Abgesehen von den ohnehin verklärten skandinavischen Staaten und deren Kapitalismus mit sozialistischem Antlitz, dürfte es kaum ein Land mit so glockenheller Gerechtigkeitsrhetorik geben wie das unsere.
Keine politische Selbstdarstellung kommt mehr ohne das Ventilieren von Bekenntnissen zu Toleranz, Integration, Inklusion, Bildungsgerechtigkeit, Transparenz aus. Mittlerweile etablieren sich diese Worthülsen und Stereotype so hartnäckig wie früher ideologische Floskeln, die in ähnlicher Weise „Grundvereinbarungen“ beschworen, welche kaum jemand je vereinbart hatte.
Offenbar existiert von Partei- bis Kirchentagen ein Konsens, der sich sicher darin ist, das Land und die Welt mit Beschlußlagen verbessern zu können. Vielleicht ist dies der Tradition Hegelscher Rechtsphilosophie geschuldet. Die politische Klasse hat damit begonnen, sich das an der Historie geläuterte Deutschland als eine Ganztagsschule vorzustellen, in der – bei richtiger Anleitung – endlich alle gleich sind, kurioserweise gerade in deren betonter Verschiedenheit, einerlei, mit welchen Voraussetzungen sie eintreten.
Nein, schon falsch! Es sollen gar keine unterschiedlichen Voraussetzungen gelten. Schon deswegen steht jede Forderung, die sich über die Garantie von Rechten hinaus noch auf Pflichten zu verweisen wagt – vor allem auf jene, selbst Initiative zu zeigen – schon im üblen Verdacht einer allzu drastischen Diskriminierung. Diskriminieren heißt unterscheiden. Nur das nicht! Von daher, so der intendierte Vorwurf, ist’s nicht mehr weit zur Selektion! Gleiches Recht für alle, dieser urliberale Grundsatz, genügt nicht mehr. Vielmehr soll es lust- und freudvoll zugehen und bitte alles sehr einvernehmlich geschehen. Jeder wird dort abgeholt, wo er steht, gerade wenn er null Bock darauf hat. Keine Bedingungen stellen, sondern bitte alles dientleistend zureichen und dann als Verdienst des Betreuten ausweisen. – Positiv denken! Bitte keine Negativdiskussionen! Das WIR entscheidet! Defizite? Darf es nicht geben! Also Lernbehinderte raus aus der Sonderbetreuung, denn das klingt beinahe wie Sonderbehandlung . Und hinein ins Gymnasium! Selbstverständlich! Es gibt einfühlsame Förderangebote, und die egoistischen Hochleister mögen doch bitte mal zurückstecken!
Mag es sein, daß hier gesellschaftspsychologisch ein geradezu freudianisch anmutender ambivalenter Vorgang des Verschiebens erfolgt? Pumpt man mittels Sprechblasen um so mehr Wärme ins System, weil es im Wirtschaftlichen und Sozialen kälter wird, ja die Republik in ihrer ökonomischen Versachlichung wie von Kühlrippen durchzogen wirkt? Gerade weil immer weniger zur Reproduktion des bloßen Funktionierens gebraucht werden, sollen alle wenigstens als sehr, sehr wichtig gelten, selbst wenn ihnen nicht mehr bleibt, als sich von Junk-Food und Junk-TV zu nähren? – Ist dort, wo Exklusion zunimmt, Inklusion das Zauberwort für unbewußt ersehnte Kompensation?
Ganz ähnlich wie die als pädagogisches Heil beschworene Ganztagsschule die Welt da draußen als rüde und gefährlich empfindet, so daß man ihr die Kinder bitte nicht überlassen darf und lieber intern geschützt gewaltfreie Kommunikation „coacht“, möchte die rein überbaulich diskutierende Gesellschaft von einer sich forcierenden Ungerechtigkeit an der Basis nichts wissen – oder diese einfach umdeklarieren bzw. mit Dekreten behandeln und an Vorschriften und Verheißungsformeln genesen lassen. Als verhindere etwa ein garantierte Mindestlohn alle bisherige Ungerechtigkeit und besiegele den lang ersehnten Großen Frieden.
Dissens- und Konfrontationsvermeidung. Außer gegen “Rechts”. Philosophiert man das, kommt man auf ein Argument Josef Simons: “Gerade im Konsens geht das Bewußtsein verloren, daß Wahrheit überhaupt, innerhalb und außerhalb der Wissenschaft, kein definitiver Besitz sein kann und nicht einmal ein Objekt der Annäherung, sondern, im Gegenteil, in der Destruktion solch eines Bewußtseins besteht.”
Kann sich eine Gesellschaft in dieser moralduseligen Grundschul- bzw. Altersheimglückseligkeit überhaupt noch als vital oder intellektuell beweglich erweisen? Sie vermeidet polemische Diskurse und Auseinandersetzungen, und sie kaschiert Probleme mit dem Ergebnis, daß sie sich ideell mit Illusionen und Lebenslügen vergiftet, die schon rein begrifflich sakrosankt sind, insofern bestimmte Worte und deren Konnotation gleich für das Wahre, Gute und Schöne stehen.
„Europa“ ist so ein Begriff, mehr noch „Mehr Europa!“ Ferner selbstverständlich „Bildung“, obwohl das gegenwärtig etwas ganz anderes meint als noch vor wenigen Jahrzehnten. Solche Worte sind mittlerweile aufgeladen wie dreist beworbene Markenprodukte, die etwas suggerieren und versprechen, aber nichts halten können. Indiskutabel toll! Hilft immer! Gut für jeden! Der schlimme Rest mag Wirtschaftsprofessoren überlassen bleiben, die das Volk nicht liest, oder eben den Radikalen, die am Rande des eingehegten Paradiesgärtleins ihr böses und populistisches Unwesen treiben, bis endlich die Erziehung der Behörden für politische Bildung greift und sie resozialisiert werden können.
Als ich als Bewohner des Beitrittsgebietes in den goldenen, mithin demokratischen Westen kam, fühlte ich mich dort einer so hochgradig süßen Freundlichkeit ausgesetzt, daß die beinahe bitter schmeckte. Alles Widrigen und Widerliche wurde mittels Euphemismen entschärft. Durch diese kritisch zum Eigentlichen vorzudringen – ob nun gegenüber einem Autohändler oder Politiker – fällt mir immer noch schwer. Am schnellsten gelingt das von den Polstellen aus, also bspw. als Kolumnist dieses Blattes. Mit so einem wird gleich Klartext gesprochen. Polemisch, betroffen, leidenschaftlich.
Bildnachweis: Thomas Kohler
Meyer
"Offenbar existiert von Partei- bis Kirchentagen ein Konsens, der sich sicher darin ist, das Land und die Welt mit Beschlußlagen verbessern zu können. " - Das hat Bismarck bezüglich des preußischen Landtags auch bereits festgestellt. Vor 150 Jahren, deswegen: "Blut und Eisen". Das trifft auch heute.