3. August 2013
5. Todestag Alexander Solschenizyn
Gastbeitrag
(Text aus dem Band Vordenker des Staatspolitischen Handbuchs, Schnellroda 2012.)
von Thorsten Hinz
Kein anderer Dichter des 20. Jahrhunderts hat eine vergleichbare politische Wirkung entfaltet wie der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn.
Nach seiner Rehabilitierung 1957 durfte er als Lehrer arbeiten. 1962 erschien sein Kurzroman Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, der den gewöhnlichen Tagesablauf in einem sowjetischen Zwangsarbeitslager schildert. Die Publikation fiel in die sogenannte Tauwetter-Periode, die Parteichef Nikita Chruschtschow mit der Enthüllung Stalinscher Verbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 eingeleitet hatte. Im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen war Solschenizyn nicht bereit, den Massenterror als eine von einem einzelnen verursachte Verletzung sozialistischer Normen zu bagatellisieren. Er sah in ihm ein genuines und unvermeidliches Merkmal des kommunistischen Systems und wurde zu einer Galionsfigur der inneren Opposition.
Seine folgenden Werke – darunter die Romane Im ersten Kreis (1968, erschienen auch unter dem Titel: Der erste Kreis der Hölle) und Krebsstation (1968) – durften in der Sowjetunion nicht mehr erscheinen und wurden daher im Ausland erstveröffentlicht. 1970 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Sein berühmtestes Buch, Der Archipel GULAG (1974), zählt zu den Klassikern der dokumentarischen Literatur und bietet ein ebenso umfassendes wie detailliertes Panorama des sowjetischen Staatsterrors zwischen 1918 und 1956. Solschenizyn löste damit eine große Erschütterung in der westlichen Welt einschließlich der politischen Linken und selbst der kommunistischen Parteien aus. In der Bundesrepublik allerdings war die Wirkung vergleichsweise gering.
1974 durfte der Autor – u. a. dank dem Einsatz von Heinrich Böll – die Sowjetunion verlassen. Über die Bundesrepublik und die Schweiz ging er in die USA. Der Exilant sorgte im Westen bald für Irritationen, weil er sich der Instrumentalisierung durch linke und liberale Diskurse verweigerte und die westliche Lebensweise als dekadent und materialistisch kritisierte. Er fand sich Zwischen zwei Mühlsteinen (2005) wieder, dem sowjetischen Geheimdienst und der öffentlichen Meinung im Westen. In der DDR erschien der Roman Der Gaukler des Schriftstellers Harry Thürk, der Solschenizyn als eine Marionette des amerikanischen Geheimdienstes denunziert. In den USA widmete er sich dem noch in der Sowjetunion begonnenen und ursprünglich auf 20 Bände angelegten Romanzyklus Das rote Rad (in deutscher Übersetzung sind drei Bände erschienen: August vierzehn, November sechzehn, März siebzehn), der ein Porträt der russischen Gesellschaft vor, während und nach der Oktoberrevolution liefern sollte. 1991 brach er das unvollendete Projekt ab.
Die liberalen Kräfte, die in der Februarrevolution 1917 den Zaren stürzten, erscheinen darin weniger als Gegner denn als Wegbereiter der Bolschewiki, die wenige Monate später mit der Oktoberrevolution siegreich waren. Der russisch-slawische Messianismus, der Solschenizyns Werk zunehmend inhärent wurde, verstörte im Westen aber nicht nur wegen seines Antiliberalismus, sondern auch, weil er gleichfalls in der Praxis des Bolschewismus wirksam geworden war. Solschenizyn hatten seine Leidenserfahrungen in den 1960er Jahren zum Christentum geführt. Auch damit stand er in der Tradition der großen russischen Realisten. Mit Lew Tolstoi hatte er den großen epischen Atem bei der Schilderung geschichtlicher Entwicklungen gemeinsam. Die philosophische und religiöse Vertiefung sowie die psychologische Eindringlichkeit von Fjodor Dostojewski erreichte er jedoch nicht.
1994 kehrte Solschenizyn nach Rußland zurück, das sich inzwischen vom Kommunismus verabschiedet hatte. Von der Entwicklung im Land, das in der westlichen Lebensweise sein Vorbild erblickte, zeigte er sich enttäuscht. Eine spektakuläre Veröffentlichung gelang ihm nochmals mit dem Zweiteiler »Zweihundert Jahre zusammen« (2002/03), in dem er sich mit dem Verhältnis von Russen und Juden auseinandersetzt. Kritik löste sein Hinweis auf den überproportionalen Anteil von Juden unter den russischen Revolutionären und seine Deutung des Holocaust als eine metaphysische Strafe aus. 2007 kam es zu einer einvernehmlichen Begegnung mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Schriften: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, Berlin 1963; Der erste Kreis der Hölle, Frankfurt a. M. 1968 (Originalfassung: Im ersten Kreis, Frankfurt a. M. 1982); Krebsstation, 2 Bde., Neuwied/Berlin 1968/69; August vierzehn, München 1972; Der Archipel GULAG (Bd. 1–3), Bern 1974/75; November sechzehn, München/Zürich 1986; März siebzehn, 2 Bde., München/Zürich 1989/90; »Zweihundert Jahre zusammen«. Die russisch-jüdische Geschichte 1795– 1916/Die Juden in der Sowjetunion, 2 Bde., München 2002/03; Zwischen zwei Mühlsteinen. Mein Leben im Exil, München 2005.
Literatur: Rudi Dutschke/Manfred Wilke (Hrsg.): Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke, Reinbek bei Hamburg 1975; Donald M. Thomas: Solschenizyn. Die Biographie, Berlin 1998.
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