Aus der Feder des Journalisten Hans Zehrers (1887–1969) stammt ein Aufsatz über »Die eigentliche Not unserer Zeit«. Zehrer veröffentlichte ihn in der Tat, jener Monatsschrift zur Gestaltung neuer Wirklichkeit, die sich – gegründet 1909 – seit 1929 unter seiner Leitung zum führenden jungkonservativen Organ weiterentwickelt hatte.
Rund 30000 Abonnenten lasen Texte von Ernst Jünger und Ernst Wilhelm Eschmann, Giselher Wirsing und Otto Strasser, und im Februar 1933 – dem Monat nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler – lag ihnen auch Zehrers Beitrag vor. Der Text unternimmt den nicht eben simplen Versuch, den wesentlichen Menschen vom unwesentlichen zu scheiden. Die Argumentation trägt Kennzeichen von Zehrers Beschäftigung mit dem philosophischen und theologischen Existentialismus, und wer den Text nachvollziehen will, muß auf diesen Ton gestimmt sein. Das Unkonkrete stört, aber gerade das Andeutende, das Raunende weckt die Vermutung, einer Sache von Bedeutung auf der Spur zu sein.
Nach Zehrer kann das Wesentliche nur dort wachsen, wo es die Nähe zu Einsamkeit und Tod nicht verliert. Das in sich ausgewogene Bewußtsein um Besonderheit und Endlichkeit sind die Grundlage einer wesentlichen Reifung: »An der Wiege der Individualität steht der Tod Pate«, und nur die Auseinandersetzung mit ihm führt zur Überwindung der Individualität, von der dadurch alles Selbstverliebte, Überhebliche abgeschlagen wird: »Denn nur, wenn die Einmaligkeit und Besonderheit der eigenen Existenz wieder überwunden worden ist, wenn im Eigenen das Allgemeine erkannt ist, ist auch der Tod unwesentlich geworden.« Das meint nichts anderes, als daß die ureigene Besonderheit, Eigenartigkeit gegen die Uniformität der Massengesellschaft zwar in ihrem Rang erkannt und zur Geltung gebracht, jedoch dem Vorübergehenden eines Menschenlebens dadurch enthoben werden müsse, daß es in den Schicksalsweg eines ganzen Volkes eingebettet bleibe.
Man tut dem »Wesentlichen« Zehrers keine Gewalt an, wenn man es – weniger indifferent – mit »echter Persönlichkeit« übersetzt. Auf solche Charaktere setzte Zehrer in der Krise seine Hoffnung: Er begrüßte die Ablösung des parlamentarischen Systems durch den autoritären Staat, ließ aber keinen Zweifel daran, daß er auch im Nationalsozialismus nur eine Durchgangsphase sehen könne – allenfalls notwendig, um die »entscheidende Gefährdung der Existenzgrundlage von Millionen von Menschen« zu vermeiden. Was folgen müsse, sei eine Überwindung auch dieses neuen Systems hin zur eigentlichen, wesentlichen politischen Ordnung. Angesichts der Robustheit, mit der die Nationalsozialisten ihren Wahlsieg zu einer Machtergreifung umgestalteten, gehörte zu einer solchen Äußerung Mut, zumal sie nicht in einem Nischenblatt, sondern im Organ der mächtigen, noch unentschiedenen konservativen Intelligenz erschien.
Zehrer war sich dieser Gratwanderung bewußt, und das mag der Grund dafür sein, daß sein Aufsatz bis zuletzt nicht konkret wird und keine »wesentlichen Menschen« beim Namen nennt. Aber er weist die Marschrichtung: Zehrer schreibt von einem »Weg zurück« in eine Zeit, die vor der auflösenden Wirkung der Industrialisierung und den Experimenten der Moderne liegt. Nicht, daß Zehrer diese Moderne leugnete oder ungeschehen zu machen wünschte: Nur die Art des Gangs in sie hinein sei zersetzend gewesen, und so müsse er nochmals und anders unternommen werden. Die Einheit des Volks als einer Schicksals- und Willensgemeinschaft müsse gewahrt bleiben. Das Volk sei in Form zu bringen, der Apparat in Gang zu halten – beides durch eine politische Führungsschicht, die in sich den Kern, die Entwicklungsrichtung, »das Wesentliche« bündle.
Wer die Bedeutung Zehrers für die jungkonservativen Lenkungsversuche am Ende der Weimarer Republik ein wenig überblickt, kann seinen Text über »Die eigentliche Not unserer Zeit« als eine an jene mögliche Führungsschicht hin formulierte, verhaltene Warnung deuten, die nun einen Fehler nicht machen dürfe: die Partei Hitlers als den Zielpunkt einer volksbezogenen Politik der neuen Einmütigkeit und der Korrektur an der Moderne zu verkennen. Zehrer hatte längst eine eigene Konzeption von einer »Dritten Front« und einem national-sozialen Neubau formuliert und sah angesichts der neuen, ungeheuer dynamischen und modernen Macht die Gefahr der Vereinnahmung einer bisher nicht nationalsozialistisch gesinnten Leserschaft und möglichen Führungsschicht. Zehrer wollte keinen neuen Menschen, sondern eine heilende Einordnung des Menschen in eine neu zu stiftende Ordnungsform des Volkes – hierarchisch gegliedert, alle Kräfte bündelnd. Daß dieser Staat, den zu erhalten sich dann lohnen könnte, zuerst geschaffen, revolutionär geschaffen werden müßte, ist nur eine Variation, Zehrers Variation der konservativ-revolutionären Grundmelodie jener Zeit.
Nach 1945 war von solchen Totalentwürfen keine Rede mehr. Im Lexikon des Konservatismus heißt es, Zehrer sei nach der Niederlage vom »Ende des Politischen« überzeugt gewesen und habe nicht viel mehr erwart als eine »Pazifizierung der Weltanschauungskonflikte«. Er teilte diese desillusionierte Einschätzung mit vielen seiner Weggefährten. Die vor der nationalen Erhebung erhofften und erdachten konservativ-revolutionären Heilsmittel gegen die Krankheit einer falschen Moderne waren entweder kontaminiert oder obsolet, und so klingen die meisten Nachkriegsentwürfe aus diesem Geist wie Abgesänge. In der ihm eigenen, nüchternen Sprache äußerte sich beispielsweise Arnold Gehlen: Auch er sah Risse und Sinndefizite innerhalb der von ihm so bezeichneten »kristallisierten Gesellschaft«. Unter dem Eindruck aber, daß dieser sinnleere deutsche Reststaat ziemlich ungerührt den Brandungswellen der 68er-Revolte und deren linksradikalen Eroberungsversuchen trotzte, erwachte in Gehlen sogar Sympathie für die Effektivität und Sachlichkeit der technokratischen Ordnung. Regiert und entschieden würde am besten von Experten – und für Intellektuelle und Politiker stehe zur Verfügung, was Gehlen als die »Spielplätze höherer Art« bezeichnete: Institutionen mit klingendem Namen, aber ohne Bedeutung für den reibungslosen Ablauf des Systems.
Daß aber trotz dieser ordnenden Übermacht der »sekundären Systeme« von Technik und Wissenschaft noch etwas zu tun bleibe, klingt in der Aufgabenstellung an, der sich das Institut für Staatspolitik als einziger ernsthafter Erbe der Jungkonservativen widmet: Bewahrung des historischen Erbes und Besinnung auf die Güter der abendländischen Tradition. Es geht nicht mehr um einen Gegenentwurf, sondern um die Stabilisierung der Substanz, nicht mehr um eine Revolte, sondern um Kurskorrekturen und – immerhin – um ein mutiges Aussprechen dessen, »wie es wirklich ist.« Daß solche Minimalziele in ein Dilemma führen müssen, brachte der Soziologe Hans Freyer auf den Punkt: Innerhalb der nivellierten Massengesellschaft komme Identitätsstiftungen der Rang einer »haltenden Macht« zu. Und so stabilisiert jeder, dem seine Substanz, seine Identität, sein Gefüge von irgendwo außerhalb des Systems her zuwächst, heute jenes System, das für die Zersetzung erst verantwortlich ist.
Wir selbst – am Ende auch nur Absicherer jenes freiheitlich-säkularisierten Staats, dem der Jurist und Schmitt-Schüler Ernst-Wolfgang Böckenförde in seinem berühmten Diktum eine Gratwanderung bescheinigte? Dieser Staat nämlich lebe »von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist« – und wir sollen dieses Wagnis mindern? Nein, Freunde: Das kann es nicht gewesen sein. Dies mag ein Programm für Leute sein, die ausgesorgt haben, für letztlich doch Zufriedene, für Antriebsschwache, Naive oder bestenfalls für jene Konservativen, die sich nach einer Phase der Empörung einzurichten beginnen – gemäß der Formel, daß es ein »wahres Leben im falschen« gebe und daß das Alter noch jeden aus der Unruhe in die Stabilität geholt habe, aus der Revolte in den Gang allen bürgerlichen Wohlbehagens.
Nochmals: Nein, und drei kurze Geschichten dazu, drei Sympathiebekundungen:
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Als die Junge Freiheit 1993 eine erste Sommeruniversität ausrichtete, saß auch ein junger Wandervogel mit im Hof der Burg, in der wir tagten. Er konnte eintausend Lieder singen, war laut und ungezogen und soff den ganzen Tag. Manchmal schlief er auf einer Bank in der Sonne, und als die Antifa in die Stadt strömte, wollte er den Hang hinuntersteigen und wenigstens ein Wirtshaus zurückerobern. Er konnte Benn und Jünger zitieren, lachte schallend, wenn ein Referent von der Aktualität der Konservativen Revolution sprach, und immer waren ein paar junge Kerle bei ihm, die ihn nicht wie einen seltenen Vogel, sondern wie eine Lebensmöglichkeit betrachteten: So könnte man sein, so desillusioniert und spöttisch, und dennoch ein Typ, Träger eines Schatzes aus Versen, Melodien und Ahnenbildern. Vergeudetes Leben? Auf seiner Beerdigung war keine Rede davon.
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Dann der Feldwebel, der 1991 seine Uniform auszog, weil er keiner Armee angehören wollte, die alles Soldatische in sich auszuräuchern begann. Er war es, der auf seiner Stube Bücher, Zeitungen und Filme bereitgestellt hatte, um seine »Jungs« auf rechts zu trimmen. Im Zivilen trieb er sich eine Weile herum, lehrte den freien Fall aus 2000 Metern und zog – nachdem er diese Geschäftsidee in den Sand gesetzt hatte – in den noch jungen Krieg auf dem Balkan. Von dort kam noch ein einziger Brief, dann verlor sich seine Spur bei Karlovac.
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Und immer wieder Christian Böhm-Ermolli, der sich am 5. März 1996 in Wien im Alter von 30 Jahren erschoß: War er es, der zuvor die widerlichen Übermalungen des unsäglichen Malers Arnulf Rainer seinerseits vollständig schwarz übertünchte und auf eine dieser Auslöschungen anspielungsreich schrieb, nun habe er beschlossen, ein Aktivist zu sein? War er in der Lage zu dieser Form der Gegen-Kunst, die später in einem dicht und klug formulierten, mittlerweile auch im Netz verfügbaren Manifest ihren theoretischen Unterbau erhielt? Und wenn: Möchte man sich vorstellen, daß so ein Täter irgendwann vom Kunstbetrieb vereinnahmt worden wäre und identitätsstiftend zur Stabilisierung der »Spielplätze höherer Art« beigetragen hätte?
»Jedes Milieu«, schrieb Martin Lichtmesz in seinem Sezession-Beitrag »Fanal und Irrlicht«, der zum Besten gehört, was wir je veröffentlichten, »braucht seine Unkonventionellen, Exzentriker und Märtyrer, Persönlichkeiten, die Pfade entdecken, schlagen und begehen, für die andere zu blind, zu beschränkt, zu vernünftig oder zu ängstlich sind. Diese Figuren faszinieren und inspirieren, sind aber als Vorbilder wenig geeignet, weil sie einen bestimmten Aspekt so sehr verdichten, daß alles andere zu kurz kommt.«
Ja, zweifelsohne, so ist es, und die Fragen, über die hinter den Kulissen gestritten wird, lautet: Ist das Unkonventionelle, das Randständige, das Exzentrische empfehlenswert oder gefährlich? Ist es überhaupt wesentlich? Soll es nicht besser ausgegrenzt und beschwiegen, und wenn letzteres nicht, dann wenigstens lächerlich gemacht werden – der Vernunft, der Anschlußfähigkeit, der Stabilisierung wegen?
Keinesfalls. Gegen jede Vernunft und um den Preis der Anschlußfähigkeit. Denn das Politische ist zu Ende. Alles Große dämmert vor sich hin, und selbst die Erinnerung daran schläft ein. Das Radikale ist der Stachel, der wachhält. Das Experiment ist das Gebot der Stunde, der nutzlose Dienst eine schöne Geste. Die Fähigkeit, immer wieder voraussetzungslos über Tun und Lage nachzudenken, die Uhr neu zu stellen und aus dem Nichts zurückzukehren, ist die Grundlage des Widerstands. Unter den Kombattanten ist der Exzentriker der Einsame, und er steht näher am Tod. Zehrer schrieb, beides – ausgehalten – mache wesentlich. Vor allem, wissen wir, macht es magnetisch – weil es echt ist, weil es nicht kalkuliert, nicht rechnet und die Kraft nicht in abgemessenen Portionen einsetzt, sondern so, daß sie sich vergeudet. Wir haben ein Gespür dafür, wo noch etwas verhandelt wird und ein Rad sich noch ohne Routine dreht. Auf diesen Punkt richten wir uns aus.