Der Lauf der Geschichte hat den avantgardistischen Anspruch widerlegt. Weder Ochs noch Esel brauchte es, um den »Sozialismus in seinem Lauf« aufzuhalten. Die DDR diente im Rahmen des Einigungsprozesses keineswegs als Stichwortgeber. Sie wurde einfach zum Beitrittsgebiet erklärt. Hier verschmolzen nicht zwei Systeme zu einem neuen; die Bundesrepublik wurde um »fünf neue Länder« plus Ost-Berlin vergrößert.
Skeptiker klagen, daß allzuviel getilgt und »plattgemacht« worden sei. Motto: Es war ja nicht alles schlecht. Und was ist schon übernommen worden in die neue Großrepublik, außer dem grünen Pfeil für Rechtsabbieger und ein paar Produkten: Rotkäppchen-Sekt, Nudossi und Halloren-Kugeln, sämtlich mit Retro-Charme statt mit Popästhetik behaftet. Die vergrößerte BRD behielt ihren prägenden Sitz im Westen. Hier sind bis heute die tongebenden Medienhäuser angesiedelt, und deren Berichterstattung über die immer noch irgendwie neuen Länder gleicht nach wie vor Korrespondentennachrichten aus dem Ausland. Das Gewicht ostdeutscher Politiker ist gering. Rund 20 Prozent der gelernten »Wessis« haben 23 Jahre nach der Wende – glaubt man’s? – immer noch keine Reise nach »drüben« gewagt, umgekehrt ist der alte Teil keineswegs Anderland geblieben. Über die Anziehungskraft des Westens muß man wenige Wort verlieren.
Natürlich gibt es gelegentlich Klagen über eine heimliche Infiltrierung durch DDR-Viren, die längst ausgerottet schienen: Dräut ein neuer Überwachungsstaat? Stasi 2.0? Sozialstaatlicher Auswuchs? Was ist mit der sukzessiv weichenden Bindungskraft der Kirchen und dem Schwinden des dreigliedrigen Schulsystems? Und thronen nicht über allem die ostdeutschen Gewächse Merkel und Gauck als oberste Repräsentanten? Ja, das alles stimmt, und doch: ein allgemeiner Ostwind ist nicht zu vermerken. Dem Westler ist es allgemein erlaubt, sentimental zurückzublicken auf seligere Zeiten. Das können je nach Geschmack die Ära Heuss sein oder die Jahre um 1968. Der Ostler hat es schwerer. Er würde der Ostalgie bezichtigt und fände Gehör bloß in linken Kleinpublikationen und bei »Unverbesserlichen«.
Dabei existiert neben den subversiven, teils unentschiedenen Merkmalen einer »Veröstlichung« ein weites Feld, das längst bundesweit ossifiziert wurde, und zwar so gründlich, daß alte Westvorstellungen nur noch als geisterhafte Relikte im Raum schweben: Es ist das Frauenbild, die Frauenpolitik mit all ihren Implikationen von der »geschlechtergerechten« Erziehung über die Mutterschaft bis zur Rolle der Frau im Wirtschaftsleben.
Die ostdeutsche Frau ist Avantgarde. Und es gibt einen nahezu unhinterfragten, gesamtdeutschen Wunsch, zu diesem Ideal aufzuschließen. Niemand hat dieses Leitbild öffentlich zur Ikone erhoben, allenfalls erfährt die ostdeutsche »Krippenlandschaft« definitive Würdigungen. Wertverschiebung und Rollenwechsel geschahen so subkutan wie sukzessiv. Wer Avantgarde ist – der Begriff entstammt der französischen Militärsprache –, ist viel mehr als ein Trendsetter. Moden können jäh in ihr Gegenteil umschlagen, die Avantgarde hingegen gibt die Richtung an, in die fortan ausgeschritten wird.
Es gibt ungezählte Punkte im Bereich der Frauen- und Familienpolitik, in denen der Westen der Ostzone hinterherhinkte. Die heute populären Idealvorstellungen vom Frauendasein (ob als Arbeitstätige, als Konsumentin oder als Mutter; einzige Ausnahme dürfte die durchschnittliche Rentnerin sein) sind im Osten gelebte Wirklichkeit. Und obwohl die Stichwortgeber sich wohlweislich hüten, diese Ost-Richtung auch so zu benennen – der Westen, dem die Ostfrauen paradoxerweise zwar die Türen einrennen, ist seit Jahrzehnten mit der Aufholjagd beschäftigt. Fast alles, was wir heute vorfinden an frauenpolitischen Bestrebungen und Leitbildern, hatte die DDR mustergültig vorexerziert. Wohlgemerkt, wie sich das für eine Diktatur freilich gehört, ohne Skandaldebatten (undenkbar eine Schmutzkampagne vergleichbar mit der um Eva Herman!), ohne Genderinstitute, ja überhaupt ohne Feminismus. Der wurde in der DDR als schändliche und spalterische Verirrung der Klassengesellschaft gebrandmarkt. Weggefallen ist in der vergrößerten BRD der Rahmen, in den die Frauenpolitik des Ostteils eingespannt war und der Werte und Leitmotive strammzurrte, die heute obsolet sind. Nämlich: Patriotismus, Bevölkerungspolitik und ein Wir-Gefühl, das sich abgrenzte von »dem anderen«. Mithin schöpft der heutige Staatsfeminismus nur selektiv – nämlich unter der Blaupause des Individualismus – aus dem Fundus der DDR-Frauenpolitik. Dies aber um so gründlicher.
In vielfältiger Hinsicht lehrreich ist die Lektüre des kiloschweren, engbedruckten DDR-Schinkens Kleine Enzyklopädie – Die Frau. Das von einem gelehrten Autorenkollektiv verfaßte Handbuch zu allen erdenklichen Themen mit weiblicher Relevanz (von Haushaltsorganisation über »regelwidrige Schwangerschaften«, die günstige und anmutige Körperhaltung beim Warten auf den Bus, »Sexualdifferenzen im Krankheitsbefall«(sic!), Schminktechniken, altersgemäße Kleidung bis zur Bedeutung der »Frau im Kampf um den Frieden«) ist 1961 erstmals erschienen, bis 1989 erlebte es zahlreiche Auflagen. Es ist heute gebraucht zum Cent-Preis erhältlich – ein Geschenktip!
Die gesamtdeutsche Frau von heute müßte mehrere Dutzend Bücher einkaufen, um derart umfassend über sämtliche Alltags- und Problemlagen informiert zu sein. Kompendien mit umfassendem Anspruch blühen nur in Gesellschaften, die sich multipler Narrative enthalten. Hier gab es keine mißlichen Lagen und keinen Grund zu jammern (übers Älterwerden, über Diskriminierung, über Problemkinder). Es gab Herausforderungen, die bewältigt werden können – zum Teil mit bedenkenswerten Anleitungen! Die sinnstiftende Großerzählung hinter dem knapp tausendseitigen Leitfaden geht von einer vierfachen Bestimmung der Frau aus, ohne daß diese Aufgabenfelder als Belastungen apostrophiert worden wären: Mutter, Hausherrin, Gefährtin des Mannes, Erwerbstätige. Die echten Frauen, das DDR-Lesepublikum, mag vielfältig gestöhnt haben über die Zumutungen und staatlich propagierten Verbrämungen des Alltags. Die papierene Richtschnur jedenfalls liest sich heute in großen Teilen als BRD-politisches Wunschdenken.
Die Avantgarde der Ostfrau wird an ungezählten Punkten deutlich. In Nebenschauplätzen allemal: So wurde die Anrede unverheirateter Frauen als »Fräulein« schon in frühen DDR-Jahren als inadäquate und diskriminierende Anrede gebrandmarkt. Westdeutschland zog Jahrzehnte später nach. Ähnliches gilt für den stets am 8. März zelebrierten Frauentag, den die Marxistin Clara Zetkin initiierte. 1946 hatte die sowjetische Besatzungszone ihn etabliert, in der neuen BRD steht er erst seit wenigen Jahren neben zahlreichen weiteren Frauengedenktagen auf der medialen Agenda. Die körperliche Züchtigung unartiger Zöglinge wurde in der DDR 1949 abgeschafft, in der BRD erst 1973. Insgesamt hinkt im beiderseits frauendominierten Bildungssektor der Westen dem Osten deutlich nach. Neueste »Errungenschaften« wie die Aufgabe der Schreibschrift zugunsten einer druckbuchstabenähnlichen »Schulausgangsschrift«, die Verkürzung der Gymnasialausbildung auf acht Jahre, die Gesamtschulbestrebungen – die DDR hatte all diese heute als progressiv geltenden Wege längst beschritten.
Bei Eheschließungen steht mittlerweile selbstverständlich neben dem Nachnamen des Mannes der Name der Frau (oder ein Doppelname) als Familienname zur Verfügung; die Ausweitung auf den Frauennamen war in der DDR schon 1965 rechtmäßig – in der BRD erst 1976. Einer der markanten Punkte, in denen die DDR dem heutigen BRD-Leitbild mustergültig voranschritt, ist die Frauenerwerbstätigkeit. Die weibliche Berufstätigkeit unterlag in der DDR der »alleinigen Entscheidung der Frau« und löste »die Verpflichtung des Ehepartners aus, in kameradschaftlicher Rücksichtnahme und Hilfe das Vorhaben zu unterstützen.«
In der BRD benötigten Frauen hingegen bis 1977 die schriftliche Zustimmung des Mannes, wenn sie einer Berufstätigkeit nachgehen wollten. 1980 waren in der DDR 73,2 Prozent aller Frauen zwischen 15 und 60 Jahren erwerbstätig, in der BRD waren es 37 Prozent. Oft wird kritisiert, daß die hohe Frauenerwerbsquote der DDR wenig mit emanzipatorischen Leitbildern zusammenhing, sondern mit barer wirtschaftlicher Notwendigkeit. Allein Schelme behaupten das gleiche von der bis heute jährlich steigenden Frauenerwerbsquote auch in den westdeutschen Ländern. Heute sind rund 82 Prozent (1989: 92 Prozent!) der ost- und rund 72 Prozent der westdeutschen Frauen im erwerbsfähigen Alter in Lohn und Brot. Politiker in Ost und West wünschen einen weiteren Anstieg – im Namen der weiblichen Selbstverwirklichung freilich!
Noch folgenschwerer als die Frage nach dem außerhäuslichen Engagement ist die nach der Geburtenregelung, auch wenn letztere zum Schambereich der Leitartikler und Feuilletonisten gehört. In den ersten Auflagen der Frau war von Abtreibung keine Rede. 1972 (zum Frauentag!) trat in der DDR die Fristenlösung in Kraft. In den ersten zwölf Wochen durfte eine Frau die Schwangerschaft ohne Wenn und Aber abbrechen. Die Frau-Auflagen ab 1972 (anthropologischer Gestus: »Der Mensch ist im Gegensatz zum Tier imstande selbst zu entscheiden.«) verwenden den euphemistischen Terminus einer Schwangerschaftsunterbrechung: als sei das Beenden ein Pausieren. Versicherungsrechtlich galt ein solcher Vorgang als Krankheitsfall.
Die erst seit 1995 bundesweit geltende Regelung ist faktisch identisch mit dem DDR-Paragraphen 153; die abtreibungswillige Frau muß sich zwar »beraten« lassen, aber keine Gründe benennen. Schwangerschaftsverhütung – Pille und Spirale – gab es in der DDR kostenlos, eine Sterilisation hingegen war strengstens indiziert. Immerhin waren Frausein und Mutterschaft in der DDR untrennbar verbunden. Auch das zählt zu den (ökonomisch begründeten) Wünschbarkeiten heutiger BRD-Politik. Nur etwa zehn Prozent der DDR-Frauen waren kinderlos, in den seltensten Fällen absichtlich, es gab keinen Schwerpunkt der Kinderlosigkeit bei Akademikerinnen. Schwanger wurde man beizeiten (früher als im Westen), Einzelkinder waren rar.
»In der gewollten Kinderlosigkeit spiegelt sich die Krise der kapitalistischen Gesellschaft wider«, heißt es in Die Frau. Das Aufziehen von Kindern erfordere »restlose Hingabe« und »das Zurückstellen egoistischer Wünsche.« Noch in jüngeren Ausgaben wurde als »Notwendigkeit« gefordert, »daß zur Erhaltung der Bevölkerung in jeder Ehe mehr als zwei Kinder geboren werden. Kinderreiche Familien erfahren in besonderem Maße die Fürsorge des Staates.«
Bereits hier, 1961, wurde mit autoritärer Strenge gefordert, daß sich Vater und Mutter Pflege und Erziehung teilen sollten. Freilich habe der Mann »seinen Teil der häuslichen Pflichten« zu übernehmen. Die Frau hingegen dürfe sich nicht der »Enge des Kochtopfhorizonts« überlassen. Nur wenn sie sich fortlaufend geistig entwickle, werde sie ihre Anziehungskraft bewahren. Apropos: Eine Scheidung sei dennoch »keine Schande«. Ein himmelweiter Unterschied zu den Wertvorstellungen der alten BRD, kaum einer zu den heutigen. Unterhaltszahlungen des Mannes (man beachte die dahingehende Entwicklung in der BRD!) waren nicht zu erwarten.
Eminent wichtig war den DDR-Propagandisten ein »frühzeitiges Hineinwachsen ins gesellschaftliche Kollektiv«. Wo könnte die staatliche Vereinnahmung und »Wertevermittlung« besser geschehen als in Krippen, Wochenheimen (durchgehend von Sonntagabend bis Freitagnachmittag), Kindertagesstätten und Horten? Der Westen ist erst mit deutlicher Verspätung auf diesen Trichter gekommen. Heute »bebrütet« noch jede zweite Westmutter ihr Kleinkind zu Hause, im Osten sind es nur an die 30 Prozent. Im Kindergartenalter hütet jede zwölfte Ostfrau das Haus – im Westen jede dritte. Die Krippenoffensive will diesem »Mißstand« bis Mitte 2013 abhelfen und sich damit dem gelobten Ostniveau annähern. Derzeit werden im Osten rund 60 Prozent der Kinder ab drei Jahren ganztags fremdbetreut, im Westen sind es »klägliche« 17 Prozent. Der Trend weist dahin, die berüchtigte »Teilzeitfalle« zu hintergehen.
Die Ostfrau, ohne große Babypausen auskommend und seit je im Beruf ihren Mann stehend, hat zu 94 Prozent des Männerverdienstes aufgeschlossen, während Westfrauen noch auf 76 Prozent des männlichen Gehaltsniveaus arbeiten. Die Tendenz des wirtschaftlich-politischen und (medial vermittelten) weiblichen West-Willens weist stark nach oben: Mütter an die Schreibtische, Kassen, Maschinen und Managerpositionen! 30 Prozent beträgt der Frauenanteil im Osten auf der Führungsebene privater und öffentlicher Unternehmen, 44 Prozent in der zweiten Führungsebene. Dies ohne Quotenpropaganda: ein Bestand, von dem die – im Schnitt größeren und internationaler ausgerichteten – Westunternehmen nach politischer Maßgabe nur träumen.
Hier, in Schnellroda, in der sachsen-anhaltischen Provinz, sind unser Elektriker, unser Schlosser und unser Heizölfahrer weiblich, sie führen das Geschäft und ihre Angestellten. In den Schulen unserer Kinder bestätigt sich das, was Ursula Sarrazin (Hexenjagd, München 2012) für ihr Berliner Umfeld kritisch festgehalten hat: Die Lehrerinnen sind selten eingebettet in ein »bürgerliches Umfeld«. Deren Männer verdienen nicht als Unidozent oder Anwalt ihr Geld wie die Gatten der Westlehrerinnen, sondern ebensogut als Maurer oder Fernfahrer.
Anders als im Westen ist hier das statusmäßige weibliche Heiratsverhalten »nach oben« keineswegs die Norm. Und weiter: Die sogenannten MINT-Fächer (Mathe, Informatik, Naturwissenschaften und Technik), ansonsten im Ruch, Profilierungsfächer für Jungs zu sein, werden hier auf deutlich höherem Niveau (und meist von Frauen) unterrichtet, als wir selbst das von unserer (West-) Schulzeit her kennen. Die Nachbarin zur Linken ist Maschinenbauingenieurin, die zur Rechten Kranführerin, sie halten beides für das Normalste der Welt. Frau tut, was sie kann, und zwar ohne emanzipatorisches Sendungsbewußtsein. »Gegendert« sind die Leute dennoch nicht. Auf Festen gibt es strikt die Frauenecke (Sekt) und die Männerbank (Bier und Schnaps). Feministische Befindlichkeitsstörungen: Fehlanzeige. Familiäre Telefonbucheinträge pflegen hier (mindestens im Verhältnis halb/halb) unter dem Namen der Frau zu laufen. 65 Prozent der sachsen-anhaltischen Neugeborenen (zum Vergleich: 25 Prozent in Bayern) kommen »unehelich« zur Welt, ein fraglos avantgardistischer Trend.
2009 sang Alice Schwarzer im Interview mit der SUPERillu ein Loblied auf die ostdeutsche Frau. Die Westfrauen habe man 40 Jahre lang im Glauben gelassen, »daß sie nur den Fummel kaufen müssen und alle Männer rennen sabbernd hinterher.« Im Osten seien Frauen einer »relativ geringeren Verblödung« ausgesetzt gewesen. Dort sei diese »Kaufe und du bist glücklich-Ideologie« erst nach der Wende angekommen.
Schwarzer spürt noch immer den Widerstand ostdeutscher Frauen gegenüber dem Schönheits- und Jugendwahn. Die Diskussionen mit Frauen in Erfurt oder Leipzig seien ernsthafter und genauer als im Westen, sagt die Feministin. Die Frauenbewegung im Osten habe »zur Verbesserung der Lage der Frauen in Gesamtdeutschland beigetragen«. Korrigierend darf man einschieben: zur Veränderung. Man hüte sich, den Trägern dieser »Avantgarde« kritiklos hinterherzumarschieren!