„die Landsleute“, und trotzdem fühlt man sich ganz fremd, nicht zugehörig, weil sie nichts von den Sorgen kennen oder auch bloß ahnen, die man an so einem Hochsommernachmittag haben kann, obwohl die Kinder schwimmen und sich nicht streiten, und im flachen Wasser kühlt eine Flasche Bier.
Vielleicht wäre es besser, nicht unter den eigenen Leuten zu sitzen, sondern unter anderen, in Kroatien beispielsweise, oder in Spanien, dann fände sich gleich ein außerhalb liegender Grund für die Fremdheit. Jetzt aber steigt sie von innen heraus auf und ist nicht mehr wegzukriegen, egal wie man sich müht.
Denn unter dem See, unter dem schmalen Streifen schlickigen Sandes, unter dem Rasenhang mit den paar Büschen und dem Häuschen der Wasserwacht verlaufen Gänge, in denen Kubins wildgewordenes Pferd hin- und hergaloppiert. Vorne, die Leute am Wasser haben keine Ahnung von diesem Tier und von der „anderen Seite“, und jeder Versuch, ihnen beizubringen, daß unter der Oberfläche manches vonstatten geht, das nicht in der Ordnung ist, scheitert daran, daß man manches nur hören kann, wenn man weiß, wie die Dinge eigentlich liegen müßten.
Also sitzt man da herum und hört als einziger so ein Getrampel im Untergrund, und das ist das Herannahen eines Krisentsunamis, einer großen Erschütterung jedenfalls, und man spürt, es gibt einem etwas, daß man als einer der Wenigen darauf vorbereitet ist. Man möchte in dem Moment, in dem eintritt, was man da unten schon seit langem näherkommen hört, beobachtet sein, also keinesfalls nur so für sich sein, wenn etwas passiert, das alle schockiert, weil sie nicht hellhörig genug waren.
Man möchte sofort bemerkt, erkannt und umringt werden, man möchte spüren, daß man plötzlich im Recht ist und daß alle anderen sich geirrt haben, und dann möchte man innerhalb dieses jäh sich Raum verschaffenden Eingeständnisses eines großen Irrtums um Rat gefragt werden.
Es vergeht eine weitere Viertelstunde, man ist weiterhin der einzige, der in der Gewißheit ohne Täuschungen herumsitzt, daß „unsere Leute“ zu etwas geworden sind, wofür wir sie bis heute nicht halten. Das Gefühl, auf einer Hohlwelt zu sitzen, ist übermächtig, und es muß jetzt etwas passieren, Ted Kaczynski brach durch die Decke, Major Dobsa ließ sich von einem Toten fahren, Dominique Venner stellte sich neben den Altar, das ist ja alles ausgeschlossen.
Man sitzt auf einem Fleck Erde, das ist ein Anfang, und die Neugier kann geweckt werden, denn da wächst eine hartnäckige, unbekannte Pflanze, vielleicht wächst sie nur hier. Mal abreißen und nachher bestimmen. Mal wieder neugierig sein und Geobotanik betreiben, wie früher im Studium: diese nach Geopolitik klingende Bezeichnung für ein Nischenwissensgebiet, angesiedelt zwischen Geographie, Pflanzenlehre und Ökologie. Was gedeiht wo, auf welchem Untergrund und unter welchen Bedingungen? Besonders interessant: Zeigerpflanzen. Das sind so Gewächse, die durch ihr bloßes Dasein anzeigen, worin sie wurzeln müssen. Gibts ein paar Dutzend in Deutschland.
Vielleicht ist das Herumsitzen am See, das vor allem ein Verpassen des Sees ist, bloß eine Sehnsucht nach Tiefgang und nach einer bestimmten Art „großer Frage“, die sich nicht mehr stellt. Der irre Gaul, der in Kubins Welt unterirdisch durch die Gänge jagt, den gibt es gar nicht, und man muß bloß aufstehen und aus dem Schatten treten: Dann ist dort der Parkplatz, und dahinter geht die Straße entlang, auf der wie immer die Autos zur Kleinstadt fahren oder von ihr kommen.
Die Leute, die darin sitzen, sind alle sehr zufrieden und haben kein Bedürfnis nach Antworten auf große Fragen. Die Hälfte biegt ins Gewerbegebiet ein, um bei real den Wochenendeinkauf zu erledigen und sich ganz ohne Selbstironie von ein paar Angeboten kurz vor der Kasse noch verführen zu lassen: einem Billigrasensprenkler oder einem Billigfliegenvorhang mit Magnetverschluß oder einem Billigeinmalgrill für die bisher nie begehrte, jetzt aber mögliche Zwischenmahlzeit auf irgendeinem Autobahnrastplatz.
Man kann wieder lachen. Die große Erschütterung – sie wird nicht kommen. Zu viel Geld, zu wenig Mut, zu wenig Not, zu wenig Ausweglosigkeit, zu viel weiße Scham, historische Last, zu viel Raum, zu wenig Volk. Da ist keine „schweigende Mehrheit“, deren Wut- und Kraftüberschuß nach einem Ventil sucht. Das bißchen, was abfließen muß, hat jetzt in der AfD sein Auffangbecken. So einfach ist das.
Georg Mogel
Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
Er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
Die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
Kommt er dem armen Vogel näher.
Der Vogel denkt: Weil das so ist
Und mich doch der Kater frißt,
So will ich keine Zeit verlieren,
Will noch ein wenig quinquilieren
Und lustig pfeifen wie zuvor.
Der Vogel, scheint mir, hat Humor.
Wilhelm Busch