Der Schriftsteller Botho Strauß als Verfasser eines Spiegel-Essays war zwar eine ungewöhnliche Wahl, aber der Titel seines Textes – »Anschwellender Bocksgesang« – führte in erster Linie zu Irritation oder Achselzucken. Denn kaum jemand besaß noch genug Kenntnis der Antike, um zu wissen, daß »Bocksgesang«, oder »Gesang um den Bockspreis«, eine denkbare Ableitung des Begriffs »Tragödie« aus dem Altgriechischen ist und Bezug auf deren Ursprung in Kultspielen für den Gott Dionysos und dessen Gefolge aus bocksfüßigen, bockshornigen Satyrn nahm.
Die Verrätselung war sicher nicht ungewollt. Sie entspricht dem elitären Selbstverständnis, das Strauß pflegt und das ihm unter den erfolgreichen zeitgenössischen Autoren eine Sonderstellung verschafft. Sie gehörte aber auch zu einer Strategie, die es dem Leser erschweren sollte, sofort zu begreifen und schnell Partei zu nehmen. Dasselbe gilt für die irritierende Liebeserklärung an das Hier und Jetzt zu Beginn, deren therapeutischen Ton und deren Doppelbödigkeit man nur nach und nach entdeckte: »Jemand, der vor der freien Gesellschaft, vor dem Großen und Ganzen, Scheu empfindet, nicht weil er sie heimlich verabscheute, sondern im Gegenteil, weil er eine zu große Bewunderung für die ungeheuer komplizierten Abläufe und Passungen, für den grandiosen und empfindlichen Organismus des Miteinander hegt, den nicht der universellste Künstler, nicht der begnadetste Herrscher annähernd erfinden oder dirigieren könnte.
Jemand, der beinahe fassungslos vor Respekt mitansieht, wie die Menschen bei all ihrer Schlechtigkeit au fond so schwerelos aneinander vorbeikommen, und das ist so gut wie: miteinander umgehen können. Der in ihren Geschäften und Bewegungen überall die Balance, die Tanzbereitschaft, das Spiel, die listige Verstellung, die artistische Manier bemerkt – ja, dies Miteinander muß jedem Außenstehenden, wenn er nicht von einer politischen Krankheit befallen ist, weit eher als ein unfaßliches Kunststück erscheinen denn als ein Brodelkessel, als eine ›Hölle der anderen‹.« Wer sich als Leser nun sicher glaubte, den traf die Fortsetzung, denn, so Strauß, dem Beobachter müsse es mitunter »scheinen, als hörte er jetzt ein letztes knisterndes Sich-Fügen, als sähe er gerade noch die Letzten, denen die Flucht in ein Heim gelang, vernähme ein leises Einschnappen, wie ein Schloß, ins Gleichgewicht. Danach: nur noch das Reißen von Strängen, gegebenen Händen, Nerven, Kontrakten, Netzen und Träumen.«
Was dann folgte, war zuerst einmal Demontage der Perfektion, Aufweis des Verfalls und – wichtiger – die Umschreibung einer Stellung, die weder das »schwerelos aneinander vorbeikommen« üben wollte, noch zu denen zählen mochte, denen als »Letzten … die Flucht in ein Heim gelang«. Diese dritte Position bezeichnete Strauß als »rechts«, und genau darin lag der eigentliche Skandal des »Anschwellenden Bocksgesangs«. Denn bis dahin wußte man nur, daß Strauß nicht zu den engagierten Intellektuellen und schon gar nicht (oder nicht mehr) zu deren linker Mehrheit gehörte. Aber die – freiwillige – Einordnung auf der Rechten war neu, neu jedenfalls, wenn man wie Strauß »dazu« gehörte. Er war anerkannt, mehr noch: bewundert, ihn konnte man nicht übergehen. Schon gar nicht in der unübersichtlichen Situation Anfang der neunziger Jahre. Denn es tobte in Deutschland ein Kulturkampf, bei dem es weniger um tatsächliche Konfliktlinien ging, eher um die Imagination einer allmächtigen Rechten durch die Linke. Diese wartete auf die Parusie ihres Feindes, dessen Erscheinen sich irritierend verzögerte, so daß man jedes Vorzeichen panisch und begierig aufnahm.
Der »Anschwellende Bocksgesang« konnte als ein solches Vorzeichen gesehen werden, auch weil er veröffentlicht wurde, als die tonangebenden Kreise aus einer Depression auftauchten. Den unerwarteten Zusammenbruch des Kommunismus hatten sie hinter sich, die Hegemonie der »Ideen von ’68« gewahrt, und die »Kostümfaschisten« (Herbert Ammon) von Mölln und Solingen, die häßlichen Unterschichtsbrandsatzwerfer waren ein Gottesgeschenk, eigneten sich ganz wunderbar als Feindbild und zur Mobilisierung des antifaschistischen Affekts. Vor allem aber breitete sich unter Progressiven die Einsicht aus, daß keine Abrechnung drohte, daß niemand auf der Gegenseite interessiert war, die Gesamtlinke in Haftung zu nehmen, wie man nach 1945 die Gesamtrechte in Haftung genommen hatte. Der historische Kompromiß zwischen Postachtundsechzigern und Postkommunisten und Neoliberalen und Neokonservativen war zwar noch nicht ausgehandelt, aber man stand kurz davor, den ideologischen Minimalkonsens zu formulieren: Stillschweigen über das eigene Versagen und Verteidigung des »Westens« gegen jeden »Fundamentalismus«, vor allem den religiösen und den rechten.
In dieser Situation, kurz vor der Klärung, erschien der »Anschwellende Bocksgesang«, dessen Verfasser einfach spöttisch darauf hinwies, daß es »pikant« sei, »wie gierig der Mainstream das rechtsradikale Rinnsal stetig zu vergrößern« suchte. Strauß hielt es nicht der Mühe wert, sich zu distanzieren oder die Inszenierung einer faschistischen Gefahr gründlich zu entlarven. Denn Rechts-Sein war für ihn nicht nur antiegalitär, antiliberal, antiutopisch, es ging ihm überhaupt nicht um Oberflächenphänomene: »Der Rechte – in der Richte: ein Außenseiter.« Rechts-Sein bedeutete für Strauß Anschluß an die »Tiefenerinnerung« der Kultur, der Versuch, dem Menschen seine geschichtliche Bindung zurückzugeben und seine Gegenwartsfixierung zu überwinden, nicht, den aktuellen Einfluß von alter und neuer Linker zu bekämpfen oder das juste milieu zu jagen.
Wenn man den »Anschwellenden Bocksgesang« angesichts dessen als »metapolitisch« bezeichnet, ist das trotzdem zu wenig. Strauß entzog sich überhaupt jeder politischen Brauchbarkeit, weil er die Feinderklärung mied, sowieso die naheliegende gegenüber den Hooligans mit ihrem NS-Dekor (»Dürfen von uns verwahrloste Kinder zu unseren Feinden werden?«), aber auch die gegenüber den Herrschern des »geistigen Lebensraums«, die verantwortlich waren für die Devastation. Diese Weigerung hatte umgekehrt eine Unschärfe zur Folge, die erklärt, warum es Strauß nicht gelang, eine klare Trennung zwischen der Figur des »Rechten« und der Figur des »Kulturpessimisten« vorzunehmen. Deutlich ist, daß er sich nicht auf die Seite des letzteren schlagen wollte, der den Untergang und das offene Ausbrechen der Gewalt herbeisehnt, denn der »Rechte hofft hingegen auf einen tiefgreifenden, unter den Gefahren geborenen Wechsel der Mentalität«.
Im weiteren Verlauf des Textes betonte er jedoch die Vergeblichkeit solcher Hoffnung: »Der Leitbild-Wechsel, der längst fällig wäre, wird niemals stattfinden.« Dementsprechend stehen das Leitmotiv der Argumentation, daß das Tragische seine Kraft – seine kathartische Kraft – unter den Bedingungen des Ernstfalls wiedergewinnen könnte, und die Annahme, daß das bestehende System in der Lage sei, jeden Widerspruch aufzusaugen und sich einzuverleiben, unvermittelt nebeneinander: »Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte. Es braucht keine Köpfe rollen zu lassen, es macht sie überflüssig.«
Man sucht vergeblich einen Hinweis darauf, wer im »Krieg«, den Strauß zwischen den »Kräften des Hergebrachten und denen des ständigen Fortbringens, Abservierens und Auslöschens« kommen sieht, die Kampfparteien bildet. Weshalb es konsequent ist, daß zuletzt nur der einzelne bleibt, dessen Haltung nicht von ungefähr an die von Jüngers »preußischem Anarchisten« / »Anarchen« / »Waldgänger« erinnert: »Was sich stärken muß, ist das Gesonderte. Das Allgemeine ist mächtig und schwächlich zugleich. Der Widerstand ist heute schwerer zu haben, der Konformismus ist intelligent, facettenreich, heimtückischer und gefräßiger als vordem, das Gutgemeinte gemeiner als der offene Blödsinn, gegen den man früher Opposition oder Abkehr zeigte.« Strauß’ »strengere Formen der Abweichung und der Unterbrechung« sind im Grunde nur allein zu verwirklichen, in der »Sezession«, wie er sagt, äußerstenfalls an »magischen Orten der Absonderung«, »im Garten der Befreundeten, wo noch Überlieferung gedeiht« und sich »ein versprengtes Häuflein von inspirierten Nichteinverstandenen« zu sammeln vermag.
Natürlich gehört es zum Wesen des Essays, daß nicht alles ausgeführt werden kann, daß es dem Verfasser erlaubt sein muß, das eine oder andere in der Schwebe zu halten, mehr noch, die Assoziationskraft dieser Unschärfe zu nutzen. Damit ist aber auch geklärt, daß der »Anschwellende Bocksgesang« nicht als Manifest gelesen werden kann. Seine außerordentliche Wirkung beruhte aber darauf, daß genau das geschah. »Notiert euch, Freunde, den Tag«, schrieb Peter Glotz: »Es war die Spiegel-Ausgabe vom 8. Februar 1993«, und dann noch: »Es wird ernst«. Was Glotz meinte, und worin ihm die einflußreichen Feuilletons folgten, war die Einschätzung, daß man bei Strauß denselben »Sound« (Andreas Kilb) höre wie bei Spengler, Jünger, Schmitt, Heidegger, überhaupt den Autoren der Konservativen Revolution, daß er ein »Gegenaufklärer« und die »Maulhure« (Tilman Spengler) einer neuen rechten Intelligenz oder gleich »Wegbereiter« (Ignatz Bubis) des nächsten Faschismus sei.
Es gab auch Spötter, die Strauß allen Ernstes »Unfähigkeit zum Stil« (Michael Maar) vorwarfen oder in seinem Text die »Panikreaktion« (Gustav Seibt) des Modernisierungsverlierers ausmachten, bestenfalls einen »radikalen Einzelgänger« (Hermann Kurzke) in ihm sahen oder den »Epikureer« (Günter Zehm) im Wortsinn. Die meisten Kommentatoren aber begriffen den »Anschwellenden Bocksgesang« als Ausdruck einer Tendenz: die intellektuelle Linke, um ihren Alarmismus zu pflegen, die intellektuelle Rechte wegen der unerwarteten Verstärkung durch diesen »Winkelried« (Armin Mohler) und der Wirkung seines »sensationellen Essays« (Peter Gauweiler), der im legendären Jahrbuch Der Pfahl der »Matthes-und-Seitz-Faschisten« (Die Zeit) überhaupt erst vollständig abgedruckt wurde.
Was der Einschätzung des »Anschwellenden Bocksgesangs« als Symptom einer Bewegung Plausibilität verlieh, war auch, daß Strauß sich im folgenden überraschend weit vorwagte. Trotz seiner Öffentlichkeitsscheu nahm er mehrfach Stellung zu der Debatte, die der »Anschwellende Bocksgesang« entfesselt hatte, und vor allem gestattete er Heimo Schwilk und Ulrich Schacht, die vollständige Fassung noch einmal im Zusammenhang mit anderen Beiträgen zu präsentieren, die sich alle auf bestimmte Aspekte der von Strauß entwickelten Argumentation bezogen und von Autoren stammten, die man der »Neuen Rechten« zuzählte. Unter allen Veröffentlichungen der »Neuen Rechten« in der ersten Hälfte der neunziger Jahre war dieser Sammelband, Die selbstbewußte Nation (1994), ohne Zweifel die wirkungsvollste.
Damit verschob sich aber endgültig die Perspektive auf Strauß, den seine Kritiker nur zu gern in einen konkreter faßbaren Zusammenhang einordnen wollten. Was folgte, waren nur mehr oder weniger intelligente Bemühungen, den »Anschwellenden Bocksgesang« unter dem Gesichtspunkt der »rot-braunen« Gefahr zu diskutieren oder ihn mit Vorstößen einer nationalliberalen Gruppe um Rainer Zitelmann zu verknüpfen, in Verbindung mit der »What’s right«-Serie der FAZ zu bringen, oder mit dem neu aufflammenden »Historikerstreit« nach Ernst Noltes Buch Streitpunkte (1993), oder ihn zu verknüpfen mit den Publikationen einzelner, bis dahin dem mainstream zugeordneter Autoren wie Hans Magnus Enzensberger (Aussichten auf den Bürgerkrieg, 1993) oder Joachim Fest (Die schwierige Freiheit, 1993), die wahlweise die universale Geltung der Menschenrechte oder die Überlebensfähigkeit der »offenen Gesellschaft« in Frage stellten.
Wenn man mit der Behauptung eines solchen größeren Ganzen nur meinte, daß der liberalen Ordnung nach dem Wegfall der äußeren Bedrohung eine Implosion bevorstehe und daß Strauß wie die übrigen Genannten der Meinung war, daß dieses Ende der Geschichte wahrscheinlicher sei als jedes andere, ist dagegen nichts zu sagen. Wenn es allerdings um die Suggestion ging, es habe sich bei der Veröffentlichung des »Anschwellenden Bocksgesangs« um einen Teil eines geplanten Vorstoßes gehandelt, dann muß man widersprechen. Strauß hat das selbst getan, fast ein Jahr nach dem Erscheinen, als er in einer Art Nachwort zu dem Konflikt um seine Person und seinen Text äußerte: »Jenes ›Rechte‹, um das der Streit noch geht (und für mich ist es zuerst das Rechte des gegenrevolutionären Typus von Novalis bis Borchardt), ist inzwischen ein intellektuelles Suchtproblem geworden. In erster Linie wohl deshalb, weil es in besonders spannungsreichem Verhältnis zu der Rechten steht, der revolutionären und totalitären, die Staat und Volk ins Verderben führt.«
Es ist hier weniger interessant, daß Strauß zum wiederholten Mal seine scharfe Ablehnung des NS-Regimes deutlich machte, eher schon, daß er, nachdem er mit seiner Beteiligung an Die selbstbewußte Nation den Akzent auf die metapolitische Praxis gesetzt zu haben schien, nun wieder den Rückzug auf das Prinzipiell-Reaktionäre antrat. Aber wahrscheinlich würde Strauß nicht von einem Wechsel sprechen, eher davon, daß es sich um zwei Aspekte derselben Konzeption handelt, deren Spannungsverhältnis nicht gelöst werden kann.
Es ist dieser Tatbestand im Grunde nicht neu und kein Spezifikum der Position Strauß’. Denn das Dilemma deutete sich schon für die konservative Intelligenz der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und erst recht für die nachfaschistische Rechte an, die das »tragische Lebensgefühl« verteidigt hat, gegen die »Täuschung aller Täuschungen« (Miguel de Unamuno), die Hoffnung auf den großen Fortschritt, die Humanisierung des Humanen, die innerweltliche Erlösung. Das stand hinter dem »tapferen Pessimismus« oder der »Apolitia«. Unter Apolitia verstand Julius Evola eine Möglichkeit der Existenz, gleichweit entfernt vom Rückzug in die spirituelle Welt der Tradition oder dem Versuch, »den Tiger zu reiten«: radikale Distanz zur Gegenwart verknüpft mit der Möglichkeit zu symbolischem Handeln, das Zeichen setzt, ohne eine grundsätzliche Verbesserung für möglich zu halten.
Daß es bei Strauß eine Evola-Lektüre und ‑Rezeption gegeben hat, ist, wenn an sonst nichts, dann an Titel und Inhalt eines anderen Essays erkennbar, der bereits 1990 unter dem Titel »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt« erschienen war, aber keine dem »Anschwellenden Bocksgesang« vergleichbare Resonanz fand. Und das, obwohl sein Inhalt durchaus als anstößig betrachtet werden konnte. Es läßt sich auch sagen, daß Strauß hier etwas vorbereitete, was er zwei Jahre später deutlicher aussprach, so daß man beide Texte in eine geistige Entwicklung stellen muß, gekennzeichnet durch die Wahrnehmung, daß für einen Moment Handeln möglich schien, bevor alles erwartbar-unerwartet endete: als »Aufstand ohne Folgen«, wie Strauß an verborgener Stelle angemerkt hat.