Der Außenseiter des akademischen Betriebs ist zwar längst in der Fachwelt anerkannt, wird im intellektuellen Establishment aber noch immer als »Geheimtip« gehandelt. Ein Grund dafür liegt in der Kühnheit und Souveränität des analytischen Zugriffs von Kondylis: Seine Denkhaltung kennzeichnete er selbst als »deskriptiven Dezisionismus«, der jegliches Wertesystem als Funktion menschlichen Machtwillens mit tiefer Skepsis betrachtet, andererseits wissenschaftlich objektiver Erkenntnis mit großem Pathos verpflichtet ist. Seine Werke enthalten sich folglich ahistorischer normativer Urteile, um die Tugend des kalten, illusionslosen Blickes zu schulen.
Der Sohn eines Berufsoffiziers und einer Lehrerin war Sproß einer griechischen Oberschichtfamilie, zu der u. a. der 1936 gestorbene General und zeitweilige Minister Georgios Kondylis zählte. In Athen, wo er auch die Schule besucht hatte, studierte Panajotis Kondylis Philosophie und Klassische Philologie, absolvierte überdies noch vor Abschluß des Studiums seinen Militärdienst. Nach dem »Putsch der Obristen« im Jahr 1967 geriet er wegen seiner Befassung mit Marx und Engels in Verdacht, wurde aber nicht behelligt und konnte 1971 nach Deutschland gehen, um in Frankfurt am Main, vor allem aber in Heidelberg Philosophie, Geschichte und Politikwissenschaften zu studieren. Gefördert wurde er dort von den kriegsgedienten Historikern Reinhart Koselleck und Werner Conze, promovierte jedoch 1977 bei Dieter Henrich als Philosoph.
Kondylis blieb als Autor, Leser und Mann des Gesprächs zeit seines Lebens Privatgelehrter, der in Athen wie in Heidelberg zu Hause war. Sein Hauptwerk schrieb der polyglotte Grieche auf deutsch, da er dieser Sprache eine dem Altgriechischen ähnliche begriffliche, grammatische und damit philosophische Potenz zumaß. Kondylis’ Denken geht aus von einer sozialhistorisch gesättigten Ideengeschichte, die zu systematischen philosophischen Einsichten destilliert und damit theoretisch fundiert wird. Seine Fragment gebliebenen »Gründzüge der Sozialontologie « (Das Politische und der Mensch, 1999) verstehen den Menschen als ein soziales Wesen von Grund auf. Seinsgeschichte hat Kondylis zufolge nicht beim Menschen als einzelnem anzusetzen, so seine Kritik an Heidegger, sondern beim agonalen Sozialwesen, das stets zwischen Konflikt, Konkurrenz und Kooperation ausgespannt ist.
In Macht und Entscheidung (1984) legt er dar, daß Identität auf vorbewußten Grundentscheidungen fußt; indem sich der Machtanspruch der »eigenen Identität innerhalb des mit ihr verwachsenen Weltbildes« entfaltet, sind geistige Operationen nicht weniger als handfeste Handlungen immerauch Funktionen des menschlichen Selbsterhaltungstriebs und daher stets polemisch angelegt. Das Ringen um die Köpfe ist elementarer Bestandteil des Kampfes um die eigene Stellung in der Welt.
Beispielhaft entfaltet wird dies schon in Kondylis’ Dissertation über Die Entstehung der Dialektik (1979) bei Hölderlin, Schelling und Hegel und der damit zusammenhängenden Studie über Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus (1981), wo er zeigt, »wie sich ein systematisches Denken als Rationalisierung einer Grundhaltung und ‑entscheidung allmählich herauskristallisiert, und zwar im Bestreben, Gegenpositionen argumentativ zu besiegen«. Die Ausformung jener Dialektik, wie sie nach Hegel im Marxismus Ideologie einer weltgeschichtlich wirksamen Macht wurde, erweist sich als Teil eines konfliktreichen, schon im Spätmittelalter einsetzenden Prozesses der Ablösung von Weltbildern, in dem die formal-begrifflichen Strukturen der jeweils älteren Metaphysik stillschweigend übernommen und polemisch umgedeutet werden.
Kondylis’ Interesse galt daher einerseits solchen Denkfiguren, andererseits auch den konkreten Menschen und Schichten, die damit operieren. In diesem Sinne beschrieb und analysierte er die Formierung und Entwicklung der europäischen »Neuzeit« in seiner Studie über den Konservativismus (1986) und den Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform (1991), um schließlich konsequent mit der im 20. Jahrhundert etablierten nachbürgerlichen Massendemokratie auch die aktuellen Formen der Globalisierung in den Blick zu nehmen. Bereits Kondylis’ Deutung von Clausewitzens Theorie des Krieges (1988), deren Aneignung und Fortführung insbesondere in der Marxschen Tradition er untersuchte, belegt, daß er seine geistesgeschichtliche Arbeit nicht nur zur Fundierung einer Philosophie des Menschen als Sozialwesen betrieb: Sie läßt ihn als genuin politischen Denker erkennen, der sich vor allem Thukydides, Machiavelli, Thomas Hobbes, Carl Schmitt und Raymond Aron verpflichtet weiß.
Als besondere analytische Leistung von Lenins Clausewitz-Verständnis betont er etwa, daß diesem »die Politik nicht als das mäßigende Element erscheint, das den Krieg bändigen soll, sondern als ein Zustand permanenten Kampfes, woraus von Zeit zu Zeit Kriege entstehen müssen. Die Vorstellung vom Kampf steht im Mittelpunkt von Lenins politischem Denken «. Mit Clausewitz mißt Kondylis dem »Takt des Urteils« größte Bedeutung für jede angemessene »zukunftsorientierte Lagebeschreibung« zu: Dieser ist nicht als Metapher für Intuition, sondern als eine aus Erfahrung und Wissen gespeiste intellektuelle Urteilsfähigkeit zu verstehen. Dem entspricht Kondylis’ gesamtes Werk: Seine systematische und große Materialmassen bewältigende Durchdringung der Geschichte stellt das Rüstzeug bereit, die gegenwärtige Lage und das Potential künftiger Lageentwicklungen zu beurteilen. Frucht dieses politischen Denkens sind Kondylis’ zu einem Band zusammengefaßte Aufsätze über Das Politische im 20. Jahrhundert (2001), besonders aber seine Studie über die »Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg«. Hier wird eine Zukunft »als Form und Möglichkeit, nicht als Inhalt und Ereignis erkennbar«, in der globalisierte Verteilungskämpfe »das erschütterndste und tragischste Zeitalter in der Geschichte der Menschheit« jenseits aller Utopien erwarten lassen.
Schriften: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802, Stuttgart 1979; Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981; Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und die Wertfrage, Stuttgart 1984; Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986; Marx und die griechische Antike. Zwei Studien, Heidelberg 1987; Theorie des Krieges. Clausewitz – Marx – Engels – Lenin, Stuttgart 1988; Die neuzeitliche Metaphysikkritik, Stuttgart 1990; Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim 1991; Planetarische Politik nach dem Kalten Krieg, Berlin 1992; Montesquieu und der Geist der Gesetze, Berlin 1996; Das Politische und der Mensch. Grundzüge der Sozialontologie, Bd. 1: Soziale Beziehung, Verstehen, Rationalität, aus dem Nachlaß hrsg. v. Falk Horst, Berlin 1999; Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung, Heidelberg 2001; Machtfragen. Ausgewählte Beiträge zu Politik und Gesellschaft, Darmstadt 2006; Machiavelli, Berlin 2007.
Literatur: Jeroen Buve: Macht und Sein. Metaphysik als Kritik oder die Grenzen des Kondylischen Skepsis, Cuxhaven 1991; Falk Horst (Hrsg.): Panajotis Kondylis. Aufklärer ohne Mission, Berlin 2007; Adolph Przybyszewski: Autorenportrait Panajotis Kondylis, in: Sezession (2006), Heft 12.