Die Herrschaft der Dinge

pdf der Druckfassung aus Sezession 54 / Juni 2013

Diese Frage bohrt seit langem: Wo stehen wir, wo steht unser Volk, wenn es sagen würde, was es denkt; wenn nicht das gefühlte Joch der Sprachverbote es drückte?

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Ein Bon­mot bügelt die Fra­ge hübsch glatt, wie Wäsche zwecks Zusam­men­fal­tung: Das Volk steht nicht links und nicht rechts, es steht an der Wurst­the­ke. Bei exis­ten­ti­el­len Fra­gen sagt man, es gehe um die Wurst, die Rede geht gleich­falls von dem, der »die Bröt­chen ver­die­nen« muß. Wurst und Bröt­chen, die­se Meta­pho­rik ist wenig geeig­net, die must haves des Jah­res 2013 zu spie­geln. Nicht, wer sich die But­ter unterm Käse schwer leis­ten kann, son­dern wer sich ver­schul­den muß beim Kauf des Zweit­s­mart­phones, gilt heu­te als bedürf­tig. Kon­sum­kri­tik ist ein alter Hut. Kon­sum­kri­tik ist halb retro (weil sie den aktu­el­len Zustand der mate­ri­el­len Welt, die auf das Immer­neue aus ist, hin­ter­fragt) und halb anti-retro, weil die Gefühls­la­ge der Retro-Freun­de auf einem Lebens­ge­fühl fußt, das Nach­hal­tig­keits­ver­dik­te nicht nur nicht kann­te, son­dern die Sorg­lo­sig­keit (betreffs Res­sour­cen­knapp­heit, Welt­kli­ma, Aus­beu­tung) ver­gan­ge­ner Gene­ra­tio­nen hoch­le­ben läßt.

Zwei sehr zeit­ge­nös­sisch mar­kier­te Autoren sind nun mit der aktu­el­len Lage des deut­schen Kon­sum­bür­gers befaßt. Wir fin­den sie weder rechts noch links, und sie beäu­gen das Ange­bot der Wurst­the­ke kri­tisch. Da ist zum einen Harald Wel­zer. Wel­zer mag einem erschei­nen wie das omni­prä­sen­te Igel­paar aus der »Hase- und Igel«-Geschichte. Igel sind bekannt­lich kei­nes­wegs die schnells­ten, doch wo immer auch der Hase in sei­nem Geschwin­dig­keits­rausch die Ziel­mar­kie­rung erreicht, da winkt gelas­sen einer der stach­li­gen Gesel­len her­vor: »Ick bün all dor!« Wel­zer, Jahr­gang 1959, hat in den ver­gan­ge­nen sechs, sie­ben Jah­ren mas­sen­wei­se Bücher geschrie­ben oder mit­ge­schrie­ben über »aktu­el­le Posi­tio­nen zeit­ge­nös­si­scher Kunst«, über »hirn­or­ga­ni­sche Grund­la­gen«, über »Kli­ma­lü­gen« und über die »Ver­bes­se­rung der Geis­tes­wis­sen­schaf­ten«; viel beach­tet wur­de sein mit Sön­ke Neit­zel her­aus­ge­ge­be­nes Buch Sol­da­ten (2011), das die Abhör­pro­to­kol­le deut­scher Kriegs­ge­fan­ge­ner aus­wer­te­te. Wel­zer kennt sich also aus, mit fast allem.

Er hat eine eige­ne Pro­fes­sur kre­iert – Trans­for­ma­ti­ons­de­sign –, er hat eine Stif­tung namens »Futur zwei« ins Leben geru­fen, die sich dem Nach­hal­tig­keits­ge­dan­ken ver­pflich­tet weiß. Die ent­spre­chen­de Netz­sei­te befrie­digt Spiel­trie­be und zeigt necki­sche Video­clips wie den mit der Schau­spie­le­rin Chris­tia­ne Paul, die sich im Muse­um um die Ent­sor­gung ihres Papp­kaf­fee­be­chers sorgt und dazu ein­fach mal »den Harald« anruft. (Der beschei­nigt Frau Paul sinn­ge­mäß, es sei okay, daß sie sich sol­che Gedan­ken mache.)

Wel­zers aktu­el­les Buch, bes­ser: eine sei­ner Neu­erschei­nun­gen des Jah­res 2013, steht nun beharr­lich mit schrei­en­den Groß­buch­sta­ben oben auf den Ver­kaufs­lis­ten: Selbst Den­ken. Anlei­tung zum Wider­stand (Frank­furt a.M.: S. Fischer. 336 S., 19.99 € ), was ein wenig den Geruch wohl­fei­ler Wut­bür­ge­rei im Sti­le von Empört Euch! und ähn­lich gän­gi­gen Bas­ta-Tira­den ver­strömt. Die­ser Wel­zer jedoch hat sich gewa­schen, und wie! Einer, der die Wel­len zu rei­ten ver­steht wie die­ser Autor, zieht sich das Gewand des gran­teln­den Kul­tur­pes­si­mis­ten natür­lich nicht an. Er besteigt den Tiger und liest dem Biest dabei die Levi­ten, tumul­tua­risch und elo­quent, ein Cow­boy beim Rodeo. Das hät­te man nicht erwartet!

Frei­lich, Wel­zer ist ein »Öko«, er hat zuvör­derst die Wachs­tums­ideo­lo­gie mit ihrer wuchern­den Pro­dukt­welt im Blick, doch darf man die Scha­blo­ne, die er zwecks Ent­zif­fe­rung von des­sen Strick­mus­ter auf den con­su­mer citi­zen, den Kon­sum­bür­ger, legt, getrost auf wei­ter­ge­faß­te Berei­che über­tra­gen. Wel­zers Kla­ge, daß wir mehr ver­brau­chen, als wir zu schöp­fen imstan­de sind, ist nicht neu. Dem Sys­tem sei­en die Vorraus­set­zun­gen abhan­den gekom­men, auf die es gebaut ist: eine Abwand­lung der Böcken­för­de-Dok­trin. Das »Stäh­ler­ne Gehäu­se der Hörig­keit«, als das noch Max Weber den Kapi­ta­lis­mus faß­te, ist heu­te zu einer über­aus smar­ten Zel­le gewor­den: Wir haben uns frei­wil­lig in die Gum­mi­wän­de (vul­go »sozia­len Netz­wer­ke«) der Hörig­keit bege­ben; im Zeit­al­ter von Face­book ist kei­ne Gesta­po oder Tsche­ka vonnöten.

Nicht nur, daß wir uns unauf­ge­for­dert durch­schau­bar, ort­bar, mög­bar gemacht haben, wir las­sen uns umge­kehrt auch intel­lek­tu­ell fremd­ver­sor­gen. Der con­su­mer citi­zen gestal­tet nicht, er reagiert nur, er ist nicht sou­ve­rän. Wo er ethisch und poli­tisch kor­rekt kon­su­miert (Wel­zer spricht von der »begrün­ten Ver­schwen­dungs­kul­tur« und der »Irgend­was-für-Afri­ka-Indus­trie«), kon­su­miert er zusätz­lich Moral und Ideo­lo­gie. Die­se Frei­heit des Koof­mi­chels »ent­spricht unge­fähr der Frei­heit des Nil­pfer­des im Zoo, sich lie­ber vom einen Wär­ter statt vom ande­ren füt­tern zu lassen.«

Wel­zers dich­te, kennt­nis­rei­che und über­dies geschlif­fen for­mu­lier­te Wut­schrift ist mit ein paar Bil­dern bestückt. Non­cha­lant ist ein Pho­to mit »Frei­zeit­idio­ten« unter­ti­telt. Wir sehen ein halb fröh­lich, halb ange­strengt bli­cken­des Paar in den bes­ten Jah­ren, das in Pro­fi­mon­tur einen soge­nann­ten Klet­ter­gar­ten absol­viert. Das lächer­li­che Bild steht sym­pto­ma­tisch für die Groß­klas­se jener letz­ten Men­schen, die zwin­kernd dem Abgrund ent­ge­gen­lä­cheln, die sich tech­nisch und »sozi­al« stets auf den neus­ten Stand hoch­rüs­ten, die sich den Haus­halt mit Din­gen voll­stel­len, von denen sie kurz zuvor nicht mal ahn­ten, daß sie sie benö­ti­gen: zehn Mil­lio­nen Flach­bild­schir­me, eine Mil­li­on Kaf­fee­kap­sel­au­to­ma­ten (neu: die Öko­kaf­fee­kap­sel!) wur­den laut Wel­zer 2012 ver­kauft! Es scheint, als könn­te die­ses sich selbst wun­der­bar sta­bi­li­sie­ren­de Sys­tem ewig fortdauern.

Wel­zer warnt: Sys­te­me kön­nen »lan­ge über ihr Ver­falls­da­tum hin­aus exis­tie­ren, um dann wie ein von Ter­mi­ten aus­ge­höhl­tes Haus geräusch­los zusam­men­zu­bre­chen.« Der Markt gene­rie­re nicht allein mate­ri­el­le Bedürf­nis­se, er habe auch das Sozia­le okku­piert und die Wis­sen­schaft: »Wer in die­sem Sys­tem ›etwas wird‹«, so Wel­zer, dür­fe vom markt­för­mi­gen Auf­stiegs­pfad nicht abge­wi­chen sein, müs­se sich in ein­fluß­rei­che Arbeits­zu­sam­men­hän­ge ein­ge­paßt haben: »Daß man zum Bei­spiel durch das Ver­fas­sen einer ›Enzy­klo­pä­die des Holo­caust‹ beim Kampf um einen Lehr­stuhl punk­ten kann«, das sei Wel­zer als jun­gem und nai­vem Wis­sen­schaft­ler noch abson­der­lich vor­ge­kom­men. Dem Kon­su­mis­mus eig­ne das Poten­ti­al, jeg­li­che kri­ti­sche Gegen­be­we­gung zu absor­bie­ren. Die »unbe­grenz­te Geschmei­dig­keit kapi­ta­lis­ti­scher Aneig­nung« betref­fe auch poli­ti­sche Protestformen.

Hier trifft sich Wel­zers Ana­ly­se mit der Wolf­gang Ull­richs, der davon aus­geht, daß eine künf­ti­ge Dik­ta­tur durch Image­re­dak­teu­re und Pro­dukt­de­si­gner gestützt wür­de. Ull­rich, Jahr­gang 1967 und Pro­fes­sor für Medi­en­theo­rie, hat­te gemein­sam mit Peter Slo­ter­di­jk und Bazon Brock, also als »quer­den­ke­risch« gel­ten­den Phi­lo­so­phen, sei­nen Hörern unlängst im Rah­men einer mehr­se­mes­tri­gen Vor­le­sungs­rei­he ein Diplom zum »Pro­fi-Bür­ger« feil­ge­bo­ten. Die drei Scharf­den­ker eint rezep­ti­ons­tech­nisch die Ver­mu­tung, daß man nicht sicher sein kann, ob hier Zyni­ker am Werk sind, die sehen­den Auges die tra­gi­sche Wirk­lich­keit affir­mie­ren, um inner­halb des gege­be­nen Sys­tem­zu­sam­men­hangs hier und da def­tig wider den Sta­chel löcken zu kön­nen. Auch ein Marktmechanismus!

Ull­rich (Alles nur Kon­sum. Kri­tik der waren­äs­the­ti­schen Erzie­hung, Ber­lin: Wagen­bach 2013. 205 S., 11.90 €) hebt – schnei­dend wie Wel­zer, aber ohne des­sen Furor, statt des­sen distan­ziert – auf den Kunst­cha­rak­ter und den Erzie­hungs­wert der Kon­sum­pro­duk­te ab. ­War­um, so fragt er pro­vo­kant und ent­ge­gen Wel­zers Inter­pre­ta­ti­on, soll­te man den Kon­su­men­ten in einem Ent­frem­dungs­zu­sam­men­hang, in einem Zustand waren­mä­ßi­ger Kolo­ni­sie­rung begrei­fen? War­um sei die Insze­nie­rung eines Pro­dukts eine Täu­schung, war­um wer­de die­se »Form der Über­wäl­ti­gung« anders als bei aner­kann­ten For­men der Kunst (Bel­le­tris­tik, Thea­ter) als Betrug und Ent­mün­di­gung bewer­tet? Den Schein, das Image eines käuf­li­chen Dings müs­se man nicht als Mani­pu­la­ti­on sehen, man möge es unter den Mög­lich­kei­ten ästhe­ti­scher Fik­ti­on wer­ten. Was nach einem Bekennt­nis zur bun­ten Waren­welt, nach einer Wür­di­gung von Kon­sum­din­gen als »emo­tio­na­len Bio­gra­phie­mar­kern« klingt, liest sich im wei­te­ren Ver­lauf als spie­le­ri­sche Freu­de an intel­lek­tu­el­ler Spitzfindigkeit.

Ull­rich hat Pho­tos von Regal­wän­den mit Pro­duk­ten geschos­sen, er beschreibt genüß­lich die schnit­ti­ge Aero­dy­na­mik eines Fahr­rad­helms namens Mythos (»wer ihn nur sieht, ver­fällt sofort in einen Geschwin­dig­keits­rausch«; Kon­kur­renz­pro­duk­te hei­ßen Revo­lu­ti­on, Maniac und Tore­ro) und die Gene­se eines Grund­nah­rungs­mit­tels – Was­ser in Fla­schen – zu einer luxu­riö­sen Sub­stanz, die exklu­si­ve Erleb­nis­se zu berei­ten imstan­de ist. Je teu­rer, je seman­tisch auf­ge­la­de­ner, des­to wir­kungs­vol­ler. Wir, die Kon­su­men­ten, wol­len es so! Nicht die Indus­trie dik­tiert, son­dern der Käu­fer treibt das Busi­ness an! Der Kun­de ist König, sagt Ull­rich. Der Thron ist aus Pap­pe, sagt Wel­zer. Nie­mand zwingt uns, sagen bei­de. Nur: wer ist so frei, zu han­deln, als ob ihn nie­mand zwän­ge? »Das gute Leben muß man lei­der auch gegen sich selbst erkämp­fen« (Harald Welzer).

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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