Dies steht nicht nur in der Nähe zu dem von Thomas S. Kuhn benannten Paradigmenwechsel und der »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen«, sondern insbesondere auch zu Michel Foucaults Archäologie der Diskursformationen. Solche Diskurse und ihre immanenten Machtdispositive reichen weiter als subjektive Stile: Indem Foucault dies lehrt, nimmt er auch Abschied von bestimmten Emanzipationsträumen. Diskurse binden in unterschiedlichen Disziplinen in einer Zeit Forschung, Darstellung und Reflexion. Damit ist es durchaus gerechtfertigt, auch mit Fleck von dem kollektiven Moment auszugehen, der Stimmung, die so undurchdringlich ist wie bestimmend.
Das herrschende geisteswissenschaftliche Paradigma hat sich längst von dem Anspruch einer eigenständigen Wahrheitssuche verabschiedet und geht auf den ausgetretenen Wegen der Top-Down-Strategien von Gender und Weltemanzipation unbeirrt weiter. Der Mainstream hat längst vergessen, daß er nur eine von vielen Perspektiven ist. Modelle, die sich forschungsstrategisch bis auf weiteres durchgesetzt haben, nehmen, je länger je weniger, Selbstkritik und Selbstüberprüfung auf sich. So entsteht die Verhinderung des vielberufenen Diskurses. Wenn »Sezession« bedeutet, beiseite zu treten, Modelle aufzubrechen und illusionslos auf die Wirklichkeitswahrnehmung zu achten, so hat sie neben anderem die dringende Aufgabe, die leitende Tendenzwissenschaft in die Arena zu fordern.
Unabhängig von Fleck oder Foucault hat Heinrich Rombach in seinen tiefenstrukturellen Analysen auf Epochenparadigmen hingewiesen. Er sieht die europäische Geistes- und Denkgeschichte unter anderem von der Abfolgetrias Substanz-System-Struktur geprägt. Rombach hat darauf hingewiesen, daß das Strukturdenken von manchen Denkern der frühen Neuzeit antizipiert wurde, aber aufgrund seiner vorausspringenden Unzeitgemäßheit nicht verstanden werden konnte. Beispielhaft wären als solche Strukturdenker avant la lettre Cusanus oder Leibniz zu nennen. Wann ein neues Paradigma (platonisch: das Urbild, das nebenher gezeigt wird) greift, bleibt allerdings offen.
Stile, auch dies ist vorab zu bekräftigen, bilden eine Ganzheit, bei aller Pluralität im einzelnen eine morphologische Geschlossenheit und Geformtheit. Zur Crux wird offensichtlich, inwieweit Denkstile einzelner innerhalb der machtvollen kollektiven Dispositive der gängigen Paradigmen sichtbar werden können, und damit ist auch fraglich, wie ihre Anschlußfähigkeit verfaßt ist. Heidegger hat am Beginn seines Denkwegs – wohl wissend, daß er etwas täte, das mit der damals beherrschenden Philosophie der Neukantianer und Phänomenologen nichts mehr gemein hätte – davon gesprochen, man müsse langhin die Sprache der Philosophie der eigenen Zeit sprechen. Diese Mimikry hat er aber implizit schon mit seinen frühen Vorlesungen in Freiburg aufgegeben, und damit einen genuinen, schockierenden Neuaufbruch der Philosophie ausgelöst. Der traf auf einen nicht-arrivierten Denkstil außerhalb der akademischen Welt: vor allem auf die Jugendbewegung und jene Geister in allen politischen Lagern und Konfessionen, die nach dem Ersten Weltkrieg den Ernstfall offenhielten. In der Zwischenkriegszeit, von Dostojewski und Nietzsche inspiriert, brachte er den Expressionismus, das Wissen um das Ende angestammter Aufklärung auch in die Philosophie und Theologie. Karl Barths Römerbrief und Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung sind faszinierende Ausprägungen.
Die Mimikry empfiehlt sich als Taktik der Anschlußfähigkeit immer. Sie hat zu tun mit der Kunst verdeckten Schreibens, die Leo Strauss als Zentrum politischer Philosophie freigelegt hat. Neben der gängigen exoterischen, öffnet sich dann eine esoterische Lesart; denen, die verstehen können, zeigen sich offenbarende Einblicke in ein Gegen-Denken, die Tumben und Allzu-Zeitgemäßen bleiben an der Oberfläche. Man folgt letztlich Graciáns »Rede wie alle, denke wie die wenigen«. Hier weiteres zu sagen, hieße Betriebsgeheimnisse verraten. Nur soviel: Man muß nicht versuchen, mit aller Macht einen Gegendiskurs und Gegenklassiker zu etablieren. Es kann intelligenter sein, neuen Wein in die alten Schläuche der angesagten Autoritäten zu gießen.
Oder Fragestellungen aufzunehmen, die en vogue sind, und ihnen eine verändernde Wendung zu geben. Dies kann mit der Leo Straussschen Kategorie der Kunst verdeckten Schreibens thematisiert werden und erweist dann seine hohe Aktualität. Leo Strauss konnte, mit unterschiedlicher Plausibilität, zeigen, daß die großen Texte politischer Philosophie von Platon bis Rousseau und Nietzsche sich dieses Verfahrens bedienten. Und, um ein ganz anderes Beispiel zu evozieren: in der frühen Nachkriegszeit gelangten zentrale Motive und Einsichten von Carl Schmitt als Schmuggelware durch den Blick der innovativen Forschungen von Reinhart Koselleck über »Kritik und Krise«, die Nebenspur der Aufklärung, oder Hanno Kesting in den zentralen geisteswissenschaftlichen Diskurs.
Voraussetzung für die gelingende Mimikry mag sein, daß der neue Denkstil indirekt, und ohne vordergründig politische Implikation, eingeführt wird. Voraussetzung ist aber noch viel mehr, daß das leitende Diskursparadigma weiche Ränder hat und nicht lückenlos etabliert ist. Solche Undurchdringlichkeit ist heute wohl erstmals flächendeckend ins Werk gesetzt: durch die Cluster-Forschung der »Exzellenz«-Universitäten und Akademien, die jedwede Gewaltenteilung vermissen läßt, quasi industriell organisiert ist und durch Meinungskontrolle einen »Common sense« hervorruft. Hier droht die Gefahr, daß ein vordergründiger Pluralismus, der faktisch doch nur immer dasselbe bietet, in ausgetretenen Pfaden selbst zur Großideologie wird, die durchgreifender wirksam ist als jede unterscheidende Großideologie es sein könnte – bringt sie doch allein schon durch die Hamsterradbetriebsamkeit des »Wissenschaftsgestells« Grundfragen quasi magisch zum Verschwinden und in Delegitimation. Es fehlt immer offensichtlicher an Denkmilieus, in denen im Mainstream unliebsame Denker doch einen Wirkungsort finden, der auch in die akademische Öffentlichkeit hineinstrahlen kann. Dies kann zum Abbruch ganzer Traditionslinien führen: etwa einer Philosophie, die die volle Instrumentierung der klassischen Überlieferung mit systematischen Fragen verbindet oder einer realistischen Soziologie in der Folge der Leipziger Schule (Hans Freyer, Helmut Schelsky, Arnold Gehlen und andere).
Demgegenüber kann es Anschlußfähigkeit zwischen den Nicht-Arrivierten qua Provokation geben: Man muß nicht nur an den Links-Schmittianismus der sechziger Jahre denken; auch heute legt sich ein Zusammenschluß derer nahe, die dem amorph-einschläfernden, Realität verkennenden Mainstream widersprechen – und nicht nur ihm, auch dem gigantomanen, Moral zehrenden Globalökonomismus widersprechen, von »rechts« oder von »links«. In Frankreich und Italien findet man für solche Debatten leichter glaubhafte Gesprächspartner als hierzulande. In den Ritualen der selbsternannten Sittenwächter- und Gouvernanten-Linken in Deutschland ist dies kaum zu erwarten, und doch: Einstige DDR-Dissidenten lesen sich, abgeschreckt durch die Phraseologien des Warenhauses des »More of the same«, wieder in die marxistische Theoriebildung ein. Investment-Ökonomen, die im Kern Spenglerianer sind, tummeln sich in Foren mit Sarah Wagenknecht. Der eigene Denkstil kann so durch die »Leuchtkraft starker Gegenbegriffe«, jenseits von Moderierung und Mediatisierung, an unterschwelliger Schärfe und damit an Wirkung gewinnen.
Ob Flecks Stimmungsbegriff hinreichend ist, die leitenden Diskurse und Paradigmen in ihrer ausschließenden Wirkung wiederzugeben, ist fraglich. Daß Genderismus, Konstruktivismus, aber auch die herrschende, hochmütige analytische Philosophie die besseren Köpfe nur noch langweilen, ist evident. Daß die Verächtlichmachung von Tradition, der besserwissende Zynismus, der mehr oder minder offensichtlich den heute arrivierten Denkstil kennzeichnet, der Toleranz für anderes abhold ist, muß man ebenso im medialen wie im wissenschaftlichen Betrieb erlernen. Manfred Riedel etwa hat das immer betont. Ich ziehe daraus die Konsequenz, daß es in den gestylten Diskursen selbst schon ein Spezifikum ist, einen in sich durchgeformten Denkstil zu kultivieren: waldgängerisch, anarchisch vielleicht, aber nicht hinterweltlerisch. Gewiß: Man braucht dazu Verbündete, wenn all dies nicht unter den kleinen Coenakeln und ihrem unvermeidlichen Insidermief verdampfen soll. Daß es an solcher verläßlichen Verbündung fehlt, ist allerdings selbst ein geistiges Problem, dessen Revision Kraft und Zeit kosten wird. Ein Denkstil, der darauf hinzielt, kann in der Allverfügbarkeit von Information Authentizität gewinnen und damit »Aura«.
Wo die Mimikry zum Selbstverlust führt, die Provokation eher zur Innenschärfung, dort hat der Denkstil nur die Chance, durch seine diagnostische und prognostische Kraft, durch sein Sehen-Lassen zu faszinieren und in seinen Bann zu ziehen. Gut, wenn einige Kameras dabei sind. Unzeitgemäßes Denken kann, wo es authentisch in seinem Stil begründet ist, faszinieren, und das »More of the same« ist vor solchem sex appeal, der drohende Paradigmenwechsel ankündigen mag, zunächst sprachlos.
Nicht in die Diskurswelt der Angepaßten und Müden, der Korrekten und Faden passen die jähen Ausgriffe ins Abgründig-Numinose der Gottesfrage, wie sie seit einigen Jahren so empfehlenswerte Denker wie Alain Badiou (Die Philosophie und das Ereignis, 2012) oder Jean-Luc Marion (etwa Das Erotische. Ein Phänomen, 2011) unternehmen. Hier zeigt sich allerdings ein bemerkenswerter Nebeneffekt: Das leitende Paradigma muß sich gar nicht verändern, um sie sich einzuverleiben. Die Einverleibung und damit der Übergang in die gleichen Rituale der Clusterisierung und des gedankenlosen Konzipierens und Projektemachens ist eine nicht zu unterschätzende Dimension der Entschärfung. »Gedankenlos« und »gestellhaft« hätte Heidegger auch dies genannt. Demgegenüber ist es auch schon Manifestation eines Denkstils, wenn man den Kongreßwahnsinn nicht mitmacht, sondern alleine dicke Bretter bohrt. Voraussetzung dafür, überhaupt mehrheitsfähig rezipiert zu werden, ist (wiederum in einer Art Metamimikry) die monothematische Festlegung des Autors. Wenn er sie durchbricht, gar in unmittelbare (meta-)politische Engagiertheit hinein, wird er leicht den Boden der »repressiven Toleranz« (H. Marcuse) verlieren. Daß ein Denkstil, der nicht den linearen Fortschritt, dieses – nach Walter Benjamin – Auslöschen eines Sturms, der uns vom Paradies her umweht, also ein dezidiert konservativer, wirksam wird, ist indessen eher unwahrscheinlich.
Daher wird diesem konservativen Denken eine Fähigkeit zum Widerständigen zukommen müssen. Dies zog immer die Geister an, um die es geht. Wenn sie verstanden haben, sich kumulieren, in verschiedenen Institutionen und Organen wirksam werden, kann Provokation und Mimikry wieder sinnvoll werden. Ein eigener Denkstil muß allerdings darauf beharren, daß er nicht dem Agenda-Setting der Leitmedien hinterherläuft. Diese Kurzatmigkeit, verbunden mit kurzfristigen Geschichtsauffassungen, so als machte eine Schwalbe von Veränderung den Sommer, ist selbst in hohem Maße defensiv – Kehrseite einer Larmoyanz, die auf den Gegner starrt wie das Kaninchen auf die Schlange.
Doch welchen Denkstil meine ich? Hier muß ich persönlich und zugleich objektiv werden. Ihn als »rechts« zu charakterisieren oder als »konservativ« scheint mir zu kurz zu greifen. Ich verstehe ihn als dezidiert philosophisch, in dem Sinn, daß er sich mit keinem Modell und keiner Antwort, schon gar nicht mit den vorgestanzten Schablonen zu den Großtopoi unserer Weltlage, zufrieden gibt. Philosophie habe eine kontroverse Natur, hat Robert Spaemann einmal erklärt, sie habe nicht, wie andere Wissenschaften, gelegentlich Grundlagenkrisen, sie sei eine einzige Grundlagenkrise. Und er sah jene Fragebewegung als Garantie für den freien Disput freier Menschen an: für ein logon didonai (sich Rechenschaft geben), das man auch Gewissen nennen könnte. Was in eremitischem Rückzug gedacht wird, hat all-menschliche Bedeutung. Hegel sprach vom »sich vollbringenden Sekptizismus«, der die ersten und letzten Gründe auslotet und zugleich weiß, daß dieses Handeln von den Institutionen abhängt, die dem objektiven Geist, also Ethik und Recht, in einer konkreten geschichtlichen Epoche Manifestation und Verkörperung böten. Hegel hat deshalb festgehalten, daß man nicht über den Schatten der eigenen Zeit springen könne: »Hic Rhodus, hic saltus!«
Und weiter, in concreto: Ich meine einen Denkstil der complexio oppositorum, der die zarte und zärtliche Nähe eines »Pathos der Distanz« (Nietzsche) kennt, der Phänomene von Natur und Kunst auch a- und metapolitisch wahrnimmt; zugleich kennt er den großen Zug in die Transzendenz und Schönheit – inspirierbar von der Diaphanie des Schönen auf das Wahre und Heilige zwischen Platon und Hölderlin. Ein solcher Denkstil ist aber auch imstande, einen kalten unsentimentalen Blick auf die Situationen freizulegen. Ein solches Denken folgt dem Weg höchstmöglicher Sinnklarheit, um sich am Ende vor das Begreifen eines Unbegreiflichen gestellt zu sehen. Es denkt mithin Politik metapolitisch. Ein Letztes ist sie ihm nicht. Der Kanon des Denkstils, den ich hier intendiere, ist nicht eindeutig festgelegt zwischen den Bürgerkriegsfronten; dies verbindet ihn mit der Jüngerschen Gestalt des »Anarchen«, aber auch mit der Nietzscheschen Auslotung des Äußersten: So lernte er aus den vulkanischen Eruptionen des Ernst Bloch, den messianischen Verdunkelungen des Walter Benjamin, genauso wie seine frühen Jahre von Jünger und Benn geradezu durchzittert sind. Bundeswehr und Helmut Kohl waren für die Ausprägung seines Denkstils allenfalls tertiär.
Doch bei dessen akademischer Prägung entwickelte sich ein Widerwille gegen die billigen Phrasen und Phraseologien. Dieser wohlbegründete Affekt stellt sich auch im Blick auf konservative Standardrhetorik ein. Hier können Theoretiker wie Gehlen hilfreich sein. Ein Weltdenker aus dem Weltbürgerkrieg der Ideologien wird mir indes in diesem Zusammenhang immer wesentlicher: Jean-Paul Sartre. Sein existentielles Wagnis, das sich auch im Irrtum nicht revidieren mußte, kann für die Lebenshaltung eine bestimmte unhintergehbare Bedeutung gewinnen. Es gibt auch Erbschaften, die für ihre eigenen Gefolgsleute viel zu kostbar sind.
In eine Lebensform gebracht, ist er kontemplativ abwägend, rückziehend, saturnisch, in seiner Intellektualität auch scharfzüngig, zupackend, vielleicht sogar polemisch und aggressiv. Im Sinn der äußeren Manifestationen: verläßt er die einstürzenden Elfenbeintürme, ohne sich je von ihnen zu verabschieden. Er wird beizeiten das Engagement in bestimmten Institutionen annehmen, sich aber nie so an sie binden, daß er seine Unabhängigkeit aufgibt. Er wird, auch wenn die Repräsentation im Niemandsland sich abspielt, die Position des Repräsentanten über die des Märtyrers stellen.
Nicht die Toskana-Fraktionen, die Suche des wildgewordenen Kleinbürgers nach Lebensstil, kopieren – wohl aber wird er seinen Denkstil so zu leben suchen, als wäre das alteuropäisch Selbstverständliche noch selbstverständlich. Er liebt die Gainsboroughs und sucht nach der verlorenen Zeit, weil er weiß, daß es sehr ernst ist: nicht nur mit Geburtenraten und Rentenanteilen, und nicht in vordergründig abrufbaren Apokalypsen, sondern auch mit der Tradierung des Thesaurus von dreitausend Jahren, der uns jählings verlorengehen kann. Er sagt »ich« und sehr gerne, aber auch sehr selten »Du«, und »Wir« oder »Über uns« sagt er mit der Gewißheit des Tiers, das versprechen kann, doch auf Widerruf. – Niemanden will ich auf diese complexio festlegen. Sie ist zugleich eine sehr persönliche confessio. Denn nur eine solche, wenn sie durch die Säurebäder der Objektivation gegangen ist, ist erfolgversprechend.
Die Skizze wäre durch manche Züge zu ergänzen. Wie anschlußfähig sie ist? Hinsichtlich Mimikry und Provokation bin ich skeptisch. Doch man darf das Tunliche nicht unversucht lassen. Die Zielsetzung muß sein, ohne Hochmut diejenigen mitzunehmen, die das KTEMA EIS AEI, den Besitz für immer, nicht preisgeben wollen.