In diesem Sommer, der ein staubtrockener, heißer Sommer war, beendete ich die Lektüre eines dicken Buches: Die Wiederkehr der Wölfe von Hans Bergel umfaßt siebenhundert Seiten und ist der beste Roman, den ich über das geistige Dilemma gebildeter, nationalbewußter Kreise während des Dritten Reichs kenne.
Er beschreibt die Entwicklung eines jungen Mannes, der die (Selbst-)Zerstörung Europas vom Sommer 1940 bis zum Kriegsende 1945 als Angehöriger der deutschen Volksgruppe in Rumänien erlebt – der Schriftsteller Hans Bergel (Jahrgang 1925) ist selbst ein Siebenbürger Sachse, stammt aus Rosenau bei Kronstadt im Karpatenbogen und lebt erst seit 1968 in Deutschland.
Bergel war einer jener fünf Schriftsteller, die im großen Schauprozeß von 1959 in Kronstadt zu langjährigen Haftstrafen nebst Zwangsarbeit verurteilt wurden. Er hat überlebt, hat den Charakter und die politische Bedeutung des Prozesses in Zusammenarbeit mit Kollegen und Literaturwissenschaftlern aufgearbeitet und vor allem Erzählungen und Romane über diese Zeit veröffentlicht (rezensiert in Sezession 49/August 2012 und 53/April 2013).
Auf Bergel gestoßen bin ich über einen Umweg: Der ebenfalls aus Siebenbürgen stammende und noch immer dort lebende Schriftsteller Eginald Schlattner hat in den vergangenen fünfzehn Jahren drei Romane veröffentlicht, von denen der berühmteste (Rote Handschuhe, 2000) den Kronstädter Schriftsteller-Prozeß aus der Sicht des jungen, unsicheren Kronzeugen schildert. Dieser Kronzeuge war Schlattner selbst, ich besuchte ihn vor zwei Jahren und schrieb danach ein Portrait über diesen ebenso eitlen wie sprachgewandten, großen Erzähler (Sezession 47/April 2012). Schlattner brach danach den Kontakt ab, weil ich seiner Version nicht gefolgt war, sondern seinen im Roman kaum verhüllten Spott über die verurteilten Schriftsteller mehrfach und sehr kritisch angesprochen hatte.
Es war dann ein Sezession-Leser, der Hans Bergel nach einer Lesung in Rastatt dieses Schlattner-Portrait sowie einen Text über eine Wanderung in die Karpaten gab (Sezession 16/Februar 2007): Hans Bergel reagierte prompt, seither stehen wir im Austausch. In seiner Offenheit überrascht hat mich der ausführliche Brief vom 2. Juli 2012, in dem Bergel von seiner rasch begrabenen Hoffnung auf eine neue Heimat nach seiner Ausreise aus Rumänien im Jahr 1968 schreibt: Jemand mit seinen Erfahrungen und seinem Charakter konnte in der BRD nicht heimisch werden, und die Wende hat an dieser völligen Desillusionierung nichts geändert.
Insofern ist der im Folgenden veröffentlichte Auszug aus dem Briefwechsel repräsentativ für die tragische Heimatlosigkeit gerade jener, die von ihrem Volk mehr halten als die Zyniker, die es derzeit in den Ruin treiben und dennoch immer wieder gewählt werden.
Gröbenzell, 19.4.2012
Sehr geehrter Herr Kubitschek,
ein junger Mann, dessen Namen ich mir leider nicht merkte, gab mir nach meiner Literaturlesung am 13. d. M. in Rastatt das Heft 47/April der Zeitschrift Sezession und die Fotokopie Ihres Textes »Negoi – Eine Wanderung«. Beides las ich mit Vergnügen. Ihr exzellenter »Negoi«-Rückblick weckte Erinnerungen an Wege, die ich oft – und zum Teil unter denkwürdigen Umständen – ging, die Lektüre Ihrer Schilderung der Begegnungen mit Mihai beschwor die Bilder meiner karpatischen Hirtenbegegnungen. Es drängt mich zu einigen – bestätigenden – Zeilen.
Als ich im Spätherbst 1954 als politischer Häftling in einem Transitgefängnis des kommunistischen Rumänien aus einer Zelle in eine andere verlegt wurde, fiel mir bei meinen Barfußwanderungen durch den überbelegten Raum ein nahe der Eisentür hockender Mann auf, der mich aufmerksam beobachtete. Den Rücken an die Wand gelehnt, fixierte er mich jedesmal, wenn ich an ihm vorbeiging, mit lebhaftem, ausdrucksvollem Blick. Am dritten Tag bat er mich mit einer Handbewegung, mich neben ihn zu hocken. Ich bekam ungefähr das Folgende zu hören: »Ich heiße Stefanescu, Professor Doktor Stefanescu. Ich sitze seit neun Jahren hinter Gittern und habe noch drei abzusitzen – die Strafe dafür, daß ich vor dem Krieg stellvertretender Botschafter Rumäniens in Paris war … Ich schließe aus Ihrem Namen, daß Sie Deutscher sind. Vielleicht aus Siebenbürgen? … Aha, ich tippte also richtig. Ich gestatte mir, Ihnen einen Rat zu geben: Wenn Sie weiterhin wie ein Löwe im Käfig von morgens bis abends so auf und ab gehen, werden Sie die Jahre im Gefängnis nicht überleben. Das ist, Sie erlauben, typisch deutsch, typisch germanisch: Ungeduldig, dynamisch, jeden Augenblick bereit, dem Gegner an die Gurgel zu fahren. Nein, nein, so überleben Sie das hier nicht! Die geschichtliche Erfahrung meines Volkes lehrte mich etwas anderes: Geduldig und geduckt dahocken, den Kopf einziehen, die Stürme darüber hinweg brausen lassen – und sich erst wieder aufrichten, wenn sie vorbeizogen. So überlebten wir Rumänen viele Jahrhunderte harter Fremdherrschaft, so werden wir auch die Kommunisten überleben. Und das Überleben ist doch das Endziel aller historischen Existenz. Oder? Mit Ihren ruhelosen Wanderungen aber vergeuden Sie Kraft, Sie reiben sich auf, Sie tun das, was unsere Peiniger wollen …«
Das scheint mir, anders formuliert, eben jene Weisheit des Hirten »Mihai« zu sein, der Ihnen die Ballade »Miorita« erläuterte (von der es übrigens ausgezeichnete deutsche Fassungen gibt).
Ich antwortete dem Professor (der die zwölf Kerkerjahre hinter sich brachte und den ich, da wir gute Freunde geworden waren, 1991 in Bukarest besuchte): »Ich sitze zum zweiten Mal im Knast, Herr Professor, wahrscheinlich komme ich auch zum dritten Mal dran. Ich bewundere nicht erst seit gestern die Art des historischen Überdauerns der Rumänen, deren Geschichte ich kenne. Doch ist das nicht meine, wie Sie sagen, ›germanische‹ Art, mit der Geschichte umzugehen. Ich kann nicht anders. Aber ich weiß, daß wir beide, jeder auf seine Art, auch die Kommunistenherrschaft überleben werden.« Der Professor bot mir das Du an. Er starb 1995 in Bukarest als Fünfundneunzigjähriger.
Beigelegt habe ich Ihnen meinen Aufsatz »Literatur und Widerstand. Zur Entstehungsgeschichte der Erzählung ›Fürst und Lautenschläger‹.« Ich wünsche Ihnen Vergnügen und Gewinn bei der Lektüre
mit freundlichem Gruß,
Hans Bergel
Schnellroda, 20.IV.2012
Sehr geehrter Herr Bergel,
Ich danke Ihnen sehr für Ihre Zeilen und die Beilage, die ich heute während einer warmen, sonnigen Stunde im Garten las. Ich schlug dann noch einiges in der Biographie über Sie nach (»Der Mann ohne Vaterland«) und stellte fest, daß es der 20. April war, an dem Sie 1959 verhaftet worden waren. Nun lese ich also auf den Tag 53 Jahre später Ihren Brief und Ihren Text.
Ich bin ja nun erst am Anfang meiner Lektüre Ihrer Werke, konnte Fürst und Lautenschläger im Bücherschrank eines Freundes in Hermannstadt entdecken und lesen (vergangenen Sommer), ebenso den ersten Band Ihrer auf drei Teile angelegten, sicherlich stark autobiographischen Geschichte der Familie Hennerth; es ist so, daß ich vielleicht zwei Dutzend Bücher in den bald 30 Jahren ernsthafter Lektüre zu einem unverzichtbaren Kanon zusammengestellt habe (darin etwa Werfels Musa Dagh, Jüngers Abenteuerliches Herz, Kleppers Vater, Bergengruens Großtyrann, Langes Leuchtkugeln). Dieser Kanon hat magnetische Wirkung, immer wieder zieht es mich zu einem der längst aus- und zerlesenen Bücher, in dem ich dann nach einem bestimmten Kapitel suchen muß, um es mir erneut einzuverleiben. In diesen Kanon habe ich nun von Ihnen den Tanz in Ketten aufgenommen. Es sind die Ereignisse an der Kolar-Schlucht und die Schilderungen aus »Fort Nr. 13 Jilava«, die mich erschütterten und mir greifbar wurden als Verdichtungen menschlicher Urszenen.
Allein dafür, für dieses literarische Geschenk, habe ich zu danken, und ich werde mir – wohl auch verknüpft mit weiteren Fahrten nach Siebenbürgen – Ihr Werk nach und nach erschließen: nicht als Germanist, sondern als Leser, denn die Wissenschaft hat mir mehr verstellt als geöffnet.
Ich komme darüber zu einem wesentlichen Punkt, der meine Arbeit und mein Leben betrifft: Ihre »Verdichtungen« sind nicht fläzend und lustvoll-barock (wie etwa die Schlattners), sondern so ernst und existentiell, daß sie auf jemanden wie mich (der das Leben als ernst und in seiner derzeitigen Bedrohtheit existentiell wahrnimmt und zu führen versucht) eine unschätzbar wichtige Wirkung entfalten. Es ist kaum möglich, diese Gesinnungs- und Stimmungslage in einem Brief auf den Punkt zu bringen, daher nur soviel: Bei allem Grauen, aller Härte, allem persönlichen Leid, das Sie für Ihre Unbeugsamkeit und Ihren Freiheitsdrang zu erleiden hatten, hatten Sie dennoch einen sichtbaren Gegner vor sich, einen unzweifelhaft bekämpfenswerten, markierbaren Gegner.
Vielleicht kommt Ihnen mein Wort vom »heute leben müssen« läppisch vor, relativ angesichts dessen, was Sie erdulden mußten: Aber ich sehe die menschliche, männliche, widerständige, mithin auch deutsche Substanz durch die Verrottungstendenzen unserer Zeit ohne sichtbaren Gegner stark bedroht, stärker sogar als durch die auf physische Vernichtung angelegte Zeit, die Sie durchlitten. Sie schreiben ja zurecht, daß Sie innerlich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr erschütterbar, korrumpierbar waren, und ich sehe das absolut genauso: daß die Klarheit der eigenen Lage eine gestaltformende, eine persönlichkeitsmeißelnde Kraft haben kann.
Ich hingegen trete gegen »unsichtbare Gegner« an, gegen ein schleichendes Gift, und manchmal möchte ich meinen Kindern doch einen Feind zeigen können, einen Zerstörer, einen zu Unrecht nach oben gekommenen, nach oben gespülten, ebenso unfähigen wie gefährlichen Mann, dem die Stirn zu bieten aller Ehren wert wäre.
Ich weiß nicht, ob Sie verstehen können, was ich meine, aber Sie begreifen sicherlich, warum mich beispielsweise der von Ihnen geschilderte Partisanen-Kampf gegen die sowjetischen Besatzer so sehr interessiert und fasziniert. Es soll seit etwa einem Jahr einen Spielfilm darüber geben, ich muß ihn irgendwo auftreiben. Ich hätte auch gern einen sichtbaren, einen eindeutigen Gegner.
Es dankt und grüßt
Götz Kubitschek
Gröbenzell, 27.4.2012
Sehr geehrter Herr Kubitschek,
danke für Ihre Postsendung nebst Brief vom 20. d. M.! Da ich morgen für längere Zeit verreise, die Eile dieser Antwort – sie erfolgt nicht in Form eines Briefs, weil dazu keine Zeit ist, sondern mittels der beigelegten Aufsätze (Kopien) und der Taifun-Geschichten. Der eine Aufsatz (»›Der weiße Mann‹ …«) ist das kurzgefaßte Ergebnis mehrerer Nordamerikareisen und ‑aufenthalte, der andere (»Arroganz der Provinz …«) wurde im Zorn geschrieben. Geringfügigkeiten sehe ich heute anders, da ja unterdessen Entwicklungen stattfanden.
Ich wünsche Ihnen schöne Tage,
herzlich,
Hans Bergel
Schnellroda, 12.VI.2012
Sehr geehrter Herr Bergel,
vielleicht sind Sie schon zurückgekehrt von Ihrer Reise, vielleicht noch nicht: Ich möchte mich jedenfalls herzlich bedanken für Ihre Sendung vom 27. April, für die darin enthaltenen beiden Aufsätze und den Vorabend des Taifuns. Ich habe die Lektüre beendet, mit besonderer, existentieller Berührung natürlich Ihre Schilderungen aus der Zeit, da Sie als junger Mann Kurierdienste ausführten, Menschenleben retteten, einen Roman auf Fetzen schrieben und wieder verloren und lange Jahre im Gefängnis verbrachten.
Ganz besonders danke ich natürlich für die beiden politischen Aufsätze »Der ›weiße Mann‹ und das Problem seiner Zukunft: die Migration« und die »Anmerkungen zum Buch Die selbstbewußte Nation«, dessen Autoren ich fast alle kenne oder kannte. Ich war damals enger Mitarbeiter der Wochenzeitung Junge Freiheit und besprach mit anderen jungen Redakteuren und einigen älteren Publizisten, ob es notwendig sei, den Kopf hinzuhalten, oder klüger, Camouflage zu betreiben.
Was für eine Fragestellung! Sie ist einem jungen Offizier (der ich damals war) gar nicht beizubringen: Er lehnt sie von vornherein ab, hört erst beim dritten Mal zu, wirft sich in die Pose des Aufhalters, des Revolutionärs, des Schöpfers einer Gegen-Bewegung, zumal es nicht um Leben und Tod, sondern bloß um ein Mehr oder Weniger an Karriere, sofortigem Verdienst, Einfluß und Parkett-Zutritt ging.
Als mein Blut ein wenig abgekühlt war, im Übergang vom Studium ins Examen, lehnte ich die Fragestellung nicht mehr aus Stolz, sondern aus intellektueller Überheblichkeit ab: Ich war mir sicher, daß ich jedem, wirklich jedem, der mit mir über die Statthaftigkeit meiner weltanschaulichen Parteinahme würde diskutieren wollen, mit den BRD-immanenten Argumenten eine Lektion über die Freiheit des Geistes und der Rede würde erteilen können – und daß wiederum fast jeder die Wirklichkeitsnähe meiner Sicht akzeptieren und zugestehen müßte.
Von dieser Naivität bin ich längst geheilt, der Preis der weltanschaulichen und publizistischen Freiheit ist hoch, aber ich bin mir sicher, daß dies nicht die schlechteste Rolle ist, die man heute übernehmen kann: ein Zeichen zu sein, ein lebendes Experiment für den Grad an Normalität oder alltäglichem Wahnsinn in einem Land, das ex negativo immer noch von Hitler geführt wird.
Heute rate ich jungen Männern, die in meiner Zeitschrift schreiben möchten, sich die Folgen einer endgültigen Kontamination mit den Begriffen »konservativ«, »rechts«, »faschistisch« möglichst plastisch auszumalen, und dazu gehört eine Vorstellung von der völligen Marginalisierung des Denk- und Wahrnehmungsmilieus, dem ich angehöre. Die Selbstbewußte Nation entstand ja in einer Phase, als für ein paar Jahre die Möglichkeit aufschien, »unseren« Leuten innerhalb der Ullstein-Verlagsgruppe und der Tageszeitung Die Welt so etwas wie ein materielles Auffang-Netz zu knüpfen und das persönliche Risiko einer Entscheidung für die »falsche« Seite zu minimieren. Sie wissen, daß dies mißlungen ist: Etliche der Sammelband-Autoren sind gerade noch rechtzeitig in die freie Wirtschaft gesprungen oder haben sich losgesagt, um sich zu retten. Ich bin mir allerdings, nachdem ich über die Jahre doch den ein oder anderen von ihnen ab und an traf, nicht sicher, ob sie sich auf dem Feld, auf das es letztlich ankommt, wirklich gerettet haben.
Es grüßt
Götz Kubitschek
Costermano, 2. Juli 2012
Sehr geehrter Herr Kubitschek,
diese Antwort auf Ihren Brief vom 12. Juni – nebst Provokation – schreibe ich mit Verspätung und aus unserem Refugium in Italien, wohin ich wegen dringender und umfangreicher Arbeiten kam. Natürlich öffnen Ihre Feststellungen und Gedanken Schleusen in mir und versetzen mich in die Stimmung, all dem freien Lauf zu lassen, was sich seit meiner Einreise in dies Land, 1968, in mir staute. Ich werde mich zurückhalten, einiges dennoch aber niederschreiben. In Ihrem Bändchen Provokation, das Sie mir sandten, strich ich mir zwei Dutzend Formulierungen an. Es könnten auch meine sein, Ihre Erfahrung ist auch meine. Es ist eine Erfahrung, die so schwer ins Gewicht fiel – wozu es freilich einiger Jahrzehnte bedurfte –, daß ich mich heute nur dem Reisepaß oder Personalausweis nach als Deutscher verstehen kann. Der Weg bis zu diesem Punkt ist eine Kette aus Ernüchterung, Fassungslosigkeit, Wut, Ekel, Verachtung und schließlich Selbstisolation. Seit fünfzehn Jahren ziehe ich mich immer wieder hierher zurück – Konsequenz aus der Erkenntnis der Vergeblichkeit: Mir wurde bewußt, daß die Entwicklungen und Erscheinungen, die ich im Blick auf die Deutschen im höchsten Grade für alarmierend halte, historisch angelegt und ergo unaufhaltsam sind. Als Einzelner gegen den Niedergang einer Gesellschaft anzurennen, halte ich für sinnlosen Selbstmord. Ich neige nicht dazu.
Als ich im frühen März 1968 nach (West-)Deutschland kam, hatte ich ein knappes Vierteljahrhundert erbitterten, z. T. tollkühnen Widerstands auf mehreren Ebenen gegen das kommunistische System hinter mir. Ich hatte weder mich noch meine Familie geschont in der Vorstellung, es unserer Lebenswürde schuldig zu sein. Von niemandem in der Familie hatte ich dafür je ein tadelndes Wort gehört. Als ich in München eintraf, rannten kommunistische Losungen brüllende Studentchen mit den Porträtbildern von Mao Tse-tung, Ho Chi Minh, Lenin und Marx durch die Straßen – die Namen jener Männer, in deren »Auftrag« in den Ländern des Ostens, aus denen ich kam, Millionen Menschen umgebracht worden waren und andere Millionen in Gefängnissen und Lagern saßen. Ich versuchte – naiver Simplicissimus –, mit einigen der Schmuddelburschen ins Gespräch zu kommen, um ihnen zu erklären, warum sie die Ersten wären, die nach der Realisierung ihrer Gesellschaftsziele hinter Schloß und Riegel kämen. Ich merkte aber bald, daß sie gar nicht informiert sein wollten, daß ihnen ihr gottserbärmlicher und verantwortungsloser Polit-Jux mehr bedeutete als das Argument der Vernunft.
Nun, ich kenne alle die Theorien zur Erläuterung der Gründe »des Jahres ’68« von Rudi Dutschke über Marcuse und Adorno bis Horkheimer. Sie mögen ihre Richtigkeit haben. Ich weiß es nicht, da ich die realen Voraussetzungen »vor Ort« – in Deutschland – aus eigenem Miterleben nicht erfuhr. Ich weiß aber sehr wohl, warum ich mit ihrer Zielsetzung nicht einverstanden sein durfte: als Reaktion auf die NS-Vergatterung der Väter eine andere Diktatur zu errichten. Ich ging zu Ordinarien, ich ging zum Rektor der Münchner Uni – damals ein Mann aus einem bekannten böhmischen Adelshaus, dessen Name mir im Augenblick entfällt – und bot mich an, mit den verwöhnten Söhnchen und Töchterchen aus gut bis sehr gut gestellten Familien Informationsdiskussionen zu führen; mir fehlten, sagte ich, weder die Argumente noch der Hinweis auf Selbsterfahrenes. Nein, Sie können sich die Ausmaße an studentischem Rowdytum, an fratzenhafter Roheit und an Gewaltpotential der Ablehnung, einen Disput im Namen der Ratio zu führen, nicht ausmalen. Ich hatte im Alter jener Wirtschaftswundersprößlinge jahrelang – von den Interventions-Bataillonen der Securitate gejagt – in Hochgebirgsbiwaks, aufgelassenen Sennhütten, in Höhlen gehaust, hatte sehen müssen, wie Gleichgesinnte – Philosophie‑, Theologie‑, Medizinstudenten, Bauern, Lehrer, Ärzte, Ingenieure, Hirten – neben mir auf bestialische Weise abgeschlachtet wurden, ohne ihnen helfen zu können, und sah mich jetzt einer Jugend gegenüber, die jene Toten schallend auslachte und mich in Sprechchören als »Faschist« beschimpfte (nota bene: ohne zu wissen, was das eigentlich ist).
1991 hielt ich im Rahmen eines Germanisten-Kongresses an der Uni Graz einen Vortrag »Zensur im kommunistischen Osten, Zensur im freien Westen«. Da ich beide Gesellschaftsformen auch als Buchautor kennengelernt hatte, wußte ich, warum die conclusio meiner Ausführung lauten mußte: Die private Zensur bei westlichen Verlagen ist rigoroser, als es die staatliche Zensur in östlichen (kommunistischen) Häusern war. Während wir nämlich alle – auch der Verlagslektor und Verlags-Chef – im Osten wußten, wer unser Gegner war – das staatsideologische Diktat –, begegnete mir die Zensur von privater Hand im Westen ungreifbar: Ihre niederträchtige Geschmeidigkeit, ihr flexibles Verhalten zum Zweck, mich auszutricksen oder »herumzukriegen« (weil mein Skript verlockend gut war), die Unredlichkeit des Ablehnungsarguments – ich erklärte es in meinem Vortrag, der zu allem anderen auch gedruckt erschien und mir in der Folge den entsprechenden Undienst erwies. Hatten die »Jungintellektuellen« von ’68 gesiegt? Ja, sie saßen in den Verlagen, Redaktionen, Gerichten, Schulen etc.
Ich mußte zu dem Ergebnis kommen (was ich allzulange nicht wahrhaben wollte), daß ich in keinem Gesellschaftssystem des vorigen und dieses Jahrhunderts unbelastet und frei würde leben können. Unsere »freie« Gesellschaft ist eine Lüge, bei allen Lorbeeren, die ihr angebliche Kenner umhängen mögen. Es ist auch das Fazit Joachim Fests in der 2006 erschienenen Autobiographie Ich nicht … Hält man sich Fests bedachte und abwägende Art vor Augen, ist das ein vernichtendes Urteil. Unsere Autoindustrie kann noch so weltweit führend, unser Gesundheitswesen so vorbildlich in Europa und unsere Infrastruktur noch so beneidenswert sein – der Wurm sitzt tiefer. Die meisten wissen es. Nichts war mir in meinem Leben widerlicher als überhitzter Nationalismus! Doch für die derzeitige Ruinierung der Grundpositionen, deren eine Gemeinschaft – meinethalben: eine Gesellschaft – für ihre Zukunft bedarf, ist die Maßlosigkeit ideologischer Arroganz verantwortlich.
In diesem Konfliktbereich war die Bundesebene zu groß für mich. Wer war ich schon? Aber ich wollte die Existenz des Kommunismus nicht tatenlos hinnehmen. Ich beobachtete, daß die falsch angelegte Bukarest-Politik meiner in Deutschland lebenden Landsleute hinsichtlich derer in Rumänien der Korrektur bedurfte. Als ich mich 1970 einzugreifen entschloß, leitete mich die Erfahrung, daß kommunistische Repräsentanten nur eines am Gegner schätzten: Härte – Höflichkeit galt ihnen als Grund zum Gelächter. Was mich zum Handeln bewog, waren die Entrechtungen und Enteignungen bis in die ererbten Kulturspezifika hinein, ein menschenrechtlicher Skandal reihte sich an den anderen: Die kleine Ethnie war alldem schutzlos ausgesetzt. Es hätte hundert Gründe für ein entsprechendes Obhutsverhalten der Regierung in Bonn gegeben, doch außer höflichen Anfragen in Bukarest geschah soviel wie nichts.
Als ich dann mit meinen Kenntnissen der ganzen Skala kommunistischer Kodizes – vom unterirdischen Kerkerhäftling bis zum hofierten Poeta laureatus – im Zeichen der Menschenrechte zugunsten der im Kommunistenstaat bedrohten Ethnie einen ungewohnten Ton Bukarest gegenüber anschlug, fiel die bundesdeutsche Journaille mit dem hierzulande »tödlichen« Vorwurf »Nationalist!« über mich her. In Absprache mit Bukarest?, frage ich mich (wo zur gleichen Zeit eine gewaltige Medienkampagne gegen mich einsetzte) – als ob es sich nicht um gequälte, gedemütigte Menschen, sondern um eine Horde gemeingefährlicher Rabauken gehandelt hätte, bloß weil die Menschen dort in chauvinistischer Umgebung ihr Deutschsein behaupteten. Wäre ich für eine französische, kambodschanische oder indianische Minderheit auf die Barrikaden gegangen, hätte mich dieselbe Journaille mit Jubelorgien gefeiert. Trotz einschlägiger Erfahrungen war ich schockiert. Sind diese Leute pervers oder bezahlt?, fragte ich mich. Nein, sagte ich mir, es sind Deutsche, derlei ist bei keiner anderen Nation denkbar. Ceausescu wurde in diesem Lager für den »Weihnachtsmann« im kommunistischen Osten gehalten. Daß mich die Geschichte später auf das Genaueste bestätigte, veranlaßte keinen zu einem Wort der Entschuldigung.
Das ereignete sich während der Jahrzehnte 1970/80, es hängt mir bis heute bei den Medien an. Nun kam es aber nach 1989/90 zur Groteske, daß mir in Rumänien ausdrücklich für eben jene beiden Jahrzehnte öffentliche Ehrungen zuteil wurden und gerade jetzt wieder werden. »Für standhafte Bekämpfung der Diktatur auch nach Ihrer Emigration« ist u. a. in der Urkunde vermerkt, die mir bei der Verleihung des Dr. h.c. der Universität Bukarest überreicht wurde. Der Rektor ergänzte: »Sie haben in jenen Jahrzehnten mit Ihren Interviews im Radio ›Free Europe‹ allen Menschen in unserem Land Mut gemacht.« Ich war nahe daran, ihm zu antworten: »O ja, aber gegen den Trend der westlichen Intelligenzija.« Das halte ich für entlarvend.
Ich bin es leid, mir über diese Dinge den Kopf zu zerbrechen, es sei denn, ich entschlösse mich, ein Buch darüber zu schreiben. Doch cui bono?, frage ich mich in einer Gesellschaft, die aus ihrer Kulturdefinition die Grundwerte Familie und Kind strich und sich selber damit ad acta legt? Stimmt es nicht nachdenklich, daß ich mich in Israel im Kreis deutschsprechender und trotz allem deutscher Kultur anhängender hoch gebildeter Juden offener, freier über unsere Befindlichkeiten äußern kann als unter Deutschen? Aus meiner Korrespondenz mit dem deutsch-hebräischen Lyriker Manfred Winkler geht manches darüber hervor. Nirgendwo in Deutschland erfuhr ich seit meiner Auswanderung ’68 die Hochachtung vor deutscher Kulturleistung, zu der diese gescheiten Juden bereit sind, nirgends diese wache Luzidität der Argumentation wie bei diesen Juden des »Lyris-Kreises«, die mich wiederholte Male mit schierem Entsetzen nach den »Anomalien deutscher Intellektualität« fragten. Meine Reisen nach Israel – die bisher letzte im Herbst v. J. – dienen meiner Regeneration, und ich hörte dort mehr als einmal auch die Frage: Wie lange noch diese »edle« deutsche Selbstkasteiung?, wir glauben sie den Deutschen mittlerweile nicht mehr …
Ich habe in meinen Romanen Wenn die Adler kommen (1996) und Die Wiederkehr der Wölfe (2006) – Gott sei’s geklagt – mit einigen sakrosankten deutschen Unrichtigkeiten in der Darstellung der Geschichte des 20. Jahrhunderts andeutungsweise aufzuräumen versucht, die längst auf dem ganzen Globus, nur nicht in Deutschland klargestellt wurden – und habe auch dafür bezahlt. Doch das fing schon mit dem Roman Der Tanz in Ketten (1. Aufl. ’77) an. Bedeutende deutsche Tageszeitungen lehnten eine Rezension ab, weil – so wurde mir aus erster Hand übermittelt – der Roman linke Tabus dekuvriere (allein die FAZ, die damals noch einiges wert war, veröffentlichte eine Besprechung). Dabei schrieb ich alles andere als einen politisch tendenziösen Roman! Ich berichtete erzählend von Fakten, vom Realen. Das mußte ich als der Bote mit der bösen Nachricht bezahlen. Und dieser selbe Roman, den man in der Bundesrepublik als störend empfand – er könnte das gute Verhältnis zu Ceausescu beeinträchtigen, er übertreibe die negative Zeichnung, er stifte Unfrieden – wurde knapp dreißig Jahre später von der großen Ana Blandiana, Rumäniens weltberühmter Lyrikerin, als (wörtlich) »der erste, der kenntnisreichste, der bis heute beste Roman über die stalinistische Ära in Rumänien« bezeichnet. Was hilft es ihm? Die Feststellung kommt ein paar Jahrzehnte zu spät – die Journaille von der Süddeutschen bis zur Zeit verhinderte die öffentliche Kenntnisnahme eines authentischen belletristischen Berichts über ein damals fast zu Tode gequältes Land. Und machte sich damit schuldig.
Gelegentlich drängt sich mir ohne Dazutun auf, ob die über sieben Jahre Gefängnis, dazu die Partisanen-Jahre und der pausenlose verdeckte Widerstand gegen die Diktatur sinnvoll, d.h. der richtige Weg waren. Ich ging – wie viele andere! – diesen Weg in der Vorstellung, ihn meinem Bild von einer freien Welt, die wir im Westen realisiert sahen, schuldig zu sein. Nun, die »freie Welt« der Deutschen machte mir den Irrtum sofort bewußt: Als ich wenige Tage nach meiner Ankunft in München beim Kulturdezernenten der Stadt, Dr. Herbert Hohenemser, mit der Bitte vorstellig wurde, mir eventuell bei einer Arbeitssuche behilflich zu sein, und ihm wunschgemäß einen Zwei-Minuten-Abriß meines Lebens vorgetragen hatte – wobei ich die Knastjahre wegen antikommunistischer Aktivitäten nicht umging –, wurde ich kühl angeschaut und mußte von dem Herren hören: Das verstünde er nicht – er selber sympathisiere »mit dem kommunistischen Gedankengut«. Ich sah mich zurückversetzt in ein Verhör bei der Securitate, als mir ein Generalmajor den steinreichen, in der Schweiz lebenden Charlie Chaplin und den in Ost-Berlin lebenden Bert Brecht als Beispiele »hoher fortschrittlicher Intellektualität« unter die Nase rieb, um mir meine »falsche politische Einstellung« deutlich zu machen.
Der von Ihnen verehrte Dr. Armin Mohler, dessen Konservative Revolution mir ehemals von einem Bekannten nach Rumänien gebracht worden war, schrieb 1977 nach dem Erscheinen meines Romans Der Tanz in Ketten in Criticón: »Wäre der Roman Der Tanz in Ketten von einem Exilrussen geschrieben worden, er hätte seinen Autor in Deutschland berühmt gemacht – Bergels Pech ist es, ein Deutscher zu sein.« Ich blieb dem mutigen und unbeirrbaren Mann, der mir zum ersten öffentlichen Auftritt in Deutschland verhalf (Siemens-Stiftung: »Südosteuropa als politisches Rätsel«), bis zu seinem Tod verbunden, wenn auch dank seiner Nervenerkrankung zuletzt ohne Kommunikation. Ich schäme mich für den Umgang unserer tonangebenden Intellektuellen mit ihm: Ihr unmündiger und verwirrter Orientierungsbegriff ließ sie auch schon zu Hitler-Zeiten auf der falschen Seite stehen. – Genug davon! Ruhe und Muße in meiner Costermano-Einsamkeit verleiteten mich zu allzubreiter Auslassung; sehen Sie es mir nach.
Beste Wünsche und Grüße,
Hans Bergel
Schnellroda, 22.X.2012
Sehr geehrter Herr Bergel,
ich antworte sehr spät auf Ihren ausführlichen und für mich sehr wichtigen Brief vom 2. Juli, dessen Intensität und Offenheit mich ehrt. Ich reagierte nicht gleich, da Sie in Ihrem südlichen Refugium nicht erreichbar seien, wie Sie schrieben. Vielleicht sind Sie nun schon aus Italien zurückgekehrt oder sogar schon wieder dort, den November meidend, der zumindest in Sachsen-Anhalt einer der minder schönen Monate ist. Jedenfalls hoffe ich, daß mein Brief Sie bald erreicht.
Es hat mich erschüttert, daß jemand wie Sie (der als Deutscher im Ausland unsäglich litt) nach vier Jahrzehnten im Kernland nur noch qua Paß sich als Deutscher begreift und den Rückzug in eine Art »inneres Reich« angetreten hat. Das Seltsame ist, daß mich Ihr Bericht von all Ihrem Ekel und Ihrer Fassungslosigkeit über die Zustände in unserem Land erschütterte, obwohl ich solch ein Bekenntnis ahnte. Denn es ist eher so, daß ich die Naivität oder die Blindheit, die Lebenslüge oder die Angst nicht begreifen kann, mit der so viele unserer Landsleute sich um einen klaren Blick auf die deutsche Lage bringen. Im intellektuellen Milieu tritt nicht selten neben die Lebenslüge eine klarsichtige, böse Absicht, gespeist aus einer Art kulturellem Selbsthaß, der sich als Wunsch nach flächendeckender Identitätszerstörung äußert.
Die »Schere im Kopf«, die in der »offenen Gesellschaft« nicht als solche erkannt wird, ist jedenfalls ein normierendes Moment erster Güte. Selbstzensur, Folgenabwägung, Sprachtarnung und der Automatismus der Schweigespirale (die Noelle-Neumann beschrieb) sind die Folgen der Anwesenheit eines Auges, das jeder selbst auf sich ruhen läßt. Wir selbst übernehmen die Arbeit des »Amtes«, die unfreiwillig-freiwillige Überwachung qua facebook undsoweiter leistet weiteres, und ganz zuletzt (das setzte vielleicht vor zehn bis zwölf Jahren so richtig ein) ist die anonyme Denunziation in den Rang einer Pfandfindertugend erhoben worden: aufpassen, beobachten, melden – so eine Art Wildhüterjob, ein Waldbrandfrühwarnsystem. Einer der besten Autoren meines Verlags hat das beinahe paranoide Gefühl der Unfreiheit unseren »Kampf gegen unsichtbare Gegner« genannt – er ist mit dieser Deutung viel weiter vorgestoßen, als das jede Extremisten-Definition des Verfassungsschutzes je vermöchte.
Ein Wort noch zu Mohler, von dessen Rolle in Ihrem Leben ich freudig las: Ich war sein letzter Verleger, hielt seine Grabrede und telefoniere ab und an mit seiner Frau, die in Ottobrunn in einem Altersheim lebt. Ich lege Ihnen die Biographie bei, die in meinem Verlag erschien, vielleicht haben Sie Muße und können einen Blick hineinwerfen.
Gruß aus Schnellroda,
Götz Kubitschek
eulenfurz
Wer Schlattner einmal kennengelernt hat, wird von dessen ungewöhnlicher Selbstgefälligkeit, ja, von seinem Narzißmus, beeindruckt sein. Als siebenbürger Pfaff und kontinental renommierter Schriftsteller ist er weder Fisch noch Fleisch: Im Gegensatz zur engstirnigen BRD-Hautevolee hat er wenigstens noch einen Blick über Völkerschaften und Geschichtshorizonte hinweg, zwischen den "dagebliebenen" Sachsen mit ihren zerfurchten Gesichtern und rauhen Händen ist er aber ein skurriler Paradiesvogel.