20 Jahre »Anschwellender Bocksgesang«

52pdf der Druckfassung aus Sezession 52 / Februar 2013

von Karlheinz Weißmann

Die Ausgabe 6/1993 des Spiegel war die mit den Eiern im geöffneten Sarg auf dem Titelblatt (es ging um Salmonellen und die »Hühner-Mafia«), und der gelbe eye catcher in der rechten unteren Ecke verwies auf einen Beitrag über die Wehrpflichtdebatte im kürzlich wiedervereinigten Deutschland. Es gab auch sonst keinen Grund, anzunehmen, daß diese Nummer des Nachrichtenmagazins entscheidende Bedeutung für die intellektuelle Geschichte der »neuen« Bundesrepublik gewinnen würde.

Der Schrift­stel­ler Botho Strauß als Ver­fas­ser eines Spie­gel-Essays war zwar eine unge­wöhn­li­che Wahl, aber der Titel sei­nes Tex­tes – »Anschwel­len­der Bocks­ge­sang« – führ­te in ers­ter Linie zu Irri­ta­ti­on oder Ach­sel­zu­cken. Denn kaum jemand besaß noch genug Kennt­nis der Anti­ke, um zu wis­sen, daß »Bocks­ge­sang«, oder »Gesang um den Bockspreis«, eine denk­ba­re Ablei­tung des Begriffs »Tra­gö­die« aus dem Alt­grie­chi­schen ist und Bezug auf deren Ursprung in Kult­spie­len für den Gott Dio­ny­sos und des­sen Gefol­ge aus bocks­fü­ßi­gen, bocks­hor­ni­gen Satyrn nahm.

Die Ver­rät­se­lung war sicher nicht unge­wollt. Sie ent­spricht dem eli­tä­ren Selbst­ver­ständ­nis, das Strauß pflegt und das ihm unter den erfolg­rei­chen zeit­ge­nös­si­schen Autoren eine Son­der­stel­lung ver­schafft. Sie gehör­te aber auch zu einer Stra­te­gie, die es dem Leser erschwe­ren soll­te, sofort zu begrei­fen und schnell Par­tei zu neh­men. Das­sel­be gilt für die irri­tie­ren­de Lie­bes­er­klä­rung an das Hier und Jetzt zu Beginn, deren the­ra­peu­ti­schen Ton und deren Dop­pel­bö­dig­keit man nur nach und nach ent­deck­te: »Jemand, der vor der frei­en Gesell­schaft, vor dem Gro­ßen und Gan­zen, Scheu emp­fin­det, nicht weil er sie heim­lich ver­ab­scheu­te, son­dern im Gegen­teil, weil er eine zu gro­ße Bewun­de­rung für die unge­heu­er kom­pli­zier­ten Abläu­fe und Pas­sun­gen, für den gran­dio­sen und emp­find­li­chen Orga­nis­mus des Mit­ein­an­der hegt, den nicht der uni­ver­sells­te Künst­ler, nicht der begna­dets­te Herr­scher annä­hernd erfin­den oder diri­gie­ren könnte.

Jemand, der bei­na­he fas­sungs­los vor Respekt mit­an­sieht, wie die Men­schen bei all ihrer Schlech­tig­keit au fond so schwe­re­los anein­an­der vor­bei­kom­men, und das ist so gut wie: mit­ein­an­der umge­hen kön­nen. Der in ihren Geschäf­ten und Bewe­gun­gen über­all die Balan­ce, die Tanz­be­reit­schaft, das Spiel, die lis­ti­ge Ver­stel­lung, die artis­ti­sche Manier bemerkt – ja, dies Mit­ein­an­der muß jedem Außen­ste­hen­den, wenn er nicht von einer poli­ti­schen Krank­heit befal­len ist, weit eher als ein unfaß­li­ches Kunst­stück erschei­nen denn als ein Bro­del­kes­sel, als eine ›Höl­le der ande­ren‹.« Wer sich als Leser nun sicher glaub­te, den traf die Fort­set­zung, denn, so Strauß, dem Beob­ach­ter müs­se es mit­un­ter »schei­nen, als hör­te er jetzt ein letz­tes knis­tern­des Sich-Fügen, als sähe er gera­de noch die Letz­ten, denen die Flucht in ein Heim gelang, ver­näh­me ein lei­ses Ein­schnap­pen, wie ein Schloß, ins Gleich­ge­wicht. Danach: nur noch das Rei­ßen von Strän­gen, gege­be­nen Hän­den, Ner­ven, Kon­trak­ten, Net­zen und Träumen.«

Was dann folg­te, war zuerst ein­mal Demon­ta­ge der Per­fek­ti­on, Auf­weis des Ver­falls und – wich­ti­ger – die Umschrei­bung einer Stel­lung, die weder das »schwe­re­los anein­an­der vor­bei­kom­men« üben woll­te, noch zu denen zäh­len moch­te, denen als »Letz­ten … die Flucht in ein Heim gelang«. Die­se drit­te Posi­ti­on bezeich­ne­te Strauß als »rechts«, und genau dar­in lag der eigent­li­che Skan­dal des »Anschwel­len­den Bocks­ge­sangs«. Denn bis dahin wuß­te man nur, daß Strauß nicht zu den enga­gier­ten Intel­lek­tu­el­len und schon gar nicht (oder nicht mehr) zu deren lin­ker Mehr­heit gehör­te. Aber die – frei­wil­li­ge – Ein­ord­nung auf der Rech­ten war neu, neu jeden­falls, wenn man wie Strauß »dazu« gehör­te. Er war aner­kannt, mehr noch: bewun­dert, ihn konn­te man nicht über­ge­hen. Schon gar nicht in der unüber­sicht­li­chen Situa­ti­on Anfang der neun­zi­ger Jah­re. Denn es tob­te in Deutsch­land ein Kul­tur­kampf, bei dem es weni­ger um tat­säch­li­che Kon­flikt­li­ni­en ging, eher um die Ima­gi­na­ti­on einer all­mäch­ti­gen Rech­ten durch die Lin­ke. Die­se war­te­te auf die Paru­sie ihres Fein­des, des­sen Erschei­nen sich irri­tie­rend ver­zö­ger­te, so daß man jedes Vor­zei­chen panisch und begie­rig aufnahm.

Der »Anschwel­len­de Bocks­ge­sang« konn­te als ein sol­ches Vor­zei­chen gese­hen wer­den, auch weil er ver­öf­fent­licht wur­de, als die ton­an­ge­ben­den Krei­se aus einer Depres­si­on auf­tauch­ten. Den uner­war­te­ten Zusam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus hat­ten sie hin­ter sich, die Hege­mo­nie der »Ideen von ’68« gewahrt, und die »Kos­tüm­fa­schis­ten« (Her­bert Ammon) von Mölln und Solin­gen, die häß­li­chen Unter­schichts­brand­satz­wer­fer waren ein Got­tes­ge­schenk, eig­ne­ten sich ganz wun­der­bar als Feind­bild und zur Mobi­li­sie­rung des anti­fa­schis­ti­schen Affekts. Vor allem aber brei­te­te sich unter Pro­gres­si­ven die Ein­sicht aus, daß kei­ne Abrech­nung droh­te, daß nie­mand auf der Gegen­sei­te inter­es­siert war, die Gesamt­lin­ke in Haf­tung zu neh­men, wie man nach 1945 die Gesamt­rech­te in Haf­tung genom­men hat­te. Der his­to­ri­sche Kom­pro­miß zwi­schen Post­acht­und­sech­zi­gern und Post­kom­mu­nis­ten und Neo­li­be­ra­len und Neo­kon­ser­va­ti­ven war zwar noch nicht aus­ge­han­delt, aber man stand kurz davor, den ideo­lo­gi­schen Mini­mal­kon­sens zu for­mu­lie­ren: Still­schwei­gen über das eige­ne Ver­sa­gen und Ver­tei­di­gung des »Wes­tens« gegen jeden »Fun­da­men­ta­lis­mus«, vor allem den reli­giö­sen und den rechten.

In die­ser Situa­ti­on, kurz vor der Klä­rung, erschien der »Anschwel­len­de Bocks­ge­sang«, des­sen Ver­fas­ser ein­fach spöt­tisch dar­auf hin­wies, daß es »pikant« sei, »wie gie­rig der Main­stream das rechts­ra­di­ka­le Rinn­sal ste­tig zu ver­grö­ßern« such­te. Strauß hielt es nicht der Mühe wert, sich zu distan­zie­ren oder die Insze­nie­rung einer faschis­ti­schen Gefahr gründ­lich zu ent­lar­ven. Denn Rechts-Sein war für ihn nicht nur antie­ga­li­tär, anti­li­be­ral, anti­uto­pisch, es ging ihm über­haupt nicht um Ober­flä­chen­phä­no­me­ne: »Der Rech­te – in der Rich­te: ein Außen­sei­ter.« Rechts-Sein bedeu­te­te für Strauß Anschluß an die »Tief­en­erin­ne­rung« der Kul­tur, der Ver­such, dem Men­schen sei­ne geschicht­li­che Bin­dung zurück­zu­ge­ben und sei­ne Gegen­warts­fi­xie­rung zu über­win­den, nicht, den aktu­el­len Ein­fluß von alter und neu­er Lin­ker zu bekämp­fen oder das jus­te milieu zu jagen.

Wenn man den »Anschwel­len­den Bocks­ge­sang« ange­sichts des­sen als »meta­po­li­tisch« bezeich­net, ist das trotz­dem zu wenig. Strauß ent­zog sich über­haupt jeder poli­ti­schen Brauch­bar­keit, weil er die Feind­er­klä­rung mied, sowie­so die nahe­lie­gen­de gegen­über den Hoo­li­gans mit ihrem NS-Dekor (»Dür­fen von uns ver­wahr­los­te Kin­der zu unse­ren Fein­den wer­den?«), aber auch die gegen­über den Herr­schern des »geis­ti­gen Lebens­raums«, die ver­ant­wort­lich waren für die Devas­ta­ti­on. Die­se Wei­ge­rung hat­te umge­kehrt eine Unschär­fe zur Fol­ge, die erklärt, war­um es Strauß nicht gelang, eine kla­re Tren­nung zwi­schen der Figur des »Rech­ten« und der Figur des »Kul­tur­pes­si­mis­ten« vor­zu­neh­men. Deut­lich ist, daß er sich nicht auf die Sei­te des letz­te­ren schla­gen woll­te, der den Unter­gang und das offe­ne Aus­bre­chen der Gewalt her­bei­sehnt, denn der »Rech­te hofft hin­ge­gen auf einen tief­grei­fen­den, unter den Gefah­ren gebo­re­nen Wech­sel der Mentalität«.

Im wei­te­ren Ver­lauf des Tex­tes beton­te er jedoch die Ver­geb­lich­keit sol­cher Hoff­nung: »Der Leit­bild-Wech­sel, der längst fäl­lig wäre, wird nie­mals statt­fin­den.« Dem­entspre­chend ste­hen das Leit­mo­tiv der Argu­men­ta­ti­on, daß das Tra­gi­sche sei­ne Kraft – sei­ne kathar­ti­sche Kraft – unter den Bedin­gun­gen des Ernst­falls wie­der­ge­win­nen könn­te, und die Annah­me, daß das bestehen­de Sys­tem in der Lage sei, jeden Wider­spruch auf­zu­sau­gen und sich ein­zu­ver­lei­ben, unver­mit­telt neben­ein­an­der: »Das Regime der tele­kra­ti­schen Öffent­lich­keit ist die unblu­tigs­te Gewalt­herr­schaft und zugleich der umfas­sends­te Tota­li­ta­ris­mus der Geschich­te. Es braucht kei­ne Köp­fe rol­len zu las­sen, es macht sie überflüssig.«

Man sucht ver­geb­lich einen Hin­weis dar­auf, wer im »Krieg«, den Strauß zwi­schen den »Kräf­ten des Her­ge­brach­ten und denen des stän­di­gen Fort­brin­gens, Abser­vie­rens und Aus­lö­schens« kom­men sieht, die Kampf­par­tei­en bil­det. Wes­halb es kon­se­quent ist, daß zuletzt nur der ein­zel­ne bleibt, des­sen Hal­tung nicht von unge­fähr an die von Jün­gers »preu­ßi­schem Anar­chis­ten« / »Anar­chen« / »Wald­gän­ger« erin­nert: »Was sich stär­ken muß, ist das Geson­der­te. Das All­ge­mei­ne ist mäch­tig und schwäch­lich zugleich. Der Wider­stand ist heu­te schwe­rer zu haben, der Kon­for­mis­mus ist intel­li­gent, facet­ten­reich, heim­tü­cki­scher und gefrä­ßi­ger als vor­dem, das Gut­ge­mein­te gemei­ner als der offe­ne Blöd­sinn, gegen den man frü­her Oppo­si­ti­on oder Abkehr zeig­te.« Strauß’ »stren­ge­re For­men der Abwei­chung und der Unter­bre­chung« sind im Grun­de nur allein zu ver­wirk­li­chen, in der »Sezes­si­on«, wie er sagt, äußers­ten­falls an »magi­schen Orten der Abson­de­rung«, »im Gar­ten der Befreun­de­ten, wo noch Über­lie­fe­rung gedeiht« und sich »ein ver­spreng­tes Häuf­lein von inspi­rier­ten Nicht­ein­ver­stan­de­nen« zu sam­meln vermag.

Natür­lich gehört es zum Wesen des Essays, daß nicht alles aus­ge­führt wer­den kann, daß es dem Ver­fas­ser erlaubt sein muß, das eine oder ande­re in der Schwe­be zu hal­ten, mehr noch, die Asso­zia­ti­ons­kraft die­ser Unschär­fe zu nut­zen. Damit ist aber auch geklärt, daß der »Anschwel­len­de Bocks­ge­sang« nicht als Mani­fest gele­sen wer­den kann. Sei­ne außer­or­dent­li­che Wir­kung beruh­te aber dar­auf, daß genau das geschah. »Notiert euch, Freun­de, den Tag«, schrieb Peter Glotz: »Es war die Spie­gel-Aus­ga­be vom 8. Febru­ar 1993«, und dann noch: »Es wird ernst«. Was Glotz mein­te, und wor­in ihm die ein­fluß­rei­chen Feuil­le­tons folg­ten, war die Ein­schät­zung, daß man bei Strauß den­sel­ben »Sound« (Andre­as Kilb) höre wie bei Speng­ler, Jün­ger, Schmitt, Heid­eg­ger, über­haupt den Autoren der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on, daß er ein »Gegen­auf­klä­rer« und die »Maul­hu­re« (Til­man Speng­ler) einer neu­en rech­ten Intel­li­genz oder gleich »Weg­be­rei­ter« (Ignatz Bubis) des nächs­ten Faschis­mus sei.

Es gab auch Spöt­ter, die Strauß allen Erns­tes »Unfä­hig­keit zum Stil« (Micha­el Maar) vor­war­fen oder in sei­nem Text die »Panik­re­ak­ti­on« (Gus­tav Seibt) des Moder­ni­sie­rungs­ver­lie­rers aus­mach­ten, bes­ten­falls einen »radi­ka­len Ein­zel­gän­ger« (Her­mann Kurz­ke) in ihm sahen oder den »Epi­ku­re­er« (Gün­ter Zehm) im Wort­sinn. Die meis­ten Kom­men­ta­to­ren aber begrif­fen den »Anschwel­len­den Bocks­ge­sang« als Aus­druck einer Ten­denz: die intel­lek­tu­el­le Lin­ke, um ihren Alar­mis­mus zu pfle­gen, die intel­lek­tu­el­le Rech­te wegen der uner­war­te­ten Ver­stär­kung durch die­sen »Win­kel­ried« (Armin Moh­ler) und der Wir­kung sei­nes »sen­sa­tio­nel­len Essays« (Peter Gau­wei­ler), der im legen­dä­ren Jahr­buch Der Pfahl der »Matthes-und-Seitz-Faschis­ten« (Die Zeit) über­haupt erst voll­stän­dig abge­druckt wurde.

Was der Ein­schät­zung des »Anschwel­len­den Bocks­ge­sangs« als Symp­tom einer Bewe­gung Plau­si­bi­li­tät ver­lieh, war auch, daß Strauß sich im fol­gen­den über­ra­schend weit vor­wag­te. Trotz sei­ner Öffent­lich­keits­scheu nahm er mehr­fach Stel­lung zu der Debat­te, die der »Anschwel­len­de Bocks­ge­sang« ent­fes­selt hat­te, und vor allem gestat­te­te er Heimo Schwilk und Ulrich Schacht, die voll­stän­di­ge Fas­sung noch ein­mal im Zusam­men­hang mit ande­ren Bei­trä­gen zu prä­sen­tie­ren, die sich alle auf bestimm­te Aspek­te der von Strauß ent­wi­ckel­ten Argu­men­ta­ti­on bezo­gen und von Autoren stamm­ten, die man der »Neu­en Rech­ten« zuzähl­te. Unter allen Ver­öf­fent­li­chun­gen der »Neu­en Rech­ten« in der ers­ten Hälf­te der neun­zi­ger Jah­re war die­ser Sam­mel­band, Die selbst­be­wuß­te Nati­on (1994), ohne Zwei­fel die wirkungsvollste.

Damit ver­schob sich aber end­gül­tig die Per­spek­ti­ve auf Strauß, den sei­ne Kri­ti­ker nur zu gern in einen kon­kre­ter faß­ba­ren Zusam­men­hang ein­ord­nen woll­ten. Was folg­te, waren nur mehr oder weni­ger intel­li­gen­te Bemü­hun­gen, den »Anschwel­len­den Bocks­ge­sang« unter dem Gesichts­punkt der »rot-brau­nen« Gefahr zu dis­ku­tie­ren oder ihn mit Vor­stö­ßen einer natio­nal­li­be­ra­len Grup­pe um Rai­ner Zitel­mann zu ver­knüp­fen, in Ver­bin­dung mit der »What’s right«-Serie der FAZ zu brin­gen, oder mit dem neu auf­flam­men­den »His­to­ri­ker­streit« nach Ernst Nol­tes Buch Streit­punk­te (1993), oder ihn zu ver­knüp­fen mit den Publi­ka­tio­nen ein­zel­ner, bis dahin dem main­stream zuge­ord­ne­ter Autoren wie Hans Magnus Enzens­ber­ger (Aus­sich­ten auf den Bür­ger­krieg, 1993) oder Joa­chim Fest (Die schwie­ri­ge Frei­heit, 1993), die wahl­wei­se die uni­ver­sa­le Gel­tung der Men­schen­rech­te oder die Über­le­bens­fä­hig­keit der »offe­nen Gesell­schaft« in Fra­ge stellten.

Wenn man mit der Behaup­tung eines sol­chen grö­ße­ren Gan­zen nur mein­te, daß der libe­ra­len Ord­nung nach dem Weg­fall der äuße­ren Bedro­hung eine Implo­si­on bevor­ste­he und daß Strauß wie die übri­gen Genann­ten der Mei­nung war, daß die­ses Ende der Geschich­te wahr­schein­li­cher sei als jedes ande­re, ist dage­gen nichts zu sagen. Wenn es aller­dings um die Sug­ges­ti­on ging, es habe sich bei der Ver­öf­fent­li­chung des »Anschwel­len­den Bocks­ge­sangs« um einen Teil eines geplan­ten Vor­sto­ßes gehan­delt, dann muß man wider­spre­chen. Strauß hat das selbst getan, fast ein Jahr nach dem Erschei­nen, als er in einer Art Nach­wort zu dem Kon­flikt um sei­ne Per­son und sei­nen Text äußer­te: »Jenes ›Rech­te‹, um das der Streit noch geht (und für mich ist es zuerst das Rech­te des gegen­re­vo­lu­tio­nä­ren Typus von Nova­lis bis Bor­chardt), ist inzwi­schen ein intel­lek­tu­el­les Sucht­pro­blem gewor­den. In ers­ter Linie wohl des­halb, weil es in beson­ders span­nungs­rei­chem Ver­hält­nis zu der Rech­ten steht, der revo­lu­tio­nä­ren und tota­li­tä­ren, die Staat und Volk ins Ver­der­ben führt.«

Es ist hier weni­ger inter­es­sant, daß Strauß zum wie­der­hol­ten Mal sei­ne schar­fe Ableh­nung des NS-Regimes deut­lich mach­te, eher schon, daß er, nach­dem er mit sei­ner Betei­li­gung an Die selbst­be­wuß­te Nati­on den Akzent auf die meta­po­li­ti­sche Pra­xis gesetzt zu haben schien, nun wie­der den Rück­zug auf das Prin­zi­pi­ell-Reak­tio­nä­re antrat. Aber wahr­schein­lich wür­de Strauß nicht von einem Wech­sel spre­chen, eher davon, daß es sich um zwei Aspek­te der­sel­ben Kon­zep­ti­on han­delt, deren Span­nungs­ver­hält­nis nicht gelöst wer­den kann.

Es ist die­ser Tat­be­stand im Grun­de nicht neu und kein Spe­zi­fi­kum der Posi­ti­on Strauß’. Denn das Dilem­ma deu­te­te sich schon für die kon­ser­va­ti­ve Intel­li­genz der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts und erst recht für die nach­fa­schis­ti­sche Rech­te an, die das »tra­gi­sche Lebens­ge­fühl« ver­tei­digt hat, gegen die »Täu­schung aller Täu­schun­gen« (Miguel de Unamu­no), die Hoff­nung auf den gro­ßen Fort­schritt, die Huma­ni­sie­rung des Huma­nen, die inner­welt­li­che Erlö­sung. Das stand hin­ter dem »tap­fe­ren Pes­si­mis­mus« oder der »Apo­litia«. Unter Apo­litia ver­stand Juli­us Evo­la eine Mög­lich­keit der Exis­tenz, gleich­weit ent­fernt vom Rück­zug in die spi­ri­tu­el­le Welt der Tra­di­ti­on oder dem Ver­such, »den Tiger zu rei­ten«: radi­ka­le Distanz zur Gegen­wart ver­knüpft mit der Mög­lich­keit zu sym­bo­li­schem Han­deln, das Zei­chen setzt, ohne eine grund­sätz­li­che Ver­bes­se­rung für mög­lich zu halten.

Daß es bei Strauß eine Evo­la-Lek­tü­re und ‑Rezep­ti­on gege­ben hat, ist, wenn an sonst nichts, dann an Titel und Inhalt eines ande­ren Essays erkenn­bar, der bereits 1990 unter dem Titel »Der Auf­stand gegen die sekun­dä­re Welt« erschie­nen war, aber kei­ne dem »Anschwel­len­den Bocks­ge­sang« ver­gleich­ba­re Reso­nanz fand. Und das, obwohl sein Inhalt durch­aus als anstö­ßig betrach­tet wer­den konn­te. Es läßt sich auch sagen, daß Strauß hier etwas vor­be­rei­te­te, was er zwei Jah­re spä­ter deut­li­cher aus­sprach, so daß man bei­de Tex­te in eine geis­ti­ge Ent­wick­lung stel­len muß, gekenn­zeich­net durch die Wahr­neh­mung, daß für einen Moment Han­deln mög­lich schien, bevor alles erwart­bar-uner­war­tet ende­te: als »Auf­stand ohne Fol­gen«, wie Strauß an ver­bor­ge­ner Stel­le ange­merkt hat.

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