen sucht. Der modische Mann stutzt, epiliert, waxt, zuckert sich mit gebotener Hingebung die Haare unterhalb des Kopfes (69 Prozent der Männer enthaaren sich Genitalbereich, Oberkörper und/oder Achseln; andere Bereiche müssen zum Zwecke nachfolgender Tätowierung ebenfalls haarlos sein); er läßt sich zum reinen Schmucke Löcher ins Fleisch stechen, schießen oder stanzen, deren Wundränder dann penibel gepflegt werden müssen.
Wir haben seit Jahren parallel zu speziellen Männer‑, Fettabbau- und Muskelaufbaudiäten einen sprunghaft angestiegenen Anteil Eßgestörter, also bulimischer oder magersüchtiger Männer. Wir haben einen Fußballbundestrainer, der einen Herrenhemdenschnitt populär gemacht hat und der für eine Kosmetikmarke wirbt. Wir lesen regelmäßige Berichterstattung über saisonale Herren-Haute-Couture in bürgerlichen Leitmedien. Wir verfolgen den beispielhaften Aufstieg eines androgynen philippinischen »Modebloggers« namens Bryanboy und zahlloser Nachfolger sowie die Genese eines neuen Traumberufs für Jungen als »Männermodel« – wetten, daß es bald ein entsprechendes Fernsehformat gibt? Wir finden Männermagazine, die sich kosmetischen Fragen stärker widmen als herkömmlich geschlechtsbezogenen Themen wie Sex, Sport und Fahrzeugen. Über allem bemerken wir eine tiefgreifende Kommerzialisierung und Demokratisierung des einst höfischen Gefilden vorbehaltenen Themas der Männermode und der männlichen Körpermodifikation.
Männermoden gibt es fraglos ebenfalls seit je. Sie äußerten sich weit weniger detailverliebt, datierten nach Epochen statt nach Saisons, manifestierten grob Statusunterschiede. Wir wissen von Spitzhüten, engen Herrenschühchen, Männerkorsetts im Biedermeier, den »Schamkapseln« und ausgestopften Wämsern der frühen Neuzeit. Es gab Modenarren außerhalb der veränderlichen Konventionen, man titulierte sie »Stutzer«. Den gemeinen Mann aus dem Volk berührten solche extraordinären Herrichtungen nicht. Einmal mehr darf die Französische Revolution als Achsenzeit herhalten: Nicht nur die revolutionären Sansculotten rebellierten durch ihre matrosenähnlichen Röhrenhosen gegen den Stil der Zeit, zugleich traten die ersten Punks der Neuzeit ins Bild, die Incroyables. Sie richteten ihr Augenmerk darauf, daß der Frack betont schlecht saß, das Haar zottlig fiel, die Weste falsch geknöpft war und die Stulpen schlampig über die Stiefel fielen.
Was genau ist neu an dem Mannsbild, das sich ausgiebig der Herrichtung seiner äußeren Form widmet? Das »Schöne« taugt nicht zur Umschreibung. Männliche Schönheitsnormen wechseln und liegen letztlich im Auge des Betrachters. Mal galt für eine Mehrheit der Schnauzer als attraktiv, mal der Brustpelz, mal der Parka, mal das Sakko, einst die schneidige Uniform. »Gepflegtheit« trifft es auch nicht, weil einerseits ein ungewaschener, müffelnder Mensch nie positiv bewertet wurde und andererseits selbst die hygienischst versorgten Piercings in Ohr, Augenbraue oder Brustwarze nicht als spezielle Ausweise eines Gepflegtseins gelten können. Neu am Körperstil der jüngeren Generationen ist der Drang nach Körpermodifikationen, die künstlich zugefügt wurden. Nennen wir ihn den Geschönten Mann.
Wir können uns die Genese des Geschönten Mannes als Weg in Etappen vorstellen, wobei sich die Schritte überlagern: Demokratisierung, Kommerzialisierung, Entfunktionalisierung/Entfremdung des geschlechtlichen Faktors, Homosexualisierung und Androgynisierung, letztlich die Globalisierung, die mit einer Retribalisierung einhergeht.
Im Zuge der Demokratisierung hat sich die alte, verhältnismäßig starre Dreiteilung nach Ober‑, Mittel- und Unterschicht aufgelöst. Bis in die Nachkriegszeit waren Kleidung und Herkunft noch relativ simpel zuordenbar und, wenn auch je modisch wandelbar, festgelegt. Wer jenseits der Unterschicht hätte sich vor 40 Jahren eine Tätowierung zufügen lassen? Wer außerhalb der Handwerkerzünfte einen Ohrring stechen lassen? Wer, wenn nicht Honoratiorensöhne, ein Kleidungsstück eigens fertigen lassen?
Auch die moderne Untergliederung in sozial-moralische Milieus nach Émile Durkheim hat sich überlebt. Die letzte Etappe der Demokratisierung hat eine schrankenlose Durchlässigkeit ermöglicht. Sie hat massenhaft studierende Arbeiterkinder, ausgestiegene Bildungsbürgersöhne und im wesentlichen ungebundene Individual-Performer hervorgebracht, und hat jedwede standgemäße Kleidungs- und Körpernorm aufgelöst oder hintertrieben. Gerade in Stilfragen bietet sich die nach marketingtechnischen Gesichtspunkten vorgenommene Einteilung in Sinus-Milieus an. Diese vordergründig für Werbezwecke geschaffene und seit drei Jahrzehnten laufend aktualisierte Zielgruppensegmentierung bildet den Gesellschaftswandel mustergültig ab. In unserer Zeit, die geprägt ist von einer Erosion klarer Familienstrukturen, von einer Polarisierung nach Wohlstand statt nach Bildung und von einem breitgefächerten Freizeitangebot, stellt das individuelle Konsumverhalten (und eben nicht wie früher Blut, Tradition und Ausbildung) das wesentliche Distinktionsmerkmal dar.
Das namensgebende Sinus-Institut unterscheidet neben gleichsam »bestandswahrenden« Gesellschaftsgruppen wie den immer noch breitvertretenen konservativen und traditionalistischen Milieus etwa zwischen »hedonistischen« (spaß- und erlebnisorientierten), »sozialökologischen«, »expeditiven« (avantgardistischen, künstlerischen), »prekären« Milieus und dem der tonangebenden »liberalen Bildungselite«. In diesen Milieus finden wir Menschen gruppiert, die sich in ihrer Haltung und Lebensweise ähneln. Die einzelnen Kreise überschneiden sich mehr oder weniger stark. Was die je zugehörige Kleidungsregel, die Körper- und Gesichtermoden angeht, dient die liberale Bildungselite, stark vertreten in Werbung und Journalismus, als Lautsprecher und Synthesizer der unterschiedlichen Trends. Hinzu kommt die Sonderklasse des Boulevards, der stilprägenden Gesellschaft aus Film‑, Fernseh- und Geldadelgrößen.
Flanieren zwei, drei Schauspielberühmtheiten mit frischem Vollbart über den roten Teppich oder eine Erbin mit Taschenterrier, wirkt das zuverlässiger auf die subalterne (aber sich keinesfalls als solche begreifende!) Masse als einstmals ein Edikt des Fürsten. Das Gefühl, zwanglos und unbeeinflußt zu agieren, bleibt dabei unangetastet. Keiner würde eingestehen, er trage Kapuzenpulli, Hornbrille oder Justin-Bieber-Tolle deshalb, weil das in der gewählten In-Group zu den Üblichkeiten zählt. Die Illusion des »ganz persönlichen« Geschmacks bleibt erhalten. Vorbei die Zeiten, da ein Bürgersproß allenfalls mit Anleihen aus dem Arbeiter- oder Intellektuellenmilieu einen zaghaften Klassensprung vornahm. Heute darf er zwischen den Rollen als zartbleicher Veganer, als Wickelpapa mit Umhängetasche, als urbaner Outdoorfetischist, als Träger von Sandalen oder von T‑Shirts mit Botschaften und vielem mehr wählen. Regression und Understatement sind in tonangebenden Kreisen dabei heute mehr en vogue als das sich nach »oben« streckende Gegenteil, das durch den Aufschneider und Hochstapler verkörpert wurde.
In ähnlichem und teils überschneidendem Maße wie die Demokratisierung hat die Kommerzialisierung auf die individuelle »Machbarkeit« der äußerlichen Mannesform hingewirkt. Der »gewaltige Warenhauszwinger« (Siegfried Kracauer) verführt und droht: Die übliche Männerhose kostet zwischen 50 und 70 Euro, das ist extrem erschwinglich. Und wer mag schon rumlaufen wie die Typen vom Vorjahr, wenn die Mode der coolen Jungs in den Magazinen und Bars heute einen völlig anderen Schnitt aufweist? Und wo das Switchen zwischen Rollenmustern (tags Bankerstil, anschließend Kiffer‑, Workout- oder cordlastiger, nach unten ausgestellter Handwerkerlook) so fraglos funktioniert? Sind es nicht 29,90 Euro pro Monat wert, den Körper im hervorragend ausgestatteten Fitneßstudio verbessern zu dürfen? Einmalig 80 Euro, um monatelang zu duften wie Filmstar XY!
Mittlerweile ist jeder sechste Kunde beim Schönheitschirurgen ein Mann. Da gibt es Möglichkeiten! Noch vor vier Jahren war es jeder zehnte. Zwei Generationen zuvor, als die ästhetische Chirurgie durchaus bereits brummte, hatte dieser Markt kaum männliche Klienten. Aber nun: Bauchstraffung bei Erhaltung und Neuplazierung des Nabels ab 4000 Euro – sollte man sich das nicht leisten? Weiter unten kann man sowieso in jede Richtung modellieren lassen wie an einer Plastik.
Die kapitalistische, post-industrielle Gesellschaft hat klassische Männerarbeiten obsolet werden lassen. Noch 1950 waren 25 Prozent der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig (bereits 1970 nur acht Prozent, heute sind Bauern weitgehend Industrielle, deren Angestellte die Knöpfe und Hebel bedienen), weitere Millionen schufteten unter Tage, mit schweren Maschinen. Das machte schwielige Hände, stämmige Waden und ein breites Kreuz. Die Dienstleistungsgesellschaft hat den Samtpfötchenmann hervorgebracht, der Tastaturen bedient, auf denen ebensogut manikürte Frauenhände tippen können (und dies auch tun). Diejenigen, die heute noch unter schmutzige Autos kriechen, den Preßlufthammer halten oder Müllsäcke aufladen, zählen nicht zur Klientel der magersüchtigen oder chirurgieaffinen Wunschkörperträumer. Die Lust an künstlich herbeigeführten Körpermodifikationen ist in diesem Milieu gleichwohl vorhanden. Der junge Facharbeiter, selten mehr als 35 Stunden pro Woche malochend, rasiert sich säuberlich den ganzen Körper, trägt schwer an den plugs in den Ohrläppchen, nimmt einen gewissen Schmerz und Kosten auf sich, um Oberarm und Waden tätowieren zu lassen, dito, was die Eigenleistung beim Training, Eiweiß- und Anabolikaverzehr im Kraftstudio angeht. Geschöntheit hat ihren Preis, sonst wäre sie nichts wert!
Letztlich ist das eine manipulative Abwandlung der überkommenen anthropologischen Konstante, wonach der äußere Vorschein klassischer Männlichkeitsinsignien zu einem höheren Paarungs- und Fortpflanzungserfolg führt: Kraft und Anstrengung, auf denen in früheren Zeiten die Muskeln, die straffe Haut und die verwegenen Körpermale beruhten, sind heute entweder eine bezahlte Auftragsarbeit, oder sie resultieren aus vollständig entfremdeter Arbeit, aus der Technik des Surrogats: Wer an Muskelmaschinen im Studio zerrt, erwirtschaftet ja kein Produkt, das über sein solipsistisches Selbst hinausginge. Der eigene Körper ist nicht Mittel, sondern Ziel.
Daß das Modische – abgesetzt vom natürlich Attraktiven – sich nicht um seine Funktionalität schert, gehört seit je zur Normalität des Trends. Neu ist zweierlei: Die Funktion der Alltagskleidung als Schutz vor äußeren Einflüssen (Wetter, Schmutz, mechanische Abwehr von arbeitsbedingter Unbill) ist nahezu aufgehoben. Hinzu kommt die Verfeinerung der Männermoden hin zum dezidiert unpraktischen, pflegedürftigen »Plus«. Der Körper des vorgestrig als »gestanden« geltenden Mannes war durch unterschiedliche Auswirkungen versehrt – hier eine Narbe, ein Mal aus Krieg, Kampf oder Gefangenschaft, dort die Schwielen von der harten Arbeit. Opfer, Entbehrung und Mühsal hatten den Körper gestählt, Spuren hinterlassen. Heute tun es metallene Ringlein, gegen Bezahlung durch die Haut gestoßen, Fetische und Symbole zweiter Klasse. Von der Dekadenz der Funktionslosigkeit zur dezidierten Behinderung, der Entfunktionalisierung ganzer Körperteile, ist es ein kleiner Schritt: In Hosen, die nahe den Kniekehlen hängen, kann man kein Rennen bestreiten, in schürsenkelbefreiten Schnürschuhen schlecht ausschreiten, mit dem Zeitnachteil eines obligatorischen Körperpflegeprogramms keinen Vorsprung gewinnen, mit einer Schüttelfrisur, die den Kopf in eine kokette Schiefhaltung zwingt, keinen klaren Blick bewahren.
Das offenkundige Fehlen des Zwecks und die direkte Dysfunktionalität der Moden verweisen direkt auf einen weiteren, elementaren Punkt: die Auflösung, Vermischung und zunehmende Fragwürdigkeit der geschlechtlichen Bedingtheit. Wo der Sinn der geschlechtlichen Zugehörigkeit sich im Rahmen der reproduktiven Selbstbestimmung entmaterialisiert hat, ist der Unisex-Stil und die Androgynisierung der Mode eine natürliche Folge des Unnatürlichen. Die kinderlose Frau und der Hosenanzug, sie ergeben ein Paar, das längst keine Kommentarspalte mehr wert ist.
Das Vordringen homosexueller Männer in die Popwelt besorgte ein übriges auf Seiten des anderen Geschlechts. Männer im heute heiratsüblichen Alter sind aufgewachsen mit popkulturellen Idolen wie Limahl, Boy George, den smarten, hellstimmigen Jungs von Wham!, Pet Shop Boys, Bronski Beat und Erasure, allesamt schwul. Der Körperkult der Schwulen (den man in früheren Zeiten als weibisch empfunden hätte) hat längst so weit ausgegriffen, daß Transformationstermini wie der des »Metrosexuellen« (leibhaftig geworden am behutsam gepflegten, doch definitiv heterosexuellen Körper eines David Beckham) keine Rolle mehr spielen.
Während bei weiblichen Schönheitsnormen eine generativ bedeutsame Konstante (die großen, weil nährenden Brüste; eine ausgeprägte Becken- und Hüftregion, weil »gebärfreudig«) im stillen stets weiterwirkten und auch durch Magermodeltrends nicht totzukriegen ist, kann der androgyne, zarte, schönheitsbewußte Mann durchaus punkten. Oft wird behauptet, daß solche Vorlieben dem Einfluß synthetischer Hormongaben (»Pille«) zu verdanken seien. Zahlreiche Studien haben ergeben, daß Frauen rund um den Eisprung einer urwüchsigeren Männlichkeit (dem potentiellen Versorgertyp also) zugetan sind, während sie außerhalb jener Zeiten – und gänzlich unter Einfluß der eisprungunterdrückenden Pille – dem modernen Poser den Vorzug geben. Schon weil eine intensivere männliche Affinität zu Moden historisch nicht belegt ist und gleichzeitig die heutige gesellschaftliche Akzeptanz von homosexuellen Männern ohne Beispiel ist, dürften homosexuelle Stilregeln heute als wegweisend gelten. Über die Hälfte der armen magersüchtigen Männer ist homosexuell veranlagt; das Internet ist voll von derartigen Kummerkästen.
Die Kontagiosität, das Ansteckungspotential solcher Modekrankheiten, ist notorisch. Die gängigen Überleitungsformeln von sex zu gender leisten ein Weiteres. Die herkömmlichen Assoziationen zum Bedeutungsfeld »Männlichkeit« sind flexibel geworden.
Der Großteil der neuen Männermoden ist mitnichten hausgemacht. Mann ist sichtbar weltweit vernetzt. Zahlreiche Ausprägungen modischer Männlichkeit schöpfen aus dem Fundus kulturfremder Üblichkeiten. Globalisierung (also Entgrenzung) und Re-Tribalisierung (im Grunde die symbolische Rück-Bildung von Stammeskulturen) gehen somit einher. Bei der globalen Orientierung hat man nicht nur den letzten Schrei aus New York »auf dem Bildschirm«, sondern gleichzeitig Formen und Praktiken, die ihren Ursprung in entlegenen Zeiten und Räumen haben. Die gängige Enthaarungspraxis – bei beiden Geschlechtern – etwa ist islamische Norm; Tätowierungen, Piercings und Brandings lassen sich als Retrokulte deuten, die an Initiationsriten indianischen, afrikanischen und ozeanischen Ursprungs erinnern.
Mannbarkeitsriten sind hierzulande nicht vorgesehen, nicht einmal mehr harmlose Zeichen wie der uniformierende Kurzhaarschnitt des Rekruten. Tastatur und Schalthebel verursachen auch bei exzessivem Gebrauch keine schwieligen Hände. Grübeln allein macht keinen Charakterkopf. Die Lesbarkeit des Leibes, einst ein gleichsam organischer, in den Lebensvollzug eingebetteter Vorgang, wird heute automatengleich hergestellt. Klingende Münze, berechenbarer Schmerz, verhandelbares Resultat. Leserichtung und dürftige Dechiffrierliste sind gleichsam mitgegeben. Glatte Leiber glätten die Welt. Durch den Ring gehört die Leine, als Führstrick. Muß man sich aufregen? Oder langweilen?