Schätzungsweise 320 Tage im Jahr rede ich allein mit den engsten Familienangehörigen, daneben mit den Ziegen, Hühnern und Enten. Zur Zeit abends, dann im strengeren Ton, auch mit den Schnecken. Die sammele ich mit bewährten Lockrufen ein, von den Rote-Beete-Blättern, von den Kürbissen, dem Salat und den Engelstrompeten. Diese eigentlich unschönen Monstergewächse aus den Vorgärten von Reihenhaussiedlungen haben sich zufällig im Garten ausgebreitet, mitleidig habe ich sie an der Hauswand ausgepflanzt, dort, wo sonst nichts wachsen will. Dann kommen die Schnecken in einen Eimer, Deckel drauf. Dort können sie in den folgenden zehn Stunden ihre schleimigen Sexspielchen treiben, bis sie morgens ausgeschüttet und von den Entenküken freudig begrüßt werden. 27 von 28 Entenküken leben noch, das frechste hat sich ins Hühnergehege durchgemogelt und ist dort zu Tode gepiesakt worden, trauriger Vorgang..
Meine Außenkontakte sind also spärlich. Sie häufen sich nur vor Weihnachten und vor Sommerferienbeginn. Dann nämlich stehen die Klassenversammlungen an, die Nikolauspokalwettkämpfe und die Kreisjugendsportspiele, die Zeugniskonferenzen und die Cello- und Flötenvorspiele. Da geh ich unter Leute, da träumen mir nachts konfuse Sachen. Ein paar völlig unzusammenhängende Eindrücke:
+ Unsere Sechsjährige hat öfters von einer Klassenkameradin erzählt, die über eine gigantische Monster-Hai-Sammlung verfügen soll. Diese Monster Hai-Dinger sind anscheinend ziemlich populär gerade. Nun führt die Klasse ein hübsches Stückchen zum Abschlußfest auf, einen Afrikanertanz. Jahresmotto war nämlich „Eine Welt“. Alle Schüler außer unserer Tochter (wir kamen leider etwas zu spät) haben ein dunkelbraun geschminktes Gesicht. Ein wunderschöner Regentanz, rhythmusbetont, wird gesungen und getrommelt. Die Kritische-Weißseins-Forschung und ihr Blackfacing-Verdikt sind in der Provinz noch nicht angekommen. Ich klatsche ehrlich begeistert.
Meine Tochter stellt mir die Freundin mit den Monster-Haien vor. Ich bin erstaunt. Ein zartes, liebes Blondmädchen, rosa gewandet. Aha!, denke ich, hier sorgt anscheinend der Gender-Irrsinn für erhebliche Konfusionen. Ein richtiges Mädchen-Mädchen, Niedlichkeit pur. Der Mainstream ists, der sie so Zeug sammeln läßt, solche Ungetümer: Monsterhaie! Zufällig hat die Süße, das stellt sich später raus, ein Exponat dabei. Es ist eine Art Barbiepuppe, gestalttechnisch auf die Spitze getrieben. Das „Spielzeug“ nennt sich Monster High und ist ein billiges, glotzendes Nüttchen, eine Plastikpuppe mit Kulleraugen, Minirock und extremen Stöckelschuhen. Auf dem Kopf neckische Teufelshörnchen.
+ Schulfest bei den Großen. Mitgelauschte Satzfetzen: Eine auffallend hübsche Zehntkläßlerin schwärmt von „den Schwarzen“. Findet, die sehen einfach durchweg cool aus. Anmutig, voller Würde. „Ich wär ja total gern eine Schwarze. Das Allermindeste ist aber, daß ich mal von einem Schwarzen ein Kind krieg. Stell ich mir total süß vor.“ Ich frag die Töchter: Was ist das denn so für ein Mädel? Sagt die eine: Sehr nett. Ziemlich intelligent. Immer voller Ideen. Entgegnet die andere: Nett, ja, vor allem aber völlig naiv. Vor ein paar Monaten wollte sie am liebsten eine Chinesin sein, mindestens aber ein chinesisches Kind.
+ Abschlußfest bei der Mittleren. Meine Lieblingsklasse, nur nette Eltern. Gespräche übers Gärtnern. Daß dieses Jahr alles so spät dran sei. Daß die Karotten nicht kommen, nirgends. Daß die Kirschen aber wurmfrei sein, was ich bestätige. Wieder fünfzig Gläser eingemacht, ein Höllenspaß! Ohne Kinder und ohne die Notwendigkeit, Zeit mit ihnen zu verbringen, würde ich, naja, vielleicht zwei Gläser einkochen. Wenn überhaupt. Dann: „Aber das ganze andere Ungeziefer! Das ist dieses Jahr unglaublich! Hatten wir früher nicht. Zu DDR-Zeiten. Da gab´s das alles nicht. Kartoffelkäfer, Kohlfliegen. Und Zecken. Die Hunde sind voll davon. Und die Katzen. Gab´s alles nicht, damals.“ Ich hake nach: Es gab vor fünfundzwanzig Jahren wirklich keine Zecken? Lachen: „Ja, mal eine. Oder zwei. Im Jahr!“ Wie kann das sein? Es sei alles gründlicher gewesen, damals. Die Böschungen abgefackelt, Kroppzeuch nicht zugelassen. Und von wegen, so´n bißchen Strohfeuer im Herbst hätte die Biologie zersört. Ach wo. Hat alles funktioniert, damals.
+ Kaufhalle, wenn man eh mal im Städtchen ist. Scheue ich sonst, macht mich schlagartig depressiv. Wenn, dann richtig, Einkaufswagen deutlich über maximaler Füllhöhe. So, daß die Leute gucken und den Kopf schütteln, mich eventuell für eine Extrem-Bulimikerin halten. Steht mir ja nicht auf der Stirn geschrieben, daß es hierbei um die Versorgung eines Neun-Personen-Haushalt geht. An der Kasse hinter mir eine beträchtliche Schlange. Im Getränkemarkt an der Kasse vor mir zwei bullige Typen mit Glatze, von Kopf bis Fuß tätowiert. Bei einer Elternversammlung neulich hatte eine Drogenpräventionsdame aus Halle kurz eingeflochten, daß Querfurt, unser Städtchen also, ein notorisch „rechtes Nest“ sei. War mir in den vergangenen elf Jahren völlig entgangen.
Die zwei Männer also hieven mit ihren halb speckigen, halb muskulösen, jedenfalls stark verzierten Armen, zwei Bierkästen „Zwergenbräu“ auf den Tresen. Es ist die billigste Sorte, 5.99 pro Kasten, schmeckt aber passabel. „Hier ham wer also zwee Kästen von dem Juden-Gebräu“, kommentiert die Kassiererin jovial. Die Männer lachen dröhnend. Ah, man lacht hier also über eine anscheinend jüdische Brauerei, so ordne ich den bizarren Vorfall ein. Einer der Glatzköpfe öffnet den Geldbeutel, nein, keine Partnership-Karte zum Punktesammeln, ein Schein wandert in die Kasse der ulkigen Angestellten, eine beleibte Frau, vielleicht Mitte fünfzig. Ich mache mir meine Gedanken. Wie die eigentlich drauf ist? Male mir kurz ihren Lebenshintergrund aus. Ob sie Mitglied einer Partei ist? Ob sie vielleicht einen Sohn im „Milieu“ hat? Wie sie sorgenlos dazu kommt, eine derart außergewöhnliche Bemerkung an zwei augenscheinlich Unbekannte zu richten? Als wenn es gar nichts wär´! Die Herren haben ihr Wechselgeld erhalten, da fragt der eine nach: „Aber wie ham se das eechentlich jemeint, mit den Juden? Ist Zwergenbräu denn wirklich jüdisch?“ Da lacht die Jute herzlich: „ Ich hab jesacht: von dem juten Gebräu, Mensch!! So strikt hochdeutsch sprech mer hier doch alle nich!“
Carsten
Herrliche Geschichten! Neulich las ich in der Lokalzeitung: "Gauleitung beschädigt!" Nach dem zweiten ungläubigen Hinsehen stand dort: Gasleitung beschädigt.