Anschlußfähigkeit, Mimikry, Provokation

52pdf der Druckfassung aus Sezession 52 / Februar 2013

von Harald Seubert

Erik Lehnert hat in der 50. Sezession die Frage des Denkstils, ausgehend von den Forschungen Ludwik Flecks, pointiert und intelligent wieder ins Bewußtsein gerückt. Jede Erkenntnis, so zeigt seine Rekonstruktion, ist auch an die Voraussetzungen und Vorgaben eines Denkstils gebunden.

Dies steht nicht nur in der Nähe zu dem von Tho­mas S. Kuhn benann­ten Para­dig­men­wech­sel und der »Struk­tur wis­sen­schaft­li­cher Revo­lu­tio­nen«, son­dern ins­be­son­de­re auch zu Michel Fou­caults Archäo­lo­gie der Dis­kurs­for­ma­tio­nen. Sol­che Dis­kur­se und ihre imma­nen­ten Macht­dis­po­si­ti­ve rei­chen wei­ter als sub­jek­ti­ve Sti­le: Indem Fou­cault dies lehrt, nimmt er auch Abschied von bestimm­ten Eman­zi­pa­ti­ons­träu­men. Dis­kur­se bin­den in unter­schied­li­chen Dis­zi­pli­nen in einer Zeit For­schung, Dar­stel­lung und Refle­xi­on. Damit ist es durch­aus gerecht­fer­tigt, auch mit Fleck von dem kol­lek­ti­ven Moment aus­zu­ge­hen, der Stim­mung, die so undurch­dring­lich ist wie bestimmend.

Das herr­schen­de geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Para­dig­ma hat sich längst von dem Anspruch einer eigen­stän­di­gen Wahr­heits­su­che ver­ab­schie­det und geht auf den aus­ge­tre­te­nen Wegen der Top-Down-Stra­te­gien von Gen­der und Wel­teman­zi­pa­ti­on unbe­irrt wei­ter. Der Main­stream hat längst ver­ges­sen, daß er nur eine von vie­len Per­spek­ti­ven ist. Model­le, die sich for­schungs­stra­te­gisch bis auf wei­te­res durch­ge­setzt haben, neh­men, je län­ger je weni­ger, Selbst­kri­tik und Selbst­über­prü­fung auf sich. So ent­steht die Ver­hin­de­rung des viel­be­ru­fe­nen Dis­kur­ses. Wenn »Sezes­si­on« bedeu­tet, bei­sei­te zu tre­ten, Model­le auf­zu­bre­chen und illu­si­ons­los auf die Wirk­lich­keits­wahr­neh­mung zu ach­ten, so hat sie neben ande­rem die drin­gen­de Auf­ga­be, die lei­ten­de Ten­denz­wis­sen­schaft in die Are­na zu fordern.

Unab­hän­gig von Fleck oder Fou­cault hat Hein­rich Rom­bach in sei­nen tie­fen­struk­tu­rel­len Ana­ly­sen auf Epo­chen­pa­ra­dig­men hin­ge­wie­sen. Er sieht die euro­päi­sche Geis­tes- und Denk­ge­schich­te unter ande­rem von der Abfol­ge­tri­as Sub­stanz-Sys­tem-Struk­tur geprägt. Rom­bach hat dar­auf hin­ge­wie­sen, daß das Struk­tur­den­ken von man­chen Den­kern der frü­hen Neu­zeit anti­zi­piert wur­de, aber auf­grund sei­ner vor­aus­sprin­gen­den Unzeit­ge­mäß­heit nicht ver­stan­den wer­den konn­te. Bei­spiel­haft wären als sol­che Struk­tur­den­ker avant la lett­re Cusa­nus oder Leib­niz zu nen­nen. Wann ein neu­es Para­dig­ma (pla­to­nisch: das Urbild, das neben­her gezeigt wird) greift, bleibt aller­dings offen.

Sti­le, auch dies ist vor­ab zu bekräf­ti­gen, bil­den eine Ganz­heit, bei aller Plu­ra­li­tät im ein­zel­nen eine mor­pho­lo­gi­sche Geschlos­sen­heit und Geformt­heit. Zur Crux wird offen­sicht­lich, inwie­weit Denk­sti­le ein­zel­ner inner­halb der macht­vol­len kol­lek­ti­ven Dis­po­si­ti­ve der gän­gi­gen Para­dig­men sicht­bar wer­den kön­nen, und damit ist auch frag­lich, wie ihre Anschluß­fä­hig­keit ver­faßt ist. Heid­eg­ger hat am Beginn sei­nes Denk­wegs – wohl wis­send, daß er etwas täte, das mit der damals beherr­schen­den Phi­lo­so­phie der Neu­kan­ti­a­ner und Phä­no­me­no­lo­gen nichts mehr gemein hät­te – davon gespro­chen, man müs­se lang­hin die Spra­che der Phi­lo­so­phie der eige­nen Zeit spre­chen. Die­se Mimi­kry hat er aber impli­zit schon mit sei­nen frü­hen Vor­le­sun­gen in Frei­burg auf­ge­ge­ben, und damit einen genui­nen, scho­ckie­ren­den Neu­auf­bruch der Phi­lo­so­phie aus­ge­löst. Der traf auf einen nicht-arri­vier­ten Denk­stil außer­halb der aka­de­mi­schen Welt: vor allem auf die Jugend­be­we­gung und jene Geis­ter in allen poli­ti­schen Lagern und Kon­fes­sio­nen, die nach dem Ers­ten Welt­krieg den Ernst­fall offen­hiel­ten. In der Zwi­schen­kriegs­zeit, von Dos­to­jew­ski und Nietz­sche inspi­riert, brach­te er den Expres­sio­nis­mus, das Wis­sen um das Ende ange­stamm­ter Auf­klä­rung auch in die Phi­lo­so­phie und Theo­lo­gie. Karl Barths Römer­brief und Franz Rosen­zweigs Stern der Erlö­sung sind fas­zi­nie­ren­de Ausprägungen.

Die Mimi­kry emp­fiehlt sich als Tak­tik der Anschluß­fä­hig­keit immer. Sie hat zu tun mit der Kunst ver­deck­ten Schrei­bens, die Leo Strauss als Zen­trum poli­ti­scher Phi­lo­so­phie frei­ge­legt hat. Neben der gän­gi­gen exo­te­ri­schen, öff­net sich dann eine eso­te­ri­sche Les­art; denen, die ver­ste­hen kön­nen, zei­gen sich offen­ba­ren­de Ein­bli­cke in ein Gegen-Den­ken, die Tum­ben und All­zu-Zeit­ge­mä­ßen blei­ben an der Ober­flä­che. Man folgt letzt­lich Gra­ciáns »Rede wie alle, den­ke wie die weni­gen«. Hier wei­te­res zu sagen, hie­ße Betriebs­ge­heim­nis­se ver­ra­ten. Nur soviel: Man muß nicht ver­su­chen, mit aller Macht einen Gegen­dis­kurs und Gegen­klas­si­ker zu eta­blie­ren. Es kann intel­li­gen­ter sein, neu­en Wein in die alten Schläu­che der ange­sag­ten Auto­ri­tä­ten zu gießen.

Oder Fra­ge­stel­lun­gen auf­zu­neh­men, die en vogue sind, und ihnen eine ver­än­dern­de Wen­dung zu geben. Dies kann mit der Leo Strauss­schen Kate­go­rie der Kunst ver­deck­ten Schrei­bens the­ma­ti­siert wer­den und erweist dann sei­ne hohe Aktua­li­tät. Leo Strauss konn­te, mit unter­schied­li­cher Plau­si­bi­li­tät, zei­gen, daß die gro­ßen Tex­te poli­ti­scher Phi­lo­so­phie von Pla­ton bis Rous­se­au und Nietz­sche sich die­ses Ver­fah­rens bedien­ten. Und, um ein ganz ande­res Bei­spiel zu evo­zie­ren: in der frü­hen Nach­kriegs­zeit gelang­ten zen­tra­le Moti­ve und Ein­sich­ten von Carl Schmitt als Schmug­gel­wa­re durch den Blick der inno­va­ti­ven For­schun­gen von Rein­hart Koselleck über »Kri­tik und Kri­se«, die Neben­spur der Auf­klä­rung, oder Han­no Kes­t­ing in den zen­tra­len geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Diskurs.

Vor­aus­set­zung für die gelin­gen­de Mimi­kry mag sein, daß der neue Denk­stil indi­rekt, und ohne vor­der­grün­dig poli­ti­sche Impli­ka­ti­on, ein­ge­führt wird. Vor­aus­set­zung ist aber noch viel mehr, daß das lei­ten­de Dis­kurs­pa­ra­dig­ma wei­che Rän­der hat und nicht lücken­los eta­bliert ist. Sol­che Undurch­dring­lich­keit ist heu­te wohl erst­mals flä­chen­de­ckend ins Werk gesetzt: durch die Clus­ter-For­schung der »Exzellenz«-Universitäten und Aka­de­mien, die jed­we­de Gewal­ten­tei­lung ver­mis­sen läßt, qua­si indus­tri­ell orga­ni­siert ist und durch Mei­nungs­kon­trol­le einen »Com­mon sen­se« her­vor­ruft. Hier droht die Gefahr, daß ein vor­der­grün­di­ger Plu­ra­lis­mus, der fak­tisch doch nur immer das­sel­be bie­tet, in aus­ge­tre­te­nen Pfa­den selbst zur Großideo­lo­gie wird, die durch­grei­fen­der wirk­sam ist als jede unter­schei­den­de Großideo­lo­gie es sein könn­te – bringt sie doch allein schon durch die Hams­ter­rad­be­trieb­sam­keit des »Wis­sen­schafts­ge­stells« Grund­fra­gen qua­si magisch zum Ver­schwin­den und in Dele­gi­ti­ma­ti­on. Es fehlt immer offen­sicht­li­cher an Denk­mi­lieus, in denen im Main­stream unlieb­sa­me Den­ker doch einen Wir­kungs­ort fin­den, der auch in die aka­de­mi­sche Öffent­lich­keit hin­ein­strah­len kann. Dies kann zum Abbruch gan­zer Tra­di­ti­ons­li­ni­en füh­ren: etwa einer Phi­lo­so­phie, die die vol­le Instru­men­tie­rung der klas­si­schen Über­lie­fe­rung mit sys­te­ma­ti­schen Fra­gen ver­bin­det oder einer rea­lis­ti­schen Sozio­lo­gie in der Fol­ge der Leip­zi­ger Schu­le (Hans Frey­er, Hel­mut Schelsky, Arnold Geh­len und andere).

Dem­ge­gen­über kann es Anschluß­fä­hig­keit zwi­schen den Nicht-Arri­vier­ten qua Pro­vo­ka­ti­on geben: Man muß nicht nur an den Links-Schmit­tia­nis­mus der sech­zi­ger Jah­re den­ken; auch heu­te legt sich ein Zusam­men­schluß derer nahe, die dem amorph-ein­schlä­fern­den, Rea­li­tät ver­ken­nen­den Main­stream wider­spre­chen – und nicht nur ihm, auch dem gigan­to­ma­nen, Moral zeh­ren­den Glo­bal­öko­no­mis­mus wider­spre­chen, von »rechts« oder von »links«. In Frank­reich und Ita­li­en fin­det man für sol­che Debat­ten leich­ter glaub­haf­te Gesprächs­part­ner als hier­zu­lan­de. In den Ritua­len der selbst­er­nann­ten Sit­ten­wäch­ter- und Gou­ver­nan­ten-Lin­ken in Deutsch­land ist dies kaum zu erwar­ten, und doch: Eins­ti­ge DDR-Dis­si­den­ten lesen sich, abge­schreckt durch die Phra­seo­lo­gien des Waren­hau­ses des »More of the same«, wie­der in die mar­xis­ti­sche Theo­rie­bil­dung ein. Invest­ment-Öko­no­men, die im Kern Speng­le­ria­ner sind, tum­meln sich in Foren mit Sarah Wagen­knecht. Der eige­ne Denk­stil kann so durch die »Leucht­kraft star­ker Gegen­be­grif­fe«, jen­seits von Mode­rie­rung und Media­ti­sie­rung, an unter­schwel­li­ger Schär­fe und damit an Wir­kung gewinnen.

Ob Flecks Stim­mungs­be­griff hin­rei­chend ist, die lei­ten­den Dis­kur­se und Para­dig­men in ihrer aus­schlie­ßen­den Wir­kung wie­der­zu­ge­ben, ist frag­lich. Daß Gen­de­ris­mus, Kon­struk­ti­vis­mus, aber auch die herr­schen­de, hoch­mü­ti­ge ana­ly­ti­sche Phi­lo­so­phie die bes­se­ren Köp­fe nur noch lang­wei­len, ist evi­dent. Daß die Ver­ächt­lich­ma­chung von Tra­di­ti­on, der bes­ser­wis­sen­de Zynis­mus, der mehr oder min­der offen­sicht­lich den heu­te arri­vier­ten Denk­stil kenn­zeich­net, der Tole­ranz für ande­res abhold ist, muß man eben­so im media­len wie im wis­sen­schaft­li­chen Betrieb erler­nen. Man­fred Rie­del etwa hat das immer betont. Ich zie­he dar­aus die Kon­se­quenz, daß es in den gestyl­ten Dis­kur­sen selbst schon ein Spe­zi­fi­kum ist, einen in sich durch­ge­form­ten Denk­stil zu kul­ti­vie­ren: wald­gän­ge­risch, anar­chisch viel­leicht, aber nicht hin­ter­welt­le­risch. Gewiß: Man braucht dazu Ver­bün­de­te, wenn all dies nicht unter den klei­nen Coen­akeln und ihrem unver­meid­li­chen Insi­der­mief ver­damp­fen soll. Daß es an sol­cher ver­läß­li­chen Ver­bün­dung fehlt, ist aller­dings selbst ein geis­ti­ges Pro­blem, des­sen Revi­si­on Kraft und Zeit kos­ten wird. Ein Denk­stil, der dar­auf hin­zielt, kann in der All­ver­füg­bar­keit von Infor­ma­ti­on Authen­ti­zi­tät gewin­nen und damit »Aura«.

Wo die Mimi­kry zum Selbst­ver­lust führt, die Pro­vo­ka­ti­on eher zur Innen­schär­fung, dort hat der Denk­stil nur die Chan­ce, durch sei­ne dia­gnos­ti­sche und pro­gnos­ti­sche Kraft, durch sein Sehen-Las­sen zu fas­zi­nie­ren und in sei­nen Bann zu zie­hen. Gut, wenn eini­ge Kame­ras dabei sind. Unzeit­ge­mä­ßes Den­ken kann, wo es authen­tisch in sei­nem Stil begrün­det ist, fas­zi­nie­ren, und das »More of the same« ist vor sol­chem sex appeal, der dro­hen­de Para­dig­men­wech­sel ankün­di­gen mag, zunächst sprachlos.

Nicht in die Dis­kurs­welt der Ange­paß­ten und Müden, der Kor­rek­ten und Faden pas­sen die jähen Aus­grif­fe ins Abgrün­dig-Numi­no­se der Got­tes­fra­ge, wie sie seit eini­gen Jah­ren so emp­feh­lens­wer­te Den­ker wie Alain Badiou (Die Phi­lo­so­phie und das Ereig­nis, 2012) oder Jean-Luc Mari­on (etwa Das Ero­ti­sche. Ein Phä­no­men, 2011) unter­neh­men. Hier zeigt sich aller­dings ein bemer­kens­wer­ter Neben­ef­fekt: Das lei­ten­de Para­dig­ma muß sich gar nicht ver­än­dern, um sie sich ein­zu­ver­lei­ben. Die Ein­ver­lei­bung und damit der Über­gang in die glei­chen Ritua­le der Clus­te­ri­sie­rung und des gedan­ken­lo­sen Kon­zi­pie­rens und Pro­jek­te­ma­chens ist eine nicht zu unter­schät­zen­de Dimen­si­on der Ent­schär­fung. »Gedan­ken­los« und »gestell­haft« hät­te Heid­eg­ger auch dies genannt. Dem­ge­gen­über ist es auch schon Mani­fes­ta­ti­on eines Denk­stils, wenn man den Kon­greß­wahn­sinn nicht mit­macht, son­dern allei­ne dicke Bret­ter bohrt. Vor­aus­set­zung dafür, über­haupt mehr­heits­fä­hig rezi­piert zu wer­den, ist (wie­der­um in einer Art Met­ami­mi­kry) die mono­the­ma­ti­sche Fest­le­gung des Autors. Wenn er sie durch­bricht, gar in unmit­tel­ba­re (meta-)politische Enga­giert­heit hin­ein, wird er leicht den Boden der »repres­si­ven Tole­ranz« (H. Mar­cu­se) ver­lie­ren. Daß ein Denk­stil, der nicht den linea­ren Fort­schritt, die­ses – nach Wal­ter Ben­ja­min – Aus­lö­schen eines Sturms, der uns vom Para­dies her umweht, also ein dezi­diert kon­ser­va­ti­ver, wirk­sam wird, ist indes­sen eher unwahrscheinlich.

Daher wird die­sem kon­ser­va­ti­ven Den­ken eine Fähig­keit zum Wider­stän­di­gen zukom­men müs­sen. Dies zog immer die Geis­ter an, um die es geht. Wenn sie ver­stan­den haben, sich kumu­lie­ren, in ver­schie­de­nen Insti­tu­tio­nen und Orga­nen wirk­sam wer­den, kann Pro­vo­ka­ti­on und Mimi­kry wie­der sinn­voll wer­den. Ein eige­ner Denk­stil muß aller­dings dar­auf behar­ren, daß er nicht dem Agen­da-Set­ting der Leit­me­di­en hin­ter­her­läuft. Die­se Kurz­at­mig­keit, ver­bun­den mit kurz­fris­ti­gen Geschichts­auf­fas­sun­gen, so als mach­te eine Schwal­be von Ver­än­de­rung den Som­mer, ist selbst in hohem Maße defen­siv – Kehr­sei­te einer Lar­moy­anz, die auf den Geg­ner starrt wie das Kanin­chen auf die Schlange.

Doch wel­chen Denk­stil mei­ne ich? Hier muß ich per­sön­lich und zugleich objek­tiv wer­den. Ihn als »rechts« zu cha­rak­te­ri­sie­ren oder als »kon­ser­va­tiv« scheint mir zu kurz zu grei­fen. Ich ver­ste­he ihn als dezi­diert phi­lo­so­phisch, in dem Sinn, daß er sich mit kei­nem Modell und kei­ner Ant­wort, schon gar nicht mit den vor­ge­stanz­ten Scha­blo­nen zu den Groß­to­poi unse­rer Welt­la­ge, zufrie­den gibt. Phi­lo­so­phie habe eine kon­tro­ver­se Natur, hat Robert Spae­mann ein­mal erklärt, sie habe nicht, wie ande­re Wis­sen­schaf­ten, gele­gent­lich Grund­la­gen­kri­sen, sie sei eine ein­zi­ge Grund­la­gen­kri­se. Und er sah jene Fra­ge­be­we­gung als Garan­tie für den frei­en Dis­put frei­er Men­schen an: für ein logon dido­nai (sich Rechen­schaft geben), das man auch Gewis­sen nen­nen könn­te. Was in ere­mi­ti­schem Rück­zug gedacht wird, hat all-mensch­li­che Bedeu­tung. Hegel sprach vom »sich voll­brin­gen­den Sekpti­zis­mus«, der die ers­ten und letz­ten Grün­de aus­lo­tet und zugleich weiß, daß die­ses Han­deln von den Insti­tu­tio­nen abhängt, die dem objek­ti­ven Geist, also Ethik und Recht, in einer kon­kre­ten geschicht­li­chen Epo­che Mani­fes­ta­ti­on und Ver­kör­pe­rung böten. Hegel hat des­halb fest­ge­hal­ten, daß man nicht über den Schat­ten der eige­nen Zeit sprin­gen kön­ne: »Hic Rho­dus, hic saltus!«

Und wei­ter, in con­cre­to: Ich mei­ne einen Denk­stil der com­ple­xio oppo­si­torum, der die zar­te und zärt­li­che Nähe eines »Pathos der Distanz« (Nietz­sche) kennt, der Phä­no­me­ne von Natur und Kunst auch a- und meta­po­li­tisch wahr­nimmt; zugleich kennt er den gro­ßen Zug in die Trans­zendenz und Schön­heit – inspi­rier­bar von der Dia­pha­nie des Schö­nen auf das Wah­re und Hei­li­ge zwi­schen Pla­ton und Höl­der­lin. Ein sol­cher Denk­stil ist aber auch imstan­de, einen kal­ten unsen­ti­men­ta­len Blick auf die Situa­tio­nen frei­zu­le­gen. Ein sol­ches Den­ken folgt dem Weg höchst­mög­li­cher Sinn­klar­heit, um sich am Ende vor das Begrei­fen eines Unbe­greif­li­chen gestellt zu sehen. Es denkt mit­hin Poli­tik meta­po­li­tisch. Ein Letz­tes ist sie ihm nicht. Der Kanon des Denk­stils, den ich hier inten­die­re, ist nicht ein­deu­tig fest­ge­legt zwi­schen den Bür­ger­kriegs­fron­ten; dies ver­bin­det ihn mit der Jün­ger­schen Gestalt des »Anar­chen«, aber auch mit der Nietz­sche­schen Aus­lo­tung des Äußers­ten: So lern­te er aus den vul­ka­ni­schen Erup­tio­nen des Ernst Bloch, den mes­sia­ni­schen Ver­dun­ke­lun­gen des Wal­ter Ben­ja­min, genau­so wie sei­ne frü­hen Jah­re von Jün­ger und Benn gera­de­zu durch­zit­tert sind. Bun­des­wehr und Hel­mut Kohl waren für die Aus­prä­gung sei­nes Denk­stils allen­falls tertiär.

Doch bei des­sen aka­de­mi­scher Prä­gung ent­wi­ckel­te sich ein Wider­wil­le gegen die bil­li­gen Phra­sen und Phra­seo­lo­gien. Die­ser wohl­be­grün­de­te Affekt stellt sich auch im Blick auf kon­ser­va­ti­ve Stan­dard­rhe­to­rik ein. Hier kön­nen Theo­re­ti­ker wie Geh­len hilf­reich sein. Ein Welt­den­ker aus dem Welt­bür­ger­krieg der Ideo­lo­gien wird mir indes in die­sem Zusam­men­hang immer wesent­li­cher: Jean-Paul Sart­re. Sein exis­ten­ti­el­les Wag­nis, das sich auch im Irr­tum nicht revi­die­ren muß­te, kann für die Lebens­hal­tung eine bestimm­te unhin­ter­geh­ba­re Bedeu­tung gewin­nen. Es gibt auch Erb­schaf­ten, die für ihre eige­nen Gefolgs­leu­te viel zu kost­bar sind.

In eine Lebens­form gebracht, ist er kon­tem­pla­tiv abwä­gend, rück­zie­hend, satur­nisch, in sei­ner Intel­lek­tua­li­tät auch scharf­zün­gig, zupa­ckend, viel­leicht sogar pole­misch und aggres­siv. Im Sinn der äuße­ren Mani­fes­ta­tio­nen: ver­läßt er die ein­stür­zen­den Elfen­bein­tür­me, ohne sich je von ihnen zu ver­ab­schie­den. Er wird bei­zei­ten das Enga­ge­ment in bestimm­ten Insti­tu­tio­nen anneh­men, sich aber nie so an sie bin­den, daß er sei­ne Unab­hän­gig­keit auf­gibt. Er wird, auch wenn die Reprä­sen­ta­ti­on im Nie­mands­land sich abspielt, die Posi­ti­on des Reprä­sen­tan­ten über die des Mär­ty­rers stellen.

Nicht die Tos­ka­na-Frak­tio­nen, die Suche des wild­ge­wor­de­nen Klein­bür­gers nach Lebens­stil, kopie­ren – wohl aber wird er sei­nen Denk­stil so zu leben suchen, als wäre das alt­eu­ro­pä­isch Selbst­ver­ständ­li­che noch selbst­ver­ständ­lich. Er liebt die Gains­bo­roughs und sucht nach der ver­lo­re­nen Zeit, weil er weiß, daß es sehr ernst ist: nicht nur mit Gebur­ten­ra­ten und Ren­ten­an­tei­len, und nicht in vor­der­grün­dig abruf­ba­ren Apo­ka­lyp­sen, son­dern auch mit der Tra­die­rung des The­sau­rus von drei­tau­send Jah­ren, der uns jäh­lings ver­lo­ren­ge­hen kann. Er sagt »ich« und sehr ger­ne, aber auch sehr sel­ten »Du«, und »Wir« oder »Über uns« sagt er mit der Gewiß­heit des Tiers, das ver­spre­chen kann, doch auf Wider­ruf. – Nie­man­den will ich auf die­se com­ple­xio fest­le­gen. Sie ist zugleich eine sehr per­sön­li­che con­fes­sio. Denn nur eine sol­che, wenn sie durch die Säu­re­bä­der der Objek­ti­va­ti­on gegan­gen ist, ist erfolgversprechend.

Die Skiz­ze wäre durch man­che Züge zu ergän­zen. Wie anschluß­fä­hig sie ist? Hin­sicht­lich Mimi­kry und Pro­vo­ka­ti­on bin ich skep­tisch. Doch man darf das Tun­li­che nicht unver­sucht las­sen. Die Ziel­set­zung muß sein, ohne Hoch­mut die­je­ni­gen mit­zu­neh­men, die das KTEMA EIS AEI, den Besitz für immer, nicht preis­ge­ben wollen.

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