Er vertritt die Ansicht, daß die hehren Ideale der Aufklärung zum „Selbstmord eines Systems“ führen, sobald es keine legitimen Gegenkräfte mehr zu ihrer Metaideologie gibt.
Liberalismus und Sozialismus würden diese Metaideologie bilden. Beide würden ein utopisches Ideal anstreben und ein Monopol absoluter Wahrheit über alle Lebensbereiche erheben. Trotz aller Kämpfe zwischen diesen Ideologien eine sie das Ziel, rechtes, realistisches Denken als böse und krank zu diskreditieren.
Kleine-Hartlage unternimmt nun das spannende Vorhaben, eine Ideologiekritik dieses Komplotts durchzuführen. Dies gipfelt in der These, die liberale Moderne bringe einen Totalitarismus hervor, der an der Abschaffung aller Selbstverständlichkeiten arbeitet. Es ist dabei ein echter Genuß, Kleine-Hartlages Argumentation zu folgen. Jeder Gedanke sitzt, und jedes neue Beispiel löst zunächst einmal intuitive Zustimmung für die aufgebaute Erklärung aus. Gender Mainstreaming, wissenschaftlicher Konstruktivismus, Kampf gegen rechts, Entmachtung der Nationalstaaten – viele Themen gibt es, deren Hauptproblem der Autor mit seiner Theorie plausibel macht.
Es ist verführerisch, an dieser Stelle einen Schlußstrich unter das Thema der liberalen Selbstzerstörung zu ziehen, weil Kleine-Hartlage wenig Hoffnung auf eine Umkehrung dieses Prozesses vermittelt. Er schreibt, der Widerstand dagegen könne nur aus der Gesellschaft selbst erwachsen. Wenn dem so wäre, dürfte jedoch nichts geschehen, weil die liberale Moderne den Bürger in Watte einpackt und ihm bei schlechter Laune ein kostenloses Wellnessprogramm verschreibt.
Doch vor allem Trübsal blasen einen Schritt zurück: Stimmt die Hauptthese von Kleine-Hartlage überhaupt oder hat er bei aller inneren Stimmigkeit seiner Argumentation wichtige Faktoren übersehen? Es ist zunächst völlig klar, daß eine Theorie nicht alles einkalkulieren kann, sondern nur innerhalb ihres jeweiligen Fachgebiets Antworten sucht. Jede Ideologiekritik – ob von links, rechts oder aus einer vermeintlichen Neutralität heraus – ist dadurch von Natur aus gefährdet, ideologische Gründe der Gesellschaftsentwicklung bzw. ‑deformation überzubewerten und ökonomische, soziale und historische Besonderheiten zu übersehen.
Es bringt eine Menge, die Thesen aus Die liberale Gesellschaft und ihr Ende unter diesem Gesichtspunkt gegenzulesen. Welchen Einfluß auf unsere Gesellschaft hatte etwa das Entstehen der Massengesellschaft, der modernen Staatsbürokratie, der Industrialisierung und Kommunikationsrevolution? Und weitergehend, sind diese Einflüsse vielleicht weit folgenreicher für den Niedergang der Institution der Familie, der gesellschaftlichen Hierarchien, des Nationalstaates und all der notwendigen Selbstverständlichkeiten, die Kleine-Hartlage völlig zu Recht anspricht?
In ihrem Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft geht Hannah Arendt diesen Fragen nach. Dieser Klassiker ist nicht allein aufgrund des Vergleichs von Nationalsozialismus und Bolschewismus noch heute so bedeutend. Viel wichtiger aus aktueller Perspektive sind jene „Elemente und Ursprünge“ des Totalitarismus, weil sie allesamt noch heute die Bedingungen von Politik definieren.
Der Ursprung des Totalitarismus liege im Zerfall der hierarchischen Gesellschaft und der daraus folgenden Anonymisierung im 19. Jahrhundert, so Arendt. In einer auf Gleichheit beruhenden Massengesellschaft „verlieren die demokratischen Institutionen wie die demokratischen Freiheiten ihren Sinn“. Arendt geht davon aus, daß totalitäre Bewegungen „bis heute die einzige Organisationsform“ seien, die den Massen adäquat scheint. Alle politischen Organisationen, die erfolgreich sein wollen, müssen sich danach richten. Ihre „Ursprungsideologie“ entartet jedoch zwangsläufig, wenn die Praktiker das Ruder übernehmen und aus durchaus nachvollziehbaren Ideen sich genau das herauspicken, was massentauglich ist.
Hannah Arendt hat mehrmals explizit darauf hingewiesen, daß jede (halbwegs erfolgreiche) Partei von totalitären Keimen infiziert ist und daß dies selbstverständlich auch für die Demokratie gelte: „Totalitäre Elemente wiederum enthalten alle Ideologien, wenn sie auch nur von den totalitären Bewegungen voll entwickelt werden, wodurch dann der Schein entsteht, als seien nur Rassismus und Kommunismus totalitär.“
Begründet wird dieser Umstand mit der Gleichgültigkeit der Massen gegenüber der „Realität der sichtbaren Welt“. Statt sich mit dieser auseinanderzusetzen, wollen sie an eine ideologisch-fiktive Welt glauben. Wer halbwegs gute Wahlergebnisse erzielen möchte, kommt deshalb am Aufbau einer (langfristig schädlichen) Utopie gar nicht vorbei. Totalitäre Führer würden dies beherzigen, indem sie sich aus allen bestehenden Ideologien die Elemente heraussuchen, „die sich für die Etablierung einer den Tatsachen entgegengesetzten, ganz und gar fiktiven Welt eignen“. Die maßgebliche Propaganda dieser totalitären Bewegungen besteht nun darin, einfach das in die Tat umzusetzen, was sie vorher gegen jede Vernunft behauptet haben.
Bürokratien, die genauso moralisch indifferent wie die Massen sind, setzen diese fatale Politik in die Wirklichkeit um. Mit ihrer berühmten These von der „Banalität des Bösen“ behauptet Arendt nun im Gegensatz zu Kleine-Hartlage, daß der Auslöser für all das gerade nicht auf irgendeine Idee oder ein bestimmtes Paradigma zurückzuführen ist: „Das größte Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten.“
Heute sind wir so weit, daß die Bürokratien eine „Tyrannis ohne Tyrannen“ (Arendt in Macht und Gewalt), also eine Niemandsherrschaft mit beeindruckender Disziplinarmacht, ausgebildet haben. Diese Disziplinarmacht zwingt uns, „die Wahrheit zu bekennen oder zu finden“, wie es Michel Foucault so schön ausdruckt. Weiter beschreibt er diesen Mechanismus wie folgt: „Die Macht hört nicht auf, uns zu fragen, hört nicht auf, zu forschen, zu registrieren, sie institutionalisiert und professionalisiert die Suche nach der Wahrheit und belohnt sie. Im Grunde müssen wir die Wahrheit produzieren, wie wir Reichtümer produzieren müssen, ja wir müssen sogar die Wahrheit produzieren, um überhaupt Reichtümer produzieren zu können.“
Es kommt in modernen Gesellschaften ein technisches Instrumentarium zur Anwendung, das auf ideologische Begründungen verzichtet, weil es in dem von Arendt beschriebenen Sinne wurzellos ist und die Frage nach der Wahrheit bereits automatisiert hat. Das sanft Totalitäre an der Gegenwart ist gerade die Alternativlosigkeit dieser „Gouvernementalität“ (Foucault), die nur mehr die Sinnlosigkeit aller Ideologien unter Beweis stellt oder sie entstellt: Der herrschende Sozialismus ist nicht mehr sozial und der herrschende Liberalismus (wie die FDP eindrucksvoll beweist) nicht mehr liberal. Freilich besteht somit auch die Gefahr, daß der Konservatismus, sobald er an die Macht kommt, nichts mehr mit dem zu tun hat, was wir uns darunter vorstellen. Heute sind die Pragmatiker am Zuge, die mit ihren Sicherheitsapparaten die Normalität (also Harmlosigkeit) der Bevölkerung kontrollieren wollen. Zu echten und irgendwann wirksam werdenden Diskursen über die Zukunft unserer Gesellschaft ist gegenwärtig niemand fähig.
Was bedeutet dies für die Ausgangsfrage, also die Überprüfung von Kleine-Hartlages These, das aufklärerische Paradigma sei die Ursache eines modernen, gleichmacherischen und utopischen Totalitarismus? Es ist genau umgedreht: Die totalitäre Moderne läßt alle Ideologien entarten, sobald sich ihre Anhänger mit Machtgewinnung auch nur ernsthaft beschäftigen. Die Ideologien werden in der totalitären Moderne zu austauschbaren Bausteinen einer Herrschaft, in der Diskurse keine Rolle mehr spielen. Statt dessen üben die Apparate die eigentliche Macht aus und stützen sich auf die Gleichgültigkeit der Massen und Funktionstüchtigkeit ihrer Bürokratie und Überwachungsinstrumente.
ingres
Abgesehen von der Kriitik an der zentralen These von MKH ist dies hier eine entscheidende Erkenntnis:
„Das größte Böse ist nicht radikal, es hat keine Wurzeln, und weil es keine Wurzeln hat, hat es keine Grenzen, kann sich ins unvorstellbar Extreme entwickeln und über die ganze Welt ausbreiten.“
Prinzipiell habe ich das immer so wahrgenommen, obwohl es auf den ersten Blick nichts mit dem Bösen zu tun hat. Als Kind und Jugendlicher habe ich regstriert, dass meine Freunde In Ordnung waren, a b e r sie waren unzuverlässig, gedankenlos und alles mögliche andere Negative, so positiv sie sonst auch waren. Ja und da ist die Wurzel der Wurzellosigkeit des Bösen. So jedenfalls hab ich das immer gesehen.