Mit diesem Hinweis auf den Standpunkt der höchsten politischen Autorität leitete Thomas Mann im Jahre 1907 seinen Beweisgang ein, daß im deutschen Leben das Theater nicht nur ernsthafter Bildungsfaktor sei, sondern dereinst auch die Erbschaft der Kirche antreten und als Tempel dienen könnte. Manns Vorhersage ist vom Lauf der Dinge in den letzten hundert Jahren widerlegt worden.
Nicht nur in der westlichen Welt haben im 20. Jahrhundert Kino und Filmkunst die erträumte Rolle des Theaters übernommen. Diesen Wechsel des Mediums verkörperte keine Gestalt deutscher Kunst anschaulicher als die große Mime Heinrich George (1893–1946). George kam aus der Theaterwelt des deutschen Kaiserreichs, stieg auf zum vielleicht bedeutendsten deutschen Schauspieler und ging mit dem Dritten Reich, in dem er Triumphe feierte, schicksalhaft unter. Seitdem ist seine darstellerische Urkraft fast vergessen, oder sein tragisches Ende (er verstarb in Sachsenhausen, einem Lager des sowjetischen Geheimdienstes NKWD) wird volkspädagogisch verwerte – gäbe es nicht seinen Sohn Götz George und den Regisseur Joachim Lang.
Götz George, der jüngere der zwei Söhne Heinrich Georges, ist als volksnaher Tatort-Kommissar Schimanski und Akteur in zahllosen Kinoproduktionen einem großen Publikum bekannt und einer der wenigen wirklichen Stars der bundesdeutschen Schauspielergarde. Wenn die ARD Götz George nun zu seinem 75. Geburtstag am 23. Juli mit einer aufwendigen Produktion (beteiligt waren SWR, Arte, WDR, RBB, NDR) ehrt, die das Leben seines problematischen Übervaters thematisiert, dann darf man gespannt sein (Mittwoch, 23. Juli, 21.45 Uhr). Wenn zudem der Sohn den eigenen Vater spielt und sich mit dem heiklen Thema der exponierten Stellung Heinrichs im Nationalsozialismus auseinanderzusetzten versucht – dann muß man aufhorchen. Daß George sich einer all zu zeitgemäßen, gar dem eindimensionalen Bewältigungszeitgeist von 1968 verpflichteten Bearbeitung unterstellt hätte, braucht der Zuschauer nicht zu befürchten.
Der Autor und Regisseur des Doku-Dramas, der sich seit zwölf Jahren mit dem Thema beschäftigt und in Archiven im In- und Ausland geforscht hat, beansprucht, den neuesten Stand der Erkenntnisse über Heinrich George zu präsentieren, ja das George-Bild selbst soll präzisiert werden. Mit einer Verbindung von Original‑, Dokumentar- und Spielfilmszenen will der Drehbuchautor „nicht nur eine Wirklichkeit zeigen“, sondern das Themenfeld perspektivisch ausleuchten. Zahlreiche Zeitzeugen, Freunde Georges und auch Leidensgefährten aus den NKWD-Lagern kommen zu Wort, deren Aussagen zu den interessantesten Bausteinen des Films gehören.
Bewußt vermeidet Lang eine geschlossene Spielhandlung mit einer vermeintlich objektiven Wahrheit und erwartet von dieser offenen Form, daß der Zuschauer sich mit seinem eigenen Urteil einschaltet. Wenn Götz George im Zusammenhang mit den letzten Worten des sterbenden Vaters sagt: „Man kann ja da deuten, was man will“, so ist dies durchaus als das Credo des Films zu verstehen. Subtile Motivketten legen den Gedanken nahe, der Filmkünstler Lang agiere wie vormals seine Kollegen in der DDR, wenn auch unter völlig anderen Bedingungen.
Das Gerüst des vielschichtigen, über hundert Minuten dauernden Films besteht aus fast zwanzig Verhörszenen im NKWD-Gefängnis, die von unterschiedlichen Beiträgen und szenischen Ausflügen unterbrochen werden, um dem Zuschauer Verstrickungen und Größe des Heinrich George vor Augen zu führen. Der sowjetische Geheimdienstoffizier Bibler ermittelt gegen George, befragt ihn, läßt in verprügeln, hört gebannt zu, zieht Zeugen und Denunzianten heran, verdreht Aussagen und setzt Befehle um, damit auch dieser „Nazi“ dingfest gemacht werde. (George wurde von Rußland übrigens schon im Jahre 1998 offiziell rehabilitiert.)
Warum einige aufschlußreiche russischsprachige Dialoge nicht durch Untertitel erhellt werden, mag das Geheimnis des Drehbuchautors bleiben. In all diesen Szenen und ihren geschickten Verschränkungen, darin liegen Anspruch und Versprechen des Doku-Dramas als Filmformat – einer originär westdeutschen Erfindung –, geht es um die „Wahrheit“ und die damit notwendig verbundenen ständigen Interpretationen unterschiedlichster Tatsachenarten. Das erzeugte Gesamtbild und die evozierten Meinungsgefühle des Zuschauers erfordern in der Tat ein urteilsfähiges Publikum. Darin liegt logisch notwendig die Forderung, sich diesen durchaus packenden Film ein zweites Mal anzuschauen.
Gegen Ende des Drittels des Films gibt es eine über das Werk hinausweisende Schlüsselszene, als Götz George allein auf der Bühne des Schiller-Theaters stehend die Eröffnungsrede seines Vaters vom 15. November 1938 mit einer Überlegung unterbricht, die als sein emotionales Testament bezeichnet werden kann. Dabei sagt er, wie beiläufig: „Wenn Du hier [auf der Bühne] stehst, für mich ist es was viel Aufregenderes und was viel Heiligeres als die Kirche“.
Ob Götz George, die verantwortlichen Köpfe des Films und des geldgebenden medialen Komplexes wissen, wie nahe sie heute allesamt der in einem gewissen Sinne allzu deutschen, wirklichkeitsfremden Ansicht des seinerzeit 32-jährigen Thomas Mann stehen? Noch immer soll eine überanstrengte, ihr Wesen damit verfehlende Kunst und nicht die Wissenschaft das weite Feld der historischen Wirklichkeit bestellen. Das Signum des bundesrepublikanischen Geisteslebens – die Ausschaltung Ernst Noltes aus der wissenschaftlichen Diskussion – ist allgegenwärtig. Das Filmformat ist das Kompensat.
Sendehinweis: Mittwoch, 24. Juli, 21.45 Uhr (Arte strahlte das Dokudrama bereits gestern aus.)