Vorläufer des Internet, wurde mit TCP/IP fit gemacht, es gab den ersten Personal-Computer von IBM, sogar ein 800 Gramm schweres Funktelefon, das Motorola DynaTAC 8000X, für das der Begriff Handy noch nicht erfunden war. Alles im Westen, klar.
Aber man lebte noch analog, nicht digital. Wichtig blieb die Glotze. Ganz terrestrisch. Westsender und Ostsender. In Farbe! Noch ein Jahr hin bis zum Privatfernsehen. Privat klingt ja immer besser. – Sonst noch was? Die Neuwahlen zum Bundestag führten am 6. März zu einem fulminanten Sieg der CDU/CSU und zum Absturz der SPD. Kohl war zwar gekürt, für lange, lange Zeit; allerdings saßen die Grünen jetzt im Parlament. Vollbärtig und im Strick-Chic. Der „Stern“ blamierte sich grandios mit den Hitler-Tagebüchern, der „Spiegel“ thematisierte AIDS als „tödliche Seuche“, und FDP-Graf Lambsdorffs Immunität wurde im Zuge der Flick-Affäre aufgehoben.
Ein normales Jahr? Ziemlich heiß! Der bis dahin heißeste Sommer des Jahrhunderts. Dann sogar ein „heißer Herbst“: Hundertausende Leute gegen den NATO-Doppelbeschluß im Bonner Hofgarten, die größte Latschdemo des sich etablierenden linksalternativen Neu-Bürgertums, dessen Massenaktionen kulturrevolutionär einen eigenen Event-Charakter gewinnen. Risikofrei, freudvoll, bunt. Und die politisch außer Selbstvergewisserungen zunächst nichts ändern: Am 22. November beschließt der Bundestag endgültig die Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen, die bis Moskau nur noch wenige Minuten brauchen. Als Kompensation des sowjetischen Übergewichts. Heißt es. Heißt es drüben wieder anders. Man rechnet damals andauernd Trägersystem und nukleare Gefechtsköpfe gegeneinander auf. Klar ist nur: Die haben sich in nur einem Jahrzehnt verdoppelt.
Deswegen liegen wir 1982 NVA-Einberufenen hinter der Elbe öfter mal in den sogenannten Unterbringungsräumen und graben uns ein. Weil wir laufend Alarme absolvieren, läuft alles routiniert, und wir kennen das Stück Welt im Grenzgebiet vor Hitzacker, wo wir im „Ernstfall“ ins Gras beißen sollen. Wir liegen dort insbesondere während der NATO-Herbstmanöver, suchen nach Funkverbindung und koordinieren die Handlungen mit den Mot-Schützen- und Panzerverbänden der Sowjetarmee. Im Gegensatz zum „Gegner“ im Westen kommen wir aus unseren Einheiten nur alle paar Wochen kurz heraus. Wir kennen es nicht anders. Wir warten, schreiben Briefe und hören „Neue Deutsche Welle“: Peter Schilling: Major Tom. Nena: 99 Luftballons. Geier Sturzflug: Bruttosozialprodukt. Von irgendwo dröhnt ständig „Do You Really want to Hurt Me” von „Culture Club“, Robin Gibbs „Juliet“ und Rod Stewarts „Baby Jane“. – Unsere Freundinnen draußen stehen auf Gazebos „I like Chopin“ und Paul Youngs „Come Back and Stay“.
Wir kommen aber so schnell nicht zurück. Am 1. September schießt die sowjetische Luftwaffe bei Sachalin eine vom Kurs gekommene Boeing 747 der „Korean Airlines“ ab. 269 Tote. Die Nerven liegen blank. Aber die Nerven liegen sowieso blank. Ost und West gehen in diesem Jahr offenbar von einem möglichen nuklearen Konflikt aus. Die Thronrede der Queen zum dritten und vermutlich letzten der großen Kriege ist vorbereitet. NATO-Flottenverbände kreuzen verstärkt im Nordatlantik, der Ostsee und im Schwarzen Meer. US-Bomber nähern sich extrem dicht dem sowjetischen Luftraum, um die Bereitschaft zum Nuklearschlag zu demonstrieren und die sowjetische Luftabwehr zu testen. Im März ’83 startet Ronald Reagan das SDI-Raketenabwehrprogramm. Der sowjetische KGB ist von westlichen Angriffsplänen überzeugt und mobilisiert seine Residenzen zur größten Spionageoperation RJaN, die herausfinden soll, wie es wann losgehen wird.
Bevor das zehntägige NATO-Manöver „Able Archer 83“ (“Tüchtiger Bogenschütze”) startet, das mit hohem Realitätsgrad und der erstmaligen Einbeziehung politischer Führungspersönlichkeiten einen Atomkrieg simulieren soll, meldet ein sowjetische Überwachungszentrum den Start amerikanischer Interkontinentalraketen, und es ist der Besonnenheit von Oberstleutnant Stanislaw Petrow in einem fünfzig Kilometer südlich von Moskau gelegenen Serpuchow-15-Bunker zu verdanken, daß er in der Kommandozentrale der Satellitenüberwachung die Signale als Falschalarm einstuft und so ein Inferno selbständig handelnd verhindert.
Wovon die Welt nichts weiß. Auch wir in den Kasernen nicht. Die gechillten linken Demonstranten drüben ebensowenig. Wir registrieren nur die Spannung, die Nervosität, den Druck. Der Ton ist rau, die Gefechtsausbildung hart. Wir ruhen im Politunterricht aus, wo von “der letzten Klassenschlacht unter den Bedingungen eines thermo-nuklearen Krieges” die Rede ist. Im schwülen Sommer sind wir verblüfft davon, daß unser Land unter Vermittlung von Franz Josef Strauß einen Milliardenkredit Westgeld bekommt. Strauß wurde uns im Periodensystem der Westpolitiker bisher als der Erzfeind dargestellt. Weit, ganz weit rechts, fast schon draußen, sozusagen außerhalb des Spektrums. Alexander Schalck-Golodkowski, der den ominösen Kredit gemeinsam mit dem Bayern auf dem Gut des Großschlächters Josef März aushandelte, kennen wir schon gar nicht. Wir ahnen nicht, daß die DDR wirtschaftlich wegen Auslandschulden in der Klemme ist und daß ihr sowieso nur noch sechs Jahre bleiben. Weniger, viel weniger als Kohl. Die Erdölpreise waren explodiert. Die UdSSR half nicht. Konnte nicht, wollte auch nicht. Sie brauchte ihr Öl für die eigenen Devisen und mußte vor allem Getreide einführen. Unsere stellten überdies wieder auf Braunkohle um.
Wir erleben vor allem die Alarme und graben uns dann wieder in den Unterbringungsräumen ein, das Nachrücken der Panzer erwartend. Um als erste den Schlag auf uns zu nehmen, wie es im Politunterricht heißt. Was wir noch mitbekommen: Plötzlich wird am Zaun I der Grenze durch Pioniereinheiten die Anlage 500 abgebaut, jene Splitterminen, die der Westen Selbstschußanlage nennt. Eine der DDR-Gegenleistungen für die Milliarde, die Strauß im Westen allerdings übelgenommen wird. U. a. von Franz Handlos und Eckehard Voigt, die die CSU deswegen verlassen und mit Franz Schönhuber „Die Republikaner“ gründen.
Stehen wir jetzt also beim Klassenfeind in der Kreide, sagt einer hinter vorgehaltener Hand und grinst: Eine Milliarde! Mannomann! West! Wie willste denen das bloß zurückzahlen? – Mann, mit lauter Exporten! Geht doch eh alles rüber! Jedenfalls das, was was taugt. – Aber wenn die uns heute Geld pumpen, wollen sie uns ja wohl morgen nicht umlegen, oder?, erwidert ein anderer. Ist doch wie im Krimi: Verdienst ja nix an einem, der nicht mehr blechen kann … – Ach was, winkt einer ab, ist alles Politik. Machen die oben aus. Kommst du nicht ran. Geht alles irgendwie zusammen – der Zaster, die Raketen, der ganze Schiß voreinander. Sehen wir mal besser zu, daß wir uns selbst hier nichts versauen.
Mitten im heißesten Sommer des Kalten Krieges. Keine Ahnung davon, daß das letzte Kapitel begonnen hat.
Der Strauß-Kredit kostete den westdeutschen Steuerzahler praktisch nichts. Und die DDR konnte ihre Salden mit Devisenländern durch große Anstrengungen sogar wieder verbessern. Zu bezahlende Westimporte wurden für investive Zwecke genutzt. Es nützte ihr nichts. Wir waren, 1985 aus den Streitkräften entlassen, froh über die Friedensverhandlungen zwischen Gorbatschow und Reagan. Als sich die Großmächte dann einig waren, fielen die Grenzen, so wie sie vorher von ihnen aufgerichtet wurden.
Und eine Milliarde? Was für ein bescheidenes Pöstchen heutzutage …