Wenn nun ausgerechnet die vermeintlichen Gralshüter freien Kapital- und Warenverkehrs, wie IWF, EU und sogar die US-Regierung, Interventionen in Marktprozesse fordern, verdient das Aufmerksamkeit.
Gemeint ist die Kritik an Deutschlands Leistungsbilanzüberschüssen, die eine geradezu unmoralische Bereicherung auf Kosten des Auslands seien, und denen die deutsche Regierung entgegenzuwirken habe. Daß man dadurch auch die zweite Seite des Handels, die ausländischen Kunden nämlich, ebenfalls bestrafen würde, wird natürlich ignoriert, denn schließlich geht es hier um internationale Solidarität, die Rettung des Euro oder, wenn es intellektuell besonders fragwürdig wird, den Frieden in Europa
Dieser Gedanke der Bereicherung impliziert, dass Deutschland aus diesen Exporterfolgen hohen Nutzen zieht und in dieser Hinsicht besteht zwischen Kritikern und Kritisierten offenbar Einigkeit, denn auch in Deutschland überwiegt die Auffassung, dass wir, also das deutsche Volk als Ganzes, von den Exporterfolgen profitieren.
Aber ist das wirklich so?
Allein die Fragestellung vermag viele zu irritieren und mag für manche an Häresie grenzen, denn es scheint doch völlig klar, dass das im Export verdiente Geld unserer Volkswirtschaft zugutekommt und den Wohlstand hebt. Richtig ist, dass im System der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) der Saldo aus Exporten und Importen als Außenbeitrag in das Bruttoinlandsprodukt (BIP) eingeht und – wie im Falle Deutschlands – bei Leistungsbilanzüberschüssen steigen lässt. Aber der Reihe nach…
Betrachten wir zunächst die primäre Ursache von Exporterfolgen. In der rückwirkenden Erklärung werden die Volkswirte stets Unmengen statistischen Materials ins Feld führen, vor allem Lohnkosten- und Produktivitätsunterschiede oder Währungsentwicklung, warum es genau so und nicht anders kommen musste. Aber am Beginn steht zunächst die unternehmerische Entscheidung, überhaupt ins Ausland verkaufen zu wollen. Und da es keinen rationalen Grund gibt, ins Ausland zu verkaufen, wenn identische Mengen zu identischen Preisen im Inland zu erzielen wären, ist es plausibel anzunehmen, dass die Unternehmen ihre Wachstumsziele durch Absatz im Inland schlichtweg nicht erreichen können und daher gewissermaßen eine Flucht in den Export antreten.
Die konkreten Ursachen für den jeweiligen Exporterfolg der Unternehmen sind sicherlich hochindividuell, dennoch wird man auf der Suche nach Erklärungen für den Exportaufschwung natürlich auch in den volkswirtschaftlichen Indikatoren fündig. Und ein wesentlicher Aspekt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit sind die Lohnkosten oder anders ausgedrückt die Realeinkommen. Die lange Zeit sehr zurückhaltende Lohnentwicklung ist vor dem Hintergrund des geringen Wachstums zu sehen, das Deutschland nach dem Ende des Vereinigungsbooms erfasste.
Deutschland wuchs seit 1992 die längste Zeit deutlich langsamer als das übrige Europa, entsprechend schlecht ging es dem Arbeitsmarkt und es ist keine zehn Jahre her als Deutschland noch als kranker Mann Europas galt.
Die hohe Wettbewerbsfähigkeit aufgrund der Lohnentwicklung ist identisch mit den Ursachen für die vergleichsweise schwache Entwicklung der Binnennachfrage. Man kann nicht das eine gutheißen und das andere verurteilen.
Allerdings begann der Export-Boom bereits um das Jahr 2000 als im Zuge der Internet-Euphorie die Weltwirtschaft ein zyklisches Hoch erlebte. Zuvor war vor allem aufgrund des Nachholbedarfs in Mitteldeutschland sogar ein Leistungsbilanzdefizit zu verzeichnen.
Über Jahre hinweg vermochte der ansteigende Export also gerade nicht die Gesamtwirtschaft zu beleben, war also für weite Teile der Arbeitnehmerschaft „nutzlos“. Erst als 2006/2007 die Weltwirtschaft am Vorabend der Finanzkrise wieder ein zyklisches Hoch erreichte, konnte Deutschland überhaupt überdurchschnittlich wachsen, nur um im Zuge der Finanzkrise ebenso überdurchschnittlich abzustürzen – weit stärker übrigens als die Finanzwirtschaften Großbritannien und USA. Die Exportabhängigkeit der deutschen Wirtschaft ist ein prozyklischer Hebel, der Chancen aber auch die Risiken der weltwirtschaftlichen Entwicklung verstärkt.
Woran liegt es, dass die zunächst plausible Annahme des hohen Nutzens der Exporterlöse offenbar nicht trägt?
Der Schlüssel ist der in der öffentlichen Diskussion stets aus Unkenntnis oder Kalkül ausgeblendete Zusammenhang von Leistungs- und Kapitalbilanz. Wie die folgende Grafik zeigt, scheinen sich beide Werte parallel zu entwickeln, allerdings ist die Kapitalbilanz invertiert. Das heißt, den positiven Werten der Leistungsbilanz stehen praktisch gleich hohe negative in der Kapitalbilanz gegenüber. Das Geld fließt also wieder ins Ausland und steht für inländischen Konsum oder Investitionen nicht mehr zur Verfügung.
Dieses Geld ist jedoch nicht weg, sondern typischerweise als Kredit vergeben oder als Kapitalanlage investiert, es kann also durchaus renditeträchtige Rückflüsse erzielen.
Die Verbreitung des Terminus „stupid German money“ und die diversen Desaster deutscher zumeist (halb-)öffentlicher Banken im Ausland legen jedoch einen anderen Schluss nahe.
Der Hintergrund dieser Kapitalbewegung ist zweistufig. Erstens verteilen sich die Exporterlöse und steigenden Einkommen natürlich nicht gleichmäßig in der Volkswirtschaft, sondern konzentrieren sich bei Eigentümern und Mitarbeitern der Exportunternehmen. Diese sind ihrer Natur nach oft kapitalintensiv (im Gegensatz zu arbeitsintensiv) und haben wenige dafür aber gutbezahlte Mitarbeiter. Diese können in der Regel ihre Bedürfnisse ohnehin decken, sodass jedes Zusatzeinkommen primär in die Ersparnisse fließt. Man kann es mit Recht als eine Stärke unserer Mentalität sehen, dass der Deutsche eben nicht immer weiter an der „Konsumschraube“ dreht, obwohl er schon alles hat, sondern es lieber für unweigerlich nahenden schweren Zeiten zurücklegt – Stichwort demografischer Niedergang. Und da das Sparbuch aus der Mode gekommen ist, sucht dieses Kapital renditeträchtige Kapitalanlage, findet sie in Deutschland aufgrund des geringen Wachstums jedoch nicht. Ergo fließt es ins Ausland, wo deutlich „mehr zu holen“ scheint.
Auch hier ist es müßig, Henne und Ei auseinander dividieren zu wollen, aber diese Wechselwirkung konserviert gewissermaßen den Gleichlauf von Waren und Kapital ins Ausland.
Sollte dieser Zusammenhang beim Leser noch auf Widerspruch stoßen, bietet sich China als gutes schlechtes Beispiel an. Ein Land, das mit gigantischen Schritten die Entwicklung vom Entwicklungsland zum Industriegiganten nimmt. Träger des enormen Wachstums sind die Exporte und Investitionen in Industrie, Infrastruktur und Immobilien, die China zur Werkbank der Welt machten. Obwohl all das gigantische Summen verschlang, gelang es China einen ebenso gigantischen Berg an Devisen und US-Anleihen im Wert von tausenden Milliarden Dollar anzuhäufen. Letzteres ist nichts anderes als das Ergebnis einer permanent negativen Kapitalbilanz, nämlich der Aufbau von Forderungen gegenüber dem Ausland.
Wenn man nach Obengenanntem ein binnenwirtschaftliches Ungleichgewicht konstatiert, stellt sich die Frage nach Lösungsansätzen.
Der in den 70ern verabreichte und nun von eingangs erwähnten Kritikern geforderte „Schluck aus Pulle“ für die Arbeitnehmer, also Lohnerhöhungen weit jenseits des Produktivitätsfortschritts, ist es jedenfalls nicht. Die langfristige Wohlfahrt hängt primär von der Produktivität ab und daher kann man sich auch nicht „reich konsumieren“. Und da diese Produktivität wiederum maßgeblich vom Kapitalstock und Investitionen abhängt, liegt hier der entscheidende Hebel.
Dass es um Deutschlands Kapitalstock nicht allzu gut steht, weiß nicht nur jeder Autofahrer. Die öffentliche Infrastruktur hat in den vergangenen Jahrzehnten erheblich gelitten und trotz der Inflation von Bildungspolitikern werden Eltern mit schulpflichtigen Kindern sicher bestätigen können, dass sogar Schulbücher teilwiese Mangelware sind. Es soll hier aber auf keinen Fall linkspopulistischen Milchmädchenrechnungen von Steuererhöhungen für Bildungsgerechtigkeit das Wort geredet werden, ganz im Gegenteil.
Der Staat gibt ganz sicher nicht zu wenig Geld aus, sondern er gibt es für das Falsche aus. Die grotesken Auswüchse des Kampfes gegen Recht(s) müssen keinem SiN-Leser erläutert werden. Die Migrationsindustrie und Apologeten einer irgendwie gearteten „Gleichheitsgerechtigkeit“ drehen weiter an der Interventions- und damit Ausgabenspirale. Solange das wichtigste politische Sinnesorgan des Wählers jedoch sein eigenes Portemonnaie ist, dürfte diesbezüglich wenig Hoffnung auf Änderung bestehen.
Vielleicht kommt die Umkehr ja von ganz unerwarteter Seite, nämlich dem Auseinanderbrechen des Euro. Der Autor nimmt noch Wetten entgegen, aber die aktuelle Prognose lautet, dass sich Frankreich in gewohnt heroischer Pose zum Anwalt der armen und geknechteten Südländer macht, um diese gegen das nordische Austeritätsdiktat in Schutz zu nehmen.
Die Folge wäre mindestens ein Nord- und ein Südeuro. Ersterer wäre eindeutig einem erheblichen Aufwertungsdruck ausgesetzt, mit entsprechend negativen Folgen für die Exportbranchen. Sollte sich jemand gewundert haben, dass die organisierten Großunternehmen vehemente Befürworter der Euro-Rettung sind, während die deutschen Familienunternehmen ebenso vehemente Gegner sind, so liegt hier die Erklärung. Während Großunternehmen für ihre Exporterfolge auf den Rückenwind des Produktivitätsgefälles ohne „Währungsgegenwind“ angewiesen sind, können die innovativen Mittelständler wie in der Prä-Euro-Ära auf die Qualität ihrer Produkte vertrauen. Auch wenn sicherlich Einbußen entstehen würden, wäre das auf keinen Fall eine derartige Katastrophe, wie von geneigter Seite dargestellt. Eine Katastrophe wäre tatsächlich ein chaotisches Auseinanderbrechen der Euro-Zone und ein folgende schockartige Aufwertung. Und genau dieses Szenario wird durch das sklavische Festhalten am Euro und seiner Rettung um jeden Preis eher wahrscheinlicher.
Aber entscheidender ist, dass die Aufwertung des Nord-Euro – oder gar der neuen DMark – gewaltige Kaufkrafterhöhungen für die breite Bevölkerung bewirken würde, da sich die Importe verbilligen würden. Auch Deutschlands Unternehmen, die auf vielfältige Importe von Rohwaren und Vorprodukten angewiesen sind, würden profitieren und Verteuerungen ihrer Güter im Ausland zumindest teilkompensieren können.
Und schließlich würde die stetige und dauerhafte Aufwertung der Nordwährung Kapitalexporte unattraktiver machen, da diese schon außerordentliche Überrenditen erzielen müssten, was normalerweise mit entsprechenden Risiken einhergeht, um die Aufwertung zu kompensieren.
Fazit: Export ist kein Zweck sondern Mittel. Nicht umsonst heißt das korrespondierende Kriterium guter Wirtschaftspolitik „außenwirtschaftliches Gleichgewicht“ und nicht „Exportbesoffenheit“.
Genauso wie die vom Ausland geforderten Eingriffe staatlicherseits zur Exportbegrenzung abzulehnen sind, gilt es auch das deutsche Paradigma der Exportfixierung zu hinterfragen, um zu einer gedeihlichen wirtschaftlichen Entwicklung zu gelangen, die möglichst breite Kreise unseres Volkes umfasst, und nicht nur die schmale Kaste der Exportprofiteure.
Mehr zum Thema auch in der Euro-Studie des Instituts für Staatspolitik. Dort wird nicht nur der Nutzen des Euro für die Wirtschaftsnation Deutschland hinterfragt; der Autor präsentiert zudem mögliche Szenarien der weiteren Entwicklung: vom Erhalt des Euro-Raums in seiner derzeitigen Form über das Ausscheiden der Defizitländer bis zum Austritt Deutschlands aus dem Währungsverbund.
jak
Och wieso? Hier mal ein Video von Lafontaines früherem Staatssekretär Heiner Flassbeck:
https://www.youtube.com/watch?v=R-3vQzAvRfk
Man muss ja nicht in jedem Punkt übereinstimmen, aber von Linken kann man wenigstens gesammtwirtschaftliche Rechnung lernen. Nationalökonomie ist eben nicht nur BWL. In Ihrem Fazit haben Sie ja den entscheidenden Punkt „außenwirtschaftliches Gleichgewicht“ schon angesprochen. Wenn man ständig extreme Überschüsse erwirtschaftet, d.h. deutlich mehr exportiert als importiert, müssen sich die anderen verschulden. Und wenn man die Handelspartner in die Pleite niederkonkurriert sitzt man am Ende auf einem Berg von unbezahlten Rechnungen (siehe Target2).
Das Problem könnte man prinzipiell dadurch lösen, dass Wechselkurse angepasst werden. Das ist in einer Währungsunion aber nicht möglich. Eine Transferunion und dergleichen will hier wohl auch keiner. Und einfach raus aus dem Euro ist bestenfalls mittelfristig machbar.
Wenn man Exporte nicht reduzieren will muss man eben mehr importieren. Irgendwer muss hier also mehr ausgeben/investieren. Staat (Steuern rauf?) oder Konsumenten (Löhne rauf?) müssen also für Binnennachfrage sorgen. Ansonsten fliegt der Euroladen in der Tat voraussehbar auseinander...
P.S. Ob China nun vom „Entwicklungsland zum Industriegiganten“ werden wird kann ich nicht beurteilen. Auch da werden die Bäume aber nicht in den Himmel wachsen und vieles ist ziemlich ungewiss...
https://www.fuw.ch/article/die-politik-von-chinas-umstellung/