5. Todestag Alexander Solschenizyn

(Text aus dem Band Vordenker des Staatspolitischen Handbuchs, Schnellroda 2012.)

von Thorsten Hinz

Kein anderer Dichter des 20. Jahrhunderts hat eine vergleichbare politische Wirkung entfaltet wie der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn.

Der Roman­cier, Erzäh­ler, Lyri­ker und Essay­ist stamm­te aus einer armen Fami­lie. Er stu­dier­te Mathe­ma­tik und Phi­lo­so­phie in Ros­tow am Don. Im Zwei­ten Welt­krieg war er Bat­te­rie­chef einer Artil­le­rie­ein­heit. Er nahm an der Erobe­rung Ost­preu­ßens teil und wur­de dort Zeu­ge der Greu­el, wel­che die Rote Armee an der deut­schen Zivil­be­völ­ke­rung ver­üb­te. Sie fan­den Ein­gang in den Gedicht­band Ost­preu­ßi­sche Näch­te (1976) und in die Erzäh­lung Schwen­kit­ten ’45 (2004). Im Febru­ar 1945 wur­de Sol­sche­ni­zyn von der sowje­ti­schen Geheim­po­li­zei ver­haf­tet, weil er – zu dem Zeit­punkt noch ein über­zeug­ter Kom­mu­nist – in Pri­vat­brie­fen Kri­tik an Sta­lin geübt hat­te. Er wur­de zu acht Jah­ren Lager­haft ver­ur­teilt, aus der er 1953 in die »ewi­ge Ver­ban­nung« nach Kasach­stan ent­las­sen wurde.

Nach sei­ner Reha­bi­li­tie­rung 1957 durf­te er als Leh­rer arbei­ten. 1962 erschien sein Kurz­ro­man Ein Tag im Leben des Iwan Denis­so­witsch, der den gewöhn­li­chen Tages­ab­lauf in einem sowje­ti­schen Zwangs­ar­beits­la­ger schil­dert. Die Publi­ka­ti­on fiel in die soge­nann­te Tau­wet­ter-Peri­ode, die Par­tei­chef Niki­ta Chruscht­schow mit der Ent­hül­lung Sta­lin­scher Ver­bre­chen auf dem XX. Par­tei­tag der KPdSU 1956 ein­ge­lei­tet hat­te. Im Unter­schied zu den meis­ten sei­ner Kol­le­gen war Sol­sche­ni­zyn nicht bereit, den Mas­sen­ter­ror als eine von einem ein­zel­nen ver­ur­sach­te Ver­let­zung sozia­lis­ti­scher Nor­men zu baga­tel­li­sie­ren. Er sah in ihm ein genui­nes und unver­meid­li­ches Merk­mal des kom­mu­nis­ti­schen Sys­tems und wur­de zu einer Gali­ons­fi­gur der inne­ren Opposition.

Sei­ne fol­gen­den Wer­ke – dar­un­ter die Roma­ne Im ers­ten Kreis (1968, erschie­nen auch unter dem Titel: Der ers­te Kreis der Höl­le) und Krebs­sta­ti­on (1968) – durf­ten in der Sowjet­uni­on nicht mehr erschei­nen und wur­den daher im Aus­land erst­ver­öf­fent­licht. 1970 erhielt er den Nobel­preis für Lite­ra­tur. Sein berühm­tes­tes Buch, Der Archi­pel GULAG (1974), zählt zu den Klas­si­kern der doku­men­ta­ri­schen Lite­ra­tur und bie­tet ein eben­so umfas­sen­des wie detail­lier­tes Pan­ora­ma des sowje­ti­schen Staats­ter­rors zwi­schen 1918 und 1956. Sol­sche­ni­zyn lös­te damit eine gro­ße Erschüt­te­rung in der west­li­chen Welt ein­schließ­lich der poli­ti­schen Lin­ken und selbst der kom­mu­nis­ti­schen Par­tei­en aus. In der Bun­des­re­pu­blik aller­dings war die Wir­kung ver­gleichs­wei­se gering.

1974 durf­te der Autor – u. a. dank dem Ein­satz von Hein­rich Böll – die Sowjet­uni­on ver­las­sen. Über die Bun­des­re­pu­blik und die Schweiz ging er in die USA. Der Exi­lant sorg­te im Wes­ten bald für Irri­ta­tio­nen, weil er sich der Instru­men­ta­li­sie­rung durch lin­ke und libe­ra­le Dis­kur­se ver­wei­ger­te und die west­li­che Lebens­wei­se als deka­dent und mate­ria­lis­tisch kri­ti­sier­te. Er fand sich Zwi­schen zwei Mühl­stei­nen (2005) wie­der, dem sowje­ti­schen Geheim­dienst und der öffent­li­chen Mei­nung im Wes­ten. In der DDR erschien der Roman Der Gauk­ler des Schrift­stel­lers Har­ry Thürk, der Sol­sche­ni­zyn als eine Mario­net­te des ame­ri­ka­ni­schen Geheim­diens­tes denun­ziert. In den USA wid­me­te er sich dem noch in der Sowjet­uni­on begon­ne­nen und ursprüng­lich auf 20 Bän­de ange­leg­ten Roman­zy­klus Das rote Rad (in deut­scher Über­set­zung sind drei Bän­de erschie­nen: August vier­zehn, Novem­ber sech­zehn, März sieb­zehn), der ein Por­trät der rus­si­schen Gesell­schaft vor, wäh­rend und nach der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on lie­fern soll­te. 1991 brach er das unvoll­ende­te Pro­jekt ab.

Die libe­ra­len Kräf­te, die in der Febru­ar­re­vo­lu­ti­on 1917 den Zaren stürz­ten, erschei­nen dar­in weni­ger als Geg­ner denn als Weg­be­rei­ter der Bol­sche­wi­ki, die weni­ge Mona­te spä­ter mit der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on sieg­reich waren. Der rus­sisch-sla­wi­sche Mes­sia­nis­mus, der Sol­sche­ni­zyns Werk zuneh­mend inhä­rent wur­de, ver­stör­te im Wes­ten aber nicht nur wegen sei­nes Anti­li­be­ra­lis­mus, son­dern auch, weil er gleich­falls in der Pra­xis des Bol­sche­wis­mus wirk­sam gewor­den war. Sol­sche­ni­zyn hat­ten sei­ne Lei­dens­er­fah­run­gen in den 1960er Jah­ren zum Chris­ten­tum geführt. Auch damit stand er in der Tra­di­ti­on der gro­ßen rus­si­schen Rea­lis­ten. Mit Lew Tol­stoi hat­te er den gro­ßen epi­schen Atem bei der Schil­de­rung geschicht­li­cher Ent­wick­lun­gen gemein­sam. Die phi­lo­so­phi­sche und reli­giö­se Ver­tie­fung sowie die psy­cho­lo­gi­sche Ein­dring­lich­keit von Fjo­dor Dos­to­jew­ski erreich­te er jedoch nicht.

1994 kehr­te Sol­sche­ni­zyn nach Ruß­land zurück, das sich inzwi­schen vom Kom­mu­nis­mus ver­ab­schie­det hat­te. Von der Ent­wick­lung im Land, das in der west­li­chen Lebens­wei­se sein Vor­bild erblick­te, zeig­te er sich ent­täuscht. Eine spek­ta­ku­lä­re Ver­öf­fent­li­chung gelang ihm noch­mals mit dem Zwei­tei­ler »Zwei­hun­dert Jah­re zusam­men« (2002/03), in dem er sich mit dem Ver­hält­nis von Rus­sen und Juden aus­ein­an­der­setzt. Kri­tik lös­te sein Hin­weis auf den über­pro­por­tio­na­len Anteil von Juden unter den rus­si­schen Revo­lu­tio­nä­ren und sei­ne Deu­tung des Holo­caust als eine meta­phy­si­sche Stra­fe aus. 2007 kam es zu einer ein­ver­nehm­li­chen Begeg­nung mit dem rus­si­schen Prä­si­den­ten Wla­di­mir Putin.

Schrif­ten: Ein Tag im Leben des Iwan Denis­so­witsch, Ber­lin 1963; Der ers­te Kreis der Höl­le, Frank­furt a. M. 1968 (Ori­gi­nal­fas­sung: Im ers­ten Kreis, Frank­furt a. M. 1982); Krebs­sta­ti­on, 2 Bde., Neuwied/Berlin 1968/69; August vier­zehn, Mün­chen 1972; Der Archi­pel GULAG (Bd. 1–3), Bern 1974/75; Novem­ber sech­zehn, München/Zürich 1986; März sieb­zehn, 2 Bde., München/Zürich 1989/90; »Zwei­hun­dert Jah­re zusam­men«. Die rus­sisch-jüdi­sche Geschich­te 1795– 1916/Die Juden in der Sowjet­uni­on, 2 Bde., Mün­chen 2002/03; Zwi­schen zwei Mühl­stei­nen. Mein Leben im Exil, Mün­chen 2005.

Lite­ra­tur: Rudi Dutschke/Manfred Wil­ke (Hrsg.): Die Sowjet­uni­on, Sol­sche­ni­zyn und die west­li­che Lin­ke, Rein­bek bei Ham­burg 1975; Donald M. Tho­mas: Sol­sche­ni­zyn. Die Bio­gra­phie, Ber­lin 1998.

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