75 Jahre Götz George – Film über den Vater Heinrich George

von Thomas Kuzias

„Noch neulich hat der deutsche Kaiser gegen eine französische Schauspielerin geäußert: wie die Universität die Fortsetzung des Gymnasiums sei, so sei uns die Fortsetzung der Universität das Theater.“

Mit die­sem Hin­weis auf den Stand­punkt der höchs­ten poli­ti­schen Auto­ri­tät lei­te­te Tho­mas Mann im Jah­re 1907 sei­nen Beweis­gang ein, daß im deut­schen Leben das Thea­ter nicht nur ernst­haf­ter Bil­dungs­fak­tor sei, son­dern der­einst auch die Erb­schaft der Kir­che antre­ten und als Tem­pel die­nen könn­te. Manns Vor­her­sa­ge ist vom Lauf der Din­ge in den letz­ten hun­dert Jah­ren wider­legt worden.

Nicht nur in der west­li­chen Welt haben im 20. Jahr­hun­dert Kino und Film­kunst die erträum­te Rol­le des Thea­ters über­nom­men. Die­sen Wech­sel des Medi­ums ver­kör­per­te kei­ne Gestalt deut­scher Kunst anschau­li­cher als die gro­ße Mime Hein­rich Geor­ge (1893–1946). Geor­ge kam aus der Thea­ter­welt des deut­schen Kai­ser­reichs, stieg auf zum viel­leicht bedeu­tends­ten deut­schen Schau­spie­ler und ging mit dem Drit­ten Reich, in dem er Tri­um­phe fei­er­te, schick­sal­haft unter. Seit­dem ist sei­ne dar­stel­le­ri­sche Urkraft fast ver­ges­sen, oder sein tra­gi­sches Ende (er ver­starb in Sach­sen­hau­sen, einem Lager des sowje­ti­schen Geheim­diens­tes NKWD) wird volks­päd­ago­gisch ver­wer­te – gäbe es nicht sei­nen Sohn Götz Geor­ge und den Regis­seur Joa­chim Lang.

Götz Geor­ge, der jün­ge­re der zwei Söh­ne Hein­rich Geor­ges, ist als volks­na­her Tat­ort-Kom­mis­sar Schi­man­ski und Akteur in zahl­lo­sen Kino­pro­duk­tio­nen einem gro­ßen Publi­kum bekannt und einer der weni­gen wirk­li­chen Stars der bun­des­deut­schen Schau­spiel­ergar­de. Wenn die ARD Götz Geor­ge nun zu sei­nem 75. Geburts­tag am 23. Juli mit einer auf­wen­di­gen Pro­duk­ti­on (betei­ligt waren SWR, Arte, WDR, RBB, NDR) ehrt, die das Leben sei­nes pro­ble­ma­ti­schen Über­va­ters the­ma­ti­siert, dann darf man gespannt sein (Mitt­woch, 23. Juli, 21.45 Uhr). Wenn zudem der Sohn den eige­nen Vater spielt und sich mit dem heik­len The­ma der expo­nier­ten Stel­lung Hein­richs im Natio­nal­so­zia­lis­mus aus­ein­an­der­zu­setz­ten ver­sucht – dann muß man auf­hor­chen. Daß Geor­ge sich einer all zu zeit­ge­mä­ßen, gar dem ein­di­men­sio­na­len Bewäl­ti­gungs­zeit­geist von 1968 ver­pflich­te­ten Bear­bei­tung unter­stellt hät­te, braucht der Zuschau­er nicht zu befürchten.

Der Autor und Regis­seur des Doku-Dra­mas, der sich seit zwölf Jah­ren mit dem The­ma beschäf­tigt und in Archi­ven im In- und Aus­land geforscht hat, bean­sprucht, den neu­es­ten Stand der Erkennt­nis­se über Hein­rich Geor­ge zu prä­sen­tie­ren, ja das Geor­ge-Bild selbst soll prä­zi­siert wer­den. Mit einer Ver­bin­dung von Original‑, Doku­men­tar- und Spiel­film­sze­nen will der Dreh­buch­au­tor „nicht nur eine Wirk­lich­keit zei­gen“, son­dern das The­men­feld per­spek­ti­visch aus­leuch­ten. Zahl­rei­che Zeit­zeu­gen, Freun­de Geor­ges und auch Lei­dens­ge­fähr­ten aus den NKWD-Lagern kom­men zu Wort, deren Aus­sa­gen zu den inter­es­san­tes­ten Bau­stei­nen des Films gehören.

Bewußt ver­mei­det Lang eine geschlos­se­ne Spiel­hand­lung mit einer ver­meint­lich objek­ti­ven Wahr­heit und erwar­tet von die­ser offe­nen Form, daß der Zuschau­er sich mit sei­nem eige­nen Urteil ein­schal­tet. Wenn Götz Geor­ge im Zusam­men­hang mit den letz­ten Wor­ten des ster­ben­den Vaters sagt: „Man kann ja da deu­ten, was man will“, so ist dies durch­aus als das Cre­do des Films zu ver­ste­hen. Sub­ti­le Motiv­ket­ten legen den Gedan­ken nahe, der Film­künst­ler Lang agie­re wie vor­mals sei­ne Kol­le­gen in der DDR, wenn auch unter völ­lig ande­ren Bedingungen.

Das Gerüst des viel­schich­ti­gen, über hun­dert Minu­ten dau­ern­den Films besteht aus fast zwan­zig Ver­hör­sze­nen im NKWD-Gefäng­nis, die von unter­schied­li­chen Bei­trä­gen und sze­ni­schen Aus­flü­gen unter­bro­chen wer­den, um dem Zuschau­er Ver­stri­ckun­gen und Grö­ße des Hein­rich Geor­ge vor Augen zu füh­ren. Der sowje­ti­sche Geheim­dienst­of­fi­zier Bibler ermit­telt gegen Geor­ge, befragt ihn, läßt in ver­prü­geln, hört gebannt zu, zieht Zeu­gen und Denun­zi­an­ten her­an, ver­dreht Aus­sa­gen und setzt Befeh­le um, damit auch die­ser „Nazi“ ding­fest gemacht wer­de. (Geor­ge wur­de von Ruß­land übri­gens schon im Jah­re 1998 offi­zi­ell rehabilitiert.)

War­um eini­ge auf­schluß­rei­che rus­sisch­spra­chi­ge Dia­lo­ge nicht durch Unter­ti­tel erhellt wer­den, mag das Geheim­nis des Dreh­buch­au­tors blei­ben. In all die­sen Sze­nen und ihren geschick­ten Ver­schrän­kun­gen, dar­in lie­gen Anspruch und Ver­spre­chen des Doku-Dra­mas als Film­for­mat – einer ori­gi­när west­deut­schen Erfin­dung –, geht es um die „Wahr­heit“ und die damit not­wen­dig ver­bun­de­nen stän­di­gen Inter­pre­ta­tio­nen unter­schied­lichs­ter Tat­sa­chen­ar­ten. Das erzeug­te Gesamt­bild und die evo­zier­ten Mei­nungs­ge­füh­le des Zuschau­ers erfor­dern in der Tat ein urteils­fä­hi­ges Publi­kum. Dar­in liegt logisch not­wen­dig die For­de­rung, sich die­sen durch­aus packen­den Film ein zwei­tes Mal anzuschauen.

Gegen Ende des Drit­tels des Films gibt es eine über das Werk hin­aus­wei­sen­de Schlüs­sel­sze­ne, als Götz Geor­ge allein auf der Büh­ne des Schil­ler-Thea­ters ste­hend die Eröff­nungs­re­de sei­nes Vaters vom 15. Novem­ber 1938 mit einer Über­le­gung unter­bricht, die als sein emo­tio­na­les Tes­ta­ment bezeich­net wer­den kann. Dabei sagt er, wie bei­läu­fig: „Wenn Du hier [auf der Büh­ne] stehst, für mich ist es was viel Auf­re­gen­de­res und was viel Hei­li­ge­res als die Kirche“.

Ob Götz Geor­ge, die ver­ant­wort­li­chen Köp­fe des Films und des geld­ge­ben­den media­len Kom­ple­xes wis­sen, wie nahe sie heu­te alle­samt der in einem gewis­sen Sin­ne all­zu deut­schen, wirk­lich­keits­frem­den Ansicht des sei­ner­zeit 32-jäh­ri­gen Tho­mas Mann ste­hen? Noch immer soll eine über­an­streng­te, ihr Wesen damit ver­feh­len­de Kunst und nicht die Wis­sen­schaft das wei­te Feld der his­to­ri­schen Wirk­lich­keit bestel­len. Das Signum des bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Geis­tes­le­bens – die Aus­schal­tung Ernst Nol­tes aus der wis­sen­schaft­li­chen Dis­kus­si­on – ist all­ge­gen­wär­tig. Das Film­for­mat ist das Kompensat.

 

Sen­de­hin­weis: Mitt­woch, 24. Juli, 21.45 Uhr (Arte strahl­te das Doku­dra­ma bereits ges­tern aus.)

 

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