durch seine wissenschaftliche Laufbahn zu ihrem Verfechter prädestiniert, wandelte sich Pareto zu einem ihrer mächtigsten Entzauberer. Lange vergessen, ist er seit etwa 1950 in Italien und Frankreich ein neu bedachter Autor; die Rezeption in Deutschland bleibt dagegen bis heute dürftig, seine Texte sind in nur wenigen Auszügen zugänglich, seine Etikettierung als »Klassiker der Soziologie « ist ganz formell gehalten.
Pareto studierte am Polytechnikum in Turin (1869 Ingenieurexamen). Danach übte er für zwei Jahrzehnte seinen Beruf in leitenden Stellungen bei Eisenbahngesellschaften in Rom und Florenz aus. In dieser ersten Phase des neuen Königreichs Italien vertrat Pareto anfänglich ultraliberale Positionen, publizistisch und in diversen Vereinigungen. Als er 1882 mit einer Kandidatur für das italienische Parlament scheiterte, war seine demokratisch-humanitäre wie nationale Begeisterung jedoch bereits unter dem Eindruck der einheimischen politischen Entwicklung der Ernüchterung gewichen. Fortan widmete er sich ausschließlich seinen volkswirtschaftlichen Studien, welche die mathematisch ausgerichtete Grenznutzenschule mitbegründeten (bis heute gilt sein Theorem des »Pareto-Optimum« in der Wohlfahrtsökonomie).
Unerwartet erhielt er 1893 ein Lehramt für Politische Ökonomie an der Universität Lausanne. Binnen kurzem begann Pareto, die Modelle der reinen Ökonomie sozialwissenschaftlich zu komplettieren, es brauchte aber noch bis 1916, ehe er sein Opus magnum vorlegten konnte, den Trattato, ein labyrinthisches Riesenwerk von 1 700 Seiten, womit er sich einen gewissen Zeitruhm erwarb. An den politischen Vorgängen in seiner Heimat nahm Pareto zu diesem Zeitpunkt wesentlich beobachtend teil; das gilt auch für den Aufstieg des Faschismus, den er mit einem gewissen Wohlwollen verfolgte, ohne daß er – auf Grund seines frühen Todes – dessen Entfaltung noch analysieren und beurteilen konnte. Wie in der Ökonomie fragt Pareto nach Bedingungen sozialen Gleichgewichts, verweigert sich hingegen dem dort üblichen Verweis auf den Nutzen von Tauschbeziehungen. Zu sehr hatte sich ihm durch persönliche Erfahrung und historische Studien aufgedrängt, daß sich Menschen mehrheitlich nicht von rationalen Zweck- Mittel-Erwägungen leiten lassen. Demzufolge konzentriert er sich auf »nicht-logische « Handlungen, die er auf regelmäßige Abläufe hin prüft und in einem komplexen Kategorienschema verarbeitet.
Letztes Movens menschlicher Aktivität sind Gefühls- und Gemütskräfte, irrationale Impulse, die sich dem Beobachter freilich nur in ihren Manifestationen zeigen: Die »Derivate« sind die objektiv feststellbaren Handlungsketten; die »Derivationen « ihre (logisch daherkommenden, rational klingenden) Rechtfertigungen, die Sinnstrategien seitens der Beteiligten oder Interpreten; die »Residuen« die psychisch konstanten, aber meist unbewußten, gewohnheitsmäßigen, rational nicht intendierten Antriebskräfte. (So entspricht z. B. dem Residuum »Beziehung zwischen Lebenden und Toten« ein Handlungstyp »Totenehrung und ‑erscheinung«, der in die Gleichförmigkeiten von »Begräbnisriten, Totenkulten und Telepathie« mündet.)
Besonderer Aufmerksamkeit wert sind ihm die innovierenden und die konsolidierenden Gestaltungs- und Willenskräfte der Gesellschaft.Derivate, Derivationen und Residuen – der Chemie entnommene Begriffe – sind gemeinsam mit rationalen Interessen die vier Elemente, deren interdependentes Wechselspiel eine labile soziale Balance herstellt und für deren Zusammenwirken Pareto eine Überfülle an historisch-vergleichendem Material illustrativ heranzieht. In eindrucksvoller Darstellung sondert er die invarianten, vorreflexiven Motive der Akteure von ihren variablen, historisch zufälligen symbolischen Repräsentationen. Dabei ermittelt er auch eine Reihe von historischen Rhythmen (ähnlich wie in den ökonomischen Konjunkturzyklen), etwa die des permanenten Austauschs der herrschenden Eliten. Die Derivationen umfassen alle Ideen, Religionen, Theorien, »Ismen«, Legitimitätsdiskurse und Lehren (von den Zehn Geboten über den kategorischen Imperativ bis zur Idee der Volkssouveränität), die Kollektive zu einem bestimmen Handeln veranlassen, indem sie bei den zugrundeliegenden nichtrationalen Impulsen einen Resonanzboden finden bzw. ihnen Ausdruck verleihen.
Die herrschenden Klassen bedienen sich dazu rhetorischer Figuren – Pareto nennt sie zuweilen Demagogien –, die ihre Ambitionen teils verbergen sollen oder ihnen spontan-überzeugt, als Gesinnung, aufgestülpt werden. Paretos Skepsis gegenüber einem Handlungsmodell nach Regeln der Vernunft – es vom Kopf auf die Füße stellen, wäre auch sein Wahlspruch gewesen – bedeutet im Kern, daß sich jede Gesellschaft aus letzten Wertentscheidungen konstituiert und sie sich immer irgendeiner Art von Rationalisierung in Form von Religion oder Weltanschauung zu ihrer Verdeutlichung oder Verschleierung bedienen wird und bedienen muß. Damit wäre auch die Aufgabe einer heutigen Sozialwissenschaft, die beherrschenden Meinungen (sprich: Derivationen) ihrer verbalen Masken zu entkleiden und sie in ihren tatsächlich wirkmächtigen Zusammenhang mit (nichtlogischen) Bedürfnissen, Intentionen und Bestrebungen einzustellen und nur von daher ihre Leistung für soziale Stabilität und Wandel zu attestieren.
Schriften: Trattato di sociologia generale [1916], Torino 1988 (Auszüge in deutscher Sprache bei Gottfried Eisermann: Vilfredo Paretos System der allgemeinen Soziologie. Einleitung, Texte und Anmerkungen, Stuttgart 1962); Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Carlo Mongardini, Wiesbaden 2007.
Literatur: Maurizio Bach: Jenseits des rationalen Handelns. Zur Soziologie Vilfredo Paretos, Wiesbaden 2004; Gottfried Eisermann: Vilfredo Pareto. Ein Klassiker der Soziologie, Tübingen 1987; Arnold Gehlen: Vilfredo Pareto und seine »neue Wissenschaft« [1941], in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1983; Piet Tommissen: Vilfredo Pareto, in: Dirk Käsler (Hrsg.): Klassiker des soziologischen Denkens, Bd. 1, München 1976.