Nein, nein, keine Angst, das Wort Grenztruppen bleibt hier diesmal ohne Belang, selbst mit Blick auf die Zäune, welche bei El Paso oder in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla mittlerweile errichtet sind. Die DDR-Sperranlagen wiesen nach innen. Ein entscheidender Unterschied, der das Ende der anderen Republik beinahe hinreichend erklärt. Mal grenzt Wohlstand den Mangel ab, mal geschieht es, ideologisch erhitzt, umgekehrt. Und der Kalten Krieg mit der Gravitation seiner ehemaligen Zentralgestirne wird heute kaum mehr in Analysen der deutsch-deutschen Frage einbezogen, da gelten soll: Auf der einen Seite die Demokraten, auf der anderen die politisch Defekten. – Von Bedeutung sind hier einzig die Bilder, wie ganze Familien in ihren schicksten Stonewashed-Jeansklamotten 1989 die Westbotschaften stürmten, vermeintlich auf der Suche nach der „Freiheit“. Mit Mann und Maus, Kind und Kegel über allerlei fremde Zäune hinweg. Flüchtlinge sehen – notgedrungen – doch immer irgendwie würdelos aus.
Ich denke an den 30. September 1989, an Genscher auf dem Balkon des Prager Palais Lobkowitz, der bundesdeutschen Botschaft in Prag. Er erschien in einer Scheinwerfergloriole und galt denen da unten als Erlöser: „Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise (Gejohle und Jubel) in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist.“ – War das wirklich ein ganz, ganz anderes Ereignis?
Bei allem, was in diese Erinnerungen hineinpoetisiert wird, meinetwegen mit gerechtfertigter Romantik und nachvollziehbarer Wehmut von Schicksalsbetroffenen, sehe ich, reduzierend und pietätlos verkürzt, kaum einen entscheidenden Unterschied im Vorgang. Sicher, es ging um Deutsche, und der dann einsetzende letzte Akt im Untergang der DDR bescherte im Καιρός die deutsche Einheit als Ergebnis des Endes des Kalten Krieges, ebenso wie die Spaltung Ereignis seines Beginns war. Nicht mehr und nicht weniger. Man darf das neben aller Festtagsrhetorik mit Gewinn sachlich anschauen. – In banausiger Abwandlung eines Kant-Titels: Anthropologie – mal ausschließlich in pragmatischer Hinsicht.
Wichtiger: Die Poetiken gleichen sich. So, wie damals die vermeintlich am westlichen Freiheitsbegriff geläuterten DDR-Bürger angeblich auf einer Pilgerreise Richtung Demokratie aufgebrochen wären, befinden sich, wird suggeriert, die Afrikaner in guter Absicht unterwegs und nehmen, gelenkt von kriminellen Schleusern, Risiken auf sich, die Europa bitte schleunigst reduzieren sollte: Please open this gate and tear down this wall! – ?
Gerade angesichts des Leides der armen Menschen und der Ertrinkenden: Mich stört die wohlfeile Argumentation “Europas” und der ganzen alten “ersten Welt”. Mich stört der theatralische Ruf der satten Politiker: Schande! – Wollen Propagandisten dieses Ansinnens ernstgenommen werden, so bleibt ihnen nur eine Konsequenz: Sie müßten sichere Fährverbindungen einrichten, auf denen jeder Afrikaner, der möchte, trockenen Fußes nach Europa gelangt. Vollmundige Wünsche sollten dabei um naheliegende Konsequenzen wissen: Es bedürfte für jene Wunscherfüller eines europäischen Genschers am afrikanischen Strand, der die Arme ausbreitet und offeriert: Bitte tretet alle ein! Hier sind Eure neuen Pässe, das Ticket und selbstverständlich das Begrüßungsgeld, damit ihr gemäß unserer Wachstumsvorstellungen zügig zu konsumieren beginnt. – Man überlege, welcher Kampf, ja Krieg damit begänne! Er hat ja längst angefangen …
Wer die Öffnung für das Elend Afrikas so einfach, so märchenhaft nicht für realisierbar hält, wie es die Linken und das alternative Neubürgertum fordern, der muß angestrengt über die Geschichte des postkolonialen schwarzen Kontinents und über die freie kapitalistische Weltordnung nachdenken. Vielleicht gar darüber, mit welch mindestens ambivalenten Ergebnissen die “Befreiung der Völker Afrikas von der kolonialen Herrschaft” endete. Wenigstens wäre zu fragen, welchen Anteil die im Norden den geheiligten Wohlstand sichernden Industrien – global arbeitsteilig – am afrikanischen Elend haben und was der Markt, der angeblich alles regelt, dort anrichtet, u. a. mit Blick auf regionale Landwirtschaft. Die Politik, die jetzt klagt, schuf jahrzehntelang mit an den Voraussetzungen für die humanitäre Katastrophe.
Die immer wieder beschworene Würde des Menschen – wo findet man sie, wenn sie nicht als Ware zu klassifizieren ist? Schopenhauer 1840 dazu: “Mir scheint der Begriff der Würde auf ein am Willen so sündliches, am Geist so beschränktes, am Körper so verletzbares und hinfälliges Wesen, wie der Mensch ist, nur ironisch anwendbar zu sein. (…) Bei jedem Menschen, mit dem man in Berührung kommt, unternehme man nicht eine objektive Abschätzung desselben nach Wert und Würde, ziehe also nicht die Schlechtigkeit seines Willens, noch die Beschränktheit seines Verstandes und die Verkehrtheit seiner Begriffe in Betrachtung, da ersteres leicht Haß, letzteres Verachtung gegen ihn erwecken könnte: sondern man fasse allein seine Leiden, seine Not, seine Angst, seine Schmerzen ins Auge: – da wird man sich stets mit ihm verwandt fühlen …”
Hilft das sachlich weiter? Gar nicht. Weder politisch noch moralisch. Schopenhauer hat recht, auf seine Weise, so wie der Papst auf eine andere. Gerettet ist damit noch keiner. – Und was sucht der Afrikaner? Parlamentarismus, Demokratie, Presse- und Meinungsfreiheit? Nein, er ist bereit, seine Arbeitskraft globalisiert zu verkaufen, um dann einkaufen zu gehen und gesichert zu leben. Er wünscht das, was der besitzstandswahrende Europäer auch will. Und daraus rührt ein Interessenkonflikt, der wirtschaftlich zu beschreiben wäre oder sozial, ganz zu schweigen vom kulturellen Crash, kaum aber mit den Herleitungen neuzeitlicher europäischer Rechts- und Staatsphilosophie und der daraus generierten Politrhetorik.
gerdb
Sehr gute Analogie Herr Bosselmann!
Und auch die Rekolonialisierung ging ja gut über die Bühne.
https://www.welt.de/kultur/article118718883/Warum-die-Weissen-nach-Afrika-zurueckkommen-sollen.html