Ehrenrettung für einen Pastor

51pdf der Druckfassung aus Sezession 51 / Dezember 2012

von Thorsten Hinz

Neugierig und voller Unschuld hatte der Zeitungsleser nach der Rezeption des Schriftstellers Wilhelm Raabe gefragt. Die Antwort von Marcel Reich-Ranicki war kurz, entschieden und haßerfüllt: Raabe sei in Vergessenheit geraten. Das verwundere ihn – Reich-Ranicki – gar nicht, denn Raabes Bücher hätten ihn – Reich-Ranicki – immer gelangweilt.

Bald wür­de sein – Raabes – Werk wohl auf­hö­ren, »Stoff sogar für küm­mer­li­che Ger­ma­nis­ten zu sein«. Sein popu­lärs­ter Roman sei zugleich sein »frag­wür­digs­tes, wenn nicht wider­lichs­tes Buch: der anti­se­mi­ti­sche Roman Der Hun­ger­pas­tor«. Zwi­schen­durch ent­schlüpf­te Reich-Rani­cki das Geständ­nis, Raa­be »sei viel­leicht noch heu­te ein über­schätz­ter Roman­cier«. Also doch kein Ver­ges­se­ner! Der Groß­kri­ti­ker hat­te ledig­lich sei­nen per­sön­li­chen Exter­mi­nie­rungs­wunsch geäußert.

Der 1831 gebo­re­ne, 1910 ver­stor­be­ne Wil­helm Raa­be ist die Kon­trast- und Kom­ple­men­tär­fi­gur zum elf Jah­re älte­ren Theo­dor Fon­ta­ne. Die­ser hat­te meh­re­re Jah­re als Kor­re­spon­dent aus Lon­don berich­tet. Das ver­gleichs­wei­se pro­vin­zi­el­le Preu­ßen-Deutsch­land schil­der­te er aus der Sicht des urba­nen Welt­man­nes. Raa­be dage­gen beschrieb die Welt aus der Per­spek­ti­ve der deut­schen Pro­vinz. Sein Blick ist weder sen­ti­men­tal noch roman­ti­sie­rend, son­dern distan­ziert und iro­nisch. Er fällt auf eine länd­lich-klein­städ­ti­sche Welt, die spät­feu­dal, patri­ar­cha­lisch, vol­ler Skur­ri­li­tä­ten und Ana­chro­nis­men ist, wo jedoch nichts an die bar­ba­ri­schen Zustän­de erin­nert, wel­che zur glei­chen Zeit aus den länd­li­chen Gegen­den Ruß­lands mit­ge­teilt werden.

So übel das Leben den Figu­ren auch mit­spielt, meis­tens gibt es eine Instanz, die das Äußers­te ver­hin­dert oder abmil­dert: die gut­her­zi­ge Jun­ker­wit­we, den lebens­klu­gen Pfar­rer, den nach­sich­ti­gen Staats­an­walt. In die­ser Welt fin­det der Dorf­trot­tel genau­so sein Gna­den­brot wie das exi­lier­te Adels­fräu­lein oder der zahn­lo­se Che­va­lier, die letz­ten Über­bleib­sel des Anci­en régimes. Die Welt mit ihren klein­tei­li­gen Land­fet­zen, spitz­gie­b­li­gen Gas­sen, ihren Flucht­win­keln und Ver­ste­cken gerät lang­sam, aber sicher unter die Räder des Indus­trie­zeit­al­ters. Die Don­ner­sät­ze aus dem Kom­mu­nis­ti­schen Mani­fest über die Zer­stö­rung der »feu­da­len, patri­ar­cha­li­schen, idyl­li­schen Ver­hält­nis­se«, über die zer­ris­se­nen »bunt­sche­cki­gen Feu­dal­ban­de« und die Sub­sti­tu­ti­on »der zahl­lo­sen ver­brief­ten und wohl­erwor­be­nen Frei­hei­ten« durch »die eine gewis­sen­lo­se Han­dels­frei­heit« – Raa­be hat sie auf die Lebens­wirk­lich­keit über­tra­gen. Des­halb gehört er zu den gro­ßen deut­schen Rea­lis­ten des 19. Jahrhunderts!

Doch Reich-Rani­cki ging es ohne­hin nicht um Lite­ra­tur, son­dern – wie fast immer, wenn der Begriff »anti­se­mi­tisch« her­vor­ge­holt wird – um Lei­den­schaf­ten, um Deu­tungs­ho­heit, um Macht. Die Deu­tungs­ho­heit ergibt sich nicht aus dem bes­se­ren Argu­ment. Ent­schei­dend ist allein, wer über die for­mel­len und infor­mel­len Mit­tel – vor allem über den Zugriff auf die Medi­en – ver­fügt, um fest­zu­le­gen, wel­che Argu­men­te und Rede­wei­sen benutzt wer­den dür­fen und wel­che nicht. Dafür ist Reich-Rani­cki sel­ber ein spre­chen­des Bei­spiel. Unge­niert nann­te er im Jahr 2000 den His­to­ri­ker Ernst Nol­te eine »trü­be, ja ver­ächt­li­che Figur der Zeit­ge­schich­te«. Als Mar­tin Wal­ser ihn 2002 im Roman Tod eines Kri­ti­kers als Lite­ra­tur­kri­ti­ker André Ehrl-König kari­kier­te und auf sei­ne Macht­po­si­ti­on im Kul­tur­be­trieb anspiel­te, brach­te FAZ-Her­aus­ge­ber Frank Schirr­ma­cher umge­hend den Anti­se­mi­tis­mus-Vor­wurf gegen Wal­ser in Stel­lung. Aller­dings ver­füg­te Wal­ser neben ein­zig­ar­ti­gen Ver­kaufs­zah­len auch über einen Ruf als Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­ger der ers­ten Stun­de (»Unser Ausch­witz«, 1965) und konn­te den Frank­fur­ter Anschwär­zer zwin­gen bei­zu­dre­hen. Den­noch geriet die Affä­re zum Lehr­stück, denn kei­ne Hand­voll deut­scher Autoren ver­fügt außer Wal­ser über die Mit­tel, um das ein­mal ver­häng­te, töd­li­che Anti­se­mi­tis­mus-Stig­ma erfolg­reich von sich zu weisen.

Wie stets in sei­nen Wer­ken erweist ­Raa­be sich im 1864 erschie­ne­nen Hun­ger­pas­tor als Men­schen­freund. Der Roman erzählt, begin­nend im Jahr 1819, die par­al­le­len Lebens­we­ge zwei­er Freun­de. Der Schuh­ma­cher­sohn Hans Unwirrsch und Moses Freu­den­stein, Sohn eines aus Rus­sisch-Polen zuge­wan­der­ten jüdi­schen Tröd­lers, wach­sen in einer Klein­stadt auf. Moses wird von den ande­ren Kin­dern gehän­selt und gede­mü­tigt, bis Hans sich vor ihn stellt. Nach dem Abitur nimmt Hans ein Theo­lo­gie­stu­di­um auf, Moses stu­diert Phi­lo­so­phie. Er geht nach Paris, betä­tigt sich als Lite­rat, kon­ver­tiert zum Katho­li­zis­mus und nennt sich fort­an Dr. Theo­phil Stein. Um jeden Preis will er Kar­rie­re machen und bespit­zelt im Regie­rungs­auf­trag die Emigrantenszene.

Nach Jah­ren führt der Zufall die bei­den in die­sel­be Stadt, wo Unwirrsch bei einem Fabri­kan­ten eine Anstel­lung als Haus­leh­rer gefun­den und (Freuden)Stein eine außer­or­dent­li­che Pro­fes­sur in Aus­sicht hat. Die Begeg­nung mit Unwirrsch miß­fällt ihm, will er doch sei­ne Her­kunft ver­ber­gen. Dank sei­ner Intel­li­genz und Gewandt­heit erringt er eine ange­se­he­ne gesell­schaft­li­che Posi­ti­on, die er nutzt, um den Ruf des schwer­blü­ti­gen und unbe­hol­fe­nen Unwirrsch zu unter­gra­ben. Hin­ter sei­nem Rücken ver­spot­tet er ihn als »Hun­ger­pas­tor« und fädelt eine Intri­ge ein, durch die die­ser sei­ne Anstel­lung ver­liert. Spät durch­schaut Unwirrsch den ver­meint­li­chen Freund als »schlüpf­ri­ge, ewig wech­seln­de Krea­tur«. Freu­den­stein ver­führt die Fabri­kan­ten­toch­ter und flieht mir ihr nach Paris – in der Annah­me, ihre Eltern damit zu zwin­gen, die Ver­bin­dung zu legi­ti­mie­ren und ihm die Mit­gift aus­zu­zah­len. Doch wird sei­ne Frau ent­erbt, wor­auf er sie fal­len­läßt. Schließ­lich ver­liert Freu­den­stein die Gunst sei­ner Auf­trag­ge­ber und wird für bür­ger­lich tot erklärt. Unwirrsch hin­ge­gen fin­det sein fami­liä­res Glück und in einer klei­nen Pfar­rei an der Ost­see eine Auf­ga­be, die ihn ausfüllt.

Der Hun­ger­pas­tor ent­hält unüber­seh­ba­re Schwä­chen, so die manichä­ische Figu­ren­kon­stel­la­ti­on, in der sich die simp­le Gegen­über­stel­lung von Moral und Unmo­ral, von rich­ti­gem und fal­schem Leben aus­drückt, oder der bigot­te, lehr- und mär­chen­haf­te Schluß, wo der Tugend­haf­te belohnt und der Böse bestraft wird. Das Vor­bild für das Arran­ge­ment war Gus­tav Frey­tags Roman Soll und Haben aus dem Jahr 1855. Ein Ver­gleich bei­der Bücher ver­deut­licht frei­lich auch die künst­le­ri­schen Vor­zü­ge Raabes. Bei­de Autoren haben den Prot­ago­nis­ten spre­chen­de Namen ver­lie­hen. Bei Frey­tag hei­ßen sie Anton Wohl­fahrt und Itzig Vei­tel, wodurch von Anfang an Wert­ur­tei­le sug­ge­riert wer­den, die die Sym­pa­thien des Lesers steu­ern. Der Name »Unwirrsch« dage­gen bezeich­net eine zunächst nach­tei­li­ge Cha­rak­ter­ei­gen­schaft. Die mora­li­sche Über­le­gen­heit des Namens­trä­gers ent­hüllt sich erst wäh­rend der Romanhandlung.

Als Anton nach Jah­ren wie­der auf Itzig trifft, tritt der ihm »hager, bleich, mit röt­li­chem krau­sen Haar, in einer alten Jacke und defek­ten Bein­klei­dern« ent­ge­gen, so »daß er einem Gen­dar­men ungleich inter­es­san­ter sein muß­te als ande­ren Rei­sen­den«. Auch sein Spre­chen berei­tet Unbe­ha­gen: »Die Leu­te sagen, daß du gehst nach der gro­ßen Stadt, um zu ler­nen das Geschäft. … ich gehe auch nach der Stadt, ich will machen mein Glück.« Raabes Pro­sa ist unver­gleich­lich sub­ti­ler. Moses Freu­den­stein ali­as Theo­phil Stein ist eine aus­ge­spro­chen ele­gan­te Erschei­nung. Zwar bedient auch er sich der jid­deln­den Sprech­wei­se, doch bezeich­nen­der­wei­se nur im Gespräch mit dem Vater, als der ihn dar­über belehrt, daß Bil­dung das bes­te Mit­tel sei, um den sozia­len Auf­stieg zu errei­chen und den Quä­le­rei­en der Mit­men­schen zu ent­kom­men. Moses ver­spricht ihm: »So will ich sit­zen im Dun­keln und will ler­nen alles, was es gibt, und wenn ich alles weiß und habe das Geld, so will ich es ihnen in der Gas­se ver­gel­ten, was sie mir tun.«

Genau­so kommt es auch. Moses kann sich auf eine Rei­he vor­teil­haf­ter Eigen­schaf­ten und Talen­te stüt­zen: Hans ist ein guter und flei­ßi­ger Schü­ler, doch Moses ist ein Hoch­be­gab­ter und bereits als Schü­ler zu phi­lo­so­phi­scher Spe­ku­la­ti­on fähig. Es zeugt von der Meis­ter­schaft ­Raabes, daß er das Niveau­ge­fäl­le zwi­schen den Freun­den nicht ein­fach nur behaup­tet, son­dern durch Dia­lo­ge und Gesell­schafts­sze­nen zur Anschau­ung bringt. Der aus Paris zurück­ge­kehr­te Stein ver­fügt über glän­zen­de gesell­schaft­li­che Fähig­kei­ten: Er ist welt­ge­wandt, elo­quent und kann sich auf die unter­schied­li­chen Gesprächs­part­ner leicht ein­stel­len. Er greift ihre unaus­ge­go­re­nen Gedan­ken auf, ord­net sie blitz­schnell und faßt sie in eine anspre­chen­de Form, um sie ihnen als ihr ver­meint­li­ches geis­ti­ges Eigen­tum zurück­zu­ge­ben. Er mani­pu­liert sie durch Schmei­che­lei und macht sie sich gefü­gig. Loya­li­tä­ten gleich wel­cher Art – per­sön­li­che, welt­an­schau­li­che, reli­giö­se, natio­na­le – erwach­sen ihm dar­aus nicht. Ihm gerät alles zum Mate­ri­al, um zu Geld und Ein­fluß zu gelangen.

Recht­fer­tigt die­se Nega­tiv-Figur den oft erho­be­nen Anti­se­mi­tis­mus-Vor­wurf gegen das Buch? Mit ihm steht Reich-Rani­cki bei wei­tem nicht allein. Sogar der wohl­wol­len­de Raa­be-Bio­graph Wer­ner Fuld meint, der Schrift­stel­ler sei zwar kein Anti­se­mit gewe­sen, doch er habe bereit­wil­lig »die zeit­ge­nös­si­schen anti­se­mi­ti­schen Vor­ur­tei­le bedient und beför­dert«. Syn­ony­misch für »Vor­ur­teil« wer­den auch Begrif­fe wie »Kli­schee« und »Pro­jek­ti­on« ver­wen­det. Die Nega­tiv-Figur des Moses Freu­den­stein soll dem­nach auf einem fal­schen Bewußt­sein beruhen.

Raa­be hat um die Unzu­läng­lich­keit des Hun­ger­pas­tors gewußt und im Rück­blick von »Jugend­quark« gespro­chen. Den Vor­wurf aber, das Buch sei juden­feind­lich, hat er stets zurück­ge­wie­sen. 1883 lehn­te er den Vor­schlag, für eine Antho­lo­gie eine anti­se­mi­ti­sche Novel­le bei­zu­steu­ern, ent­schie­den ab. Im Text gibt es meh­re­re kom­men­tie­ren­de Pas­sa­gen, in denen der aukt­oria­le Erzäh­ler klar­stellt, daß er den Anti­se­mi­tis­mus ablehnt und froh dar­über ist, daß die Juden­feind­schaft wenigs­tens in ihren ärgs­ten For­men der Ver­gan­gen­heit ange­hört. Der defi­ni­ti­ve Beleg dafür, daß Raa­be den mons­trö­sen Cha­rak­ter Freu­den­steins kei­nes­wegs für die Inkar­na­ti­on eines Ewig-Jüdi­schen hält, besteht dar­in, daß des­sen Vater der Schlag trifft, als er die Defor­ma­ti­on des Soh­nes durchschaut.

Inter­es­san­ter­wei­se hat Götz Aly in sei­nem neu­en Buch, War­um die Deut­schen? War­um die Juden?, dem Hun­ger­pas­tor eini­ge Absät­ze gewid­met. Alys Streit­schrift ist gleich­falls strikt manich­ä­isch kon­zi­piert: Der klu­ge, erfolg­rei­che, zukunfts­ori­en­tier­te, kul­ti­vier­te Jude über­run­det den tum­ben, rück­stän­di­gen Deut­schen, wird von die­sem benei­det, mit Res­sen­ti­ments bedacht und am Ende umge­bracht. Doch gibt es auch luzi­de Pas­sa­gen, in denen Aly das Ver­hal­ten und die Wahr­neh­mun­gen der Deut­schen aus der his­to­ri­schen Situa­ti­on erklärt. Sei­ne Über­le­gun­gen zu Raa­be (die mehr auf der Kennt­nis von Sekun­där- als Pri­mär­li­te­ra­tur beru­hen) sind ein Kom­pro­miß. Den Anti­se­mi­tis­mus-Vor­wurf gegen Raa­be (und Frey­tag) weist er zurück – mit der schwa­chen Begrün­dung, außer Moses Freu­den­stein sei­en alle jüdi­schen Figu­ren posi­tiv gezeichnet.

Inkon­se­quent geht auch Raa­be-Bio­graph Fuld vor, der zwar fest­stellt, daß Moses Freu­den­stein für den zeit­ge­nös­si­schen Leser als »ein typi­scher Jude« erschei­nen muß­te und der Figur eine his­to­risch ver­bürg­te, »typi­sche Kar­rie­re jener Zeit« (Her­vor­he­bun­gen von Hinz) zugrun­de lie­ge, den nächs­ten logi­schen Schritt aber scheut. Der bestün­de in der Erör­te­rung der »typi­schen« Ver­hal­tens­wei­sen, die Raa­be in der Figur des Freu­den­stein ver­dich­tet hat. In einem nächs­ten Schritt wäre danach zu fra­gen, inwie­weit sie einen sozia­len Typus kon­sti­tu­ie­ren und mit der jüdi­schen Her­kunft zu tun haben.

So wird behaup­tet, die Dar­stel­lung von Vater Freu­den­stein sei anti­semitisch inten­diert. Die Begrün­dung: Kör­per­hy­gie­ne und Mani­kü­re die­ses im übri­gen freund­li­chen Herrn las­sen deut­lich zu wün­schen übrig. Außer­dem hat er zu Hau­se Gold ver­steckt, wäh­rend er nach außen bemüht ist, arm zu erschei­nen. In Wahr­heit wer­den die­se Eigen­hei­ten aus der ange­deu­te­ten Ghet­to-Ver­gan­gen­heit ver­ständ­lich. Eine vage Vor­stel­lung davon ver­mit­telt Goe­the in sei­ner Schil­de­rung der Frank­fur­ter Juden­gas­se, wo ihm »die Enge, der Schmutz, das Gewim­mel« auf­fie­len. Die Heim­lich­tue­rei in Geld­din­gen erklärt sich aus der Angst vor dem Pogrom. Auf kei­nen Fall will Vater Freu­den­stein den Neid der Nach­barn erre­gen, ande­rer­seits benö­tigt er für den Fall der Fäl­le eine leicht greif­ba­re Not­re­ser­ve. Ent­schei­dend ist jeden­falls, daß Raa­be das Ver­hal­ten nicht aus einer bio­lo­gisch-ras­si­schen Dis­po­si­ti­on, son­dern aus geschicht­lich tra­dier­ten und per­sön­li­chen Erfah­run­gen ableitet.

Das gilt auch für Moses. Wenn des­sen Vor­zü­ge zum Nega­ti­ven aus­schla­gen, ist das ein­deu­tig geschicht­lich, sozi­al und psy­cho­lo­gisch begrün­det. Wer als Kind in die­sem Maße gede­mü­tigt und ver­folgt wird, müß­te schon ein Hei­li­ger sein, um sein Welt- und Men­schen­bild von die­ser Erfah­rung frei­zu­hal­ten. Der Geschla­ge­ne ist ver­schla­gen gewor­den. Er hat gelernt, sich zu ver­stel­len, sich unsicht­bar zu machen, zu heu­cheln, sich tak­tisch zu unter­wer­fen, den Geg­ner hin­ter­rücks zu Fall zu brin­gen. Das ist für ihn die ein­zi­ge Mög­lich­keit, aus der Opfer­stel­lung her­aus­zu­tre­ten. Sein Rache­be­dürf­nis und sogar sein Ver­rat an Hans sind psy­cho­lo­gisch leicht zu erklä­ren. Hans ist der Kron­zeu­ge sei­ner Demü­ti­gun­gen und ruft durch sei­ne Gegen­wart die qual­vol­len Erin­ne­run­gen wie­der her­auf. Zugleich ist er ein Mit­wis­ser, der Moses’ Geheim­nis jeder­zeit offen­ba­ren kann. Der denkt gar nicht dar­an, doch an des­sen Anstand kann Moses nicht glau­ben. Die Illoya­li­tät, Skru­pel­lo­sig­keit und die kal­te Berech­nung, mit der er sei­ne Umwelt taxiert und aus­beu­tet, bil­den die Vor­aus­set­zun­gen für sei­nen Auf­stieg. Die Figur, die Raa­be gezeich­net hat, ist also nicht als anti­se­mi­ti­sche Pro­jek­ti­on, son­dern als das Ergeb­nis sozia­ler Inter­ak­tio­nen und deren künst­le­ri­sche Wider­spie­ge­lung zu betrach­ten. Eine »typi­sche Kar­rie­re jener Zeit«.

In einem erwei­ter­ten Sinn agiert Freu­den­stein als Avant­gar­dist der kapi­ta­lis­ti­schen Moder­ne. Sein Inter­es­se – und das der Juden über­haupt –, die vor­mo­der­nen Struk­tu­ren und Regeln zu besei­ti­gen, ist abso­lut, denn dadurch erst wird der Weg frei zu ihrer voll­stän­di­gen Eman­zi­pa­ti­on. Dabei ver­liert er das Gefühl für Takt und Tem­po. Bei der Ver- und Ent­füh­rung der Fabri­kan­ten­toch­ter läßt er außer acht, daß deren Mut­ter einen Hier­ar­chie­be­griff adap­tiert hat, des­sen Stren­ge dem des Adels gleich­kommt und der es ihr ver­bie­tet, einen Auf­stei­ger unkla­rer Her­kunft als Schwie­ger­sohn zu akzep­tie­ren. Die­ses tem­po­rä­re Schei­tern aber bestä­tigt nur sein objek­ti­ves Interesse.

Für die ande­ren bedeu­te­te die kapi­ta­lis­ti­sche Ent­wick­lung – wie Marx und Engels her­vor­ho­ben – zugleich eine Ver­lust- und Scha­dens­bi­lanz. Das mach­te ihr Ver­hält­nis zu den Umwäl­zun­gen und zum »Fort­schritt« kom­pli­zier­ter und schwie­ri­ger. Sie waren ein­ge­bun­den in loka­le, regio­na­le und dynas­ti­sche Loya­li­tä­ten, in Tra­di­tio­nen und Gewohn­heits­rech­te, die neben gesell­schaft­li­chen, poli­ti­schen und sozia­len Ein­schrän­kun­gen auch einen Schutz boten vor der kal­ten Ratio­na­li­tät des Gel­des. Ihre inne­re und äuße­re Gebun­den­heit erwies sich als Wett­be­werbs­nach­teil gegen­über der unbe­grenz­ten Mobi­li­tät der Juden, die »als trei­ben­des und orga­ni­sie­ren­des Fer­ment in die­sem für den ein­zel­nen so bedroh­li­chen Pro­zeß« wirk­ten (Götz Aly). Der Niveau­un­ter­schied zwi­schen Moses und Hans ist nicht nur in ihrer unter­schied­li­chen Bega­bung begrün­det. Wäh­rend Hans, ganz tra­di­ti­ons­ver­haf­tet, sich den Din­gen mit einer »ehr­furchts­vol­len Scheu« und vol­ler Hem­mun­gen nähert, kann Moses sie gänz­lich »vor­ur­teils­frei« betrach­ten, ana­ly­sie­ren und verwerfen.

Damit ist auch die natio­na­le Fra­ge berührt. Kri­ti­ker ver­übeln Raa­be die Rede, in der Moses Freu­den­stein ver­kün­det, nur so lan­ge ein Deut­scher sein zu wol­len, wie es ihm zum Vor­teil gerei­che, und andern­falls aus der Rol­le wie­der her­aus­zu­schlüp­fen. Die Rechts­gleich­heit, die der preu­ßi­sche Staat den Juden zuge­steht, betrach­tet er unter der Maß­ga­be des per­sön­li­chen Nut­zens, ohne daß ihm dar­aus die inne­re Ver­pflich­tung zur Loya­li­tät erwächst. Statt des­we­gen dem Schrift­stel­ler anti­se­mi­ti­sche Moti­ve zu unter­stel­len, wäre erst ein­mal zu prü­fen, wel­che Befürch­tun­gen Raabes den Hin­ter­grund für die Sua­da abga­ben, auf wel­che rea­len Erfah­run­gen sie sich stütz­ten und wie­weit sie im his­to­ri­schen Kon­text erklär­bar und plau­si­bel sind. In die­sem Punkt läßt die aktu­el­le Geschichts­wis­sen­schaft uns im Stich.

Hilfs­wei­se las­sen sich vom Roman gedank­li­che Ver­bin­dungs­li­ni­en zum Auf­satz »Unse­re Aus­sich­ten« zie­hen, mit dem der His­to­ri­ker Hein­rich von Treit­sch­ke 1879 unge­wollt den Anti­se­mi­tis­mus-Streit aus­lös­te. Die Auf­for­de­rung zur Assi­mi­la­ti­on, die Treit­sch­ke an die Juden rich­te­te: »… sie sol­len Deut­sche wer­den, sich schlicht und recht als Deut­sche füh­len – unbe­scha­det ihres Glau­bens und ihrer alten hei­li­gen Erin­ne­rung, die uns allen ehr­wür­dig sind«, liest sich wie die unmit­tel­ba­re Reak­ti­on auf die Anspra­che Freu­den­steins. Wie Raa­be grenz­te auch Treit­sch­ke sich ab vom Anti­se­mi­tis­mus und hielt eine Ein­schrän­kung der Juden­eman­zi­pa­ti­on für mora­lisch und poli­tisch ver­häng­nis­voll. Die Situa­ti­on in Deutsch­land war in sei­nen Augen den­noch eine ande­re als in Eng­land und Frank­reich. Der deut­sche Natio­nal­staat war jung, sei­ne geis­tig-mora­li­schen Grund­la­gen, das Natio­nal­ge­fühl waren unsi­cher und unge­fes­tigt, wes­halb Treit­sch­ke die schnei­den­de Pres­se­kri­tik, für die er Jour­na­lis­ten à la Freu­den­stein in der Ver­ant­wor­tung sah, für staats­po­li­tisch destruk­tiv hielt. Im sel­ben Atem­zug kri­ti­sier­te er, daß es anti­jü­di­sche Restrik­tio­nen sei­en, die gebil­de­te Juden ver­stärkt auf den Jour­na­lis­ten­be­ruf verwiesen.

Zwei wei­te­re Umstän­de erschwer­ten die Assi­mi­la­ti­on der Juden in Deutsch­land. Ihre, ver­gli­chen mit Eng­land und Frank­reich, viel grö­ße­re Anzahl und die Her­kunft immer neu­er Zuwan­de­rer »aus dem pol­ni­schen Juden­stam­me …, dem die Nar­ben viel­hun­dert­jäh­ri­ger christ­li­cher Tyran­nei sehr tief ein­ge­prägt sind«. Treit­sch­ke umriß genau die psy­chi­sche Kon­sti­tu­ti­on, wel­che die Figur des Moses Freu­den­stein verkörpert.

Wer Raabes Werk für obso­let erklärt, will des­sen anhal­ten­de Bri­sanz unter Ver­schluß hal­ten. Die Fra­ge danach, wie­viel his­to­ri­sche Wahr­heit in sei­ner Dich­tung steckt, wird als anstö­ßig stig­ma­ti­siert. Die Befrei­ung aus der Blo­cka­de heißt, sich den frei­en Zugang zu einem gro­ßen lite­ra­ri­schen Werk wie zur Real­ge­schich­te zu bahnen.

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