Generation Österreich

52pdf der Druckfassung aus Sezession 52 / Februar 2013

Eines Nachmittags im Jahre 1953 rief mein Großvater, der Direktor einer Volksschule in der niederösterreichischen Provinz, meine damals achtjährige Mutter zu sich, um ihr voll freudiger Erregung eine Neuerwerbung zu zeigen: ein großformatiges Buch in rotem Leinen mit Goldprägung, 300 Seiten stark, auf hochwertigem Papier gedruckt. »In diesem Buch steht drinnen, wie nun alles besser wird für uns!«

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Man befand sich mit­ten in der Auf­bau­pha­se der Nach­kriegs­zeit, noch fern vom Wohl­stand spä­te­rer Jah­re: Weih­nach­ten zuvor hat­te mei­ne Mut­ter als beson­de­re Kost­bar­keit eine Fla­sche Apfel­saft geschenkt bekom­men. Der Pracht­band trug den Titel Öster­reich – schöp­fe­risch – schaf­fend – fei­ernd, her­aus­ge­ge­ben vom Öster­rei­chi­schen Gewerk­schafts­bund. Oft schon sei­en Öster­reichs »land­schaft­li­che Schön­heit, sei­ne Geschich­te und sei­ne Kunst­schät­ze« gerühmt wor­den, heißt es dar­in, die­ses Buch aber »macht uns mit der täg­li­chen Arbeit der Men­schen bekannt, die mit der Kraft ihres Geis­tes und dem Fleiß ihrer Hän­de die­ses Land aus den Trüm­mern eines uner­hör­ten Zusam­men­bruchs zu neu­em Leben führ­ten. Mit einem wei­ten Blick, der ganz Öster­reich vom Schilfs­chnei­der des Neu­sied­ler Sees bis zur Sti­cke­rei im Bre­gen­zer Wald und von den Bandl­we­bern des Wald­vier­tels bis zum Kärnt­ner Blei­berg­werk umfaßt, run­det sich die­ses Buch zu einer gro­ßen Sym­pho­nie des Schaffens.«

Jedem Metier ist eine Dop­pel­sei­te mit gro­ßem Schwarz­weiß­pho­to gewid­met, als Appell an das gan­ze Volk, quer durch alle Schich­ten und Klas­sen. Das Pan­ora­ma umfaßt: Män­ner im schwar­zen Talar und in wei­ßen Kit­teln, vor Reagenz­glä­sern, Welt­raum­te­le­sko­pen und Ope­ra­ti­ons­ti­schen; dem­ge­gen­über Berg­bau­ern mit Sen­se und Pflug, Sämän­ner mit Saat­beu­tel, hän­disch mel­ken­de Bäue­rin­nen; Bild­hau­er im Ate­lier, Arbei­ter an Hoch­öfen, Kum­pel im Koh­le­berg­werk, Post­bo­ten, Torf­ste­cher, Restau­ra­to­ren auf dem Turm des Ste­phans­doms. Schnei­der mit Zwirn und Faden, Bäcker mit mus­ku­lö­sen Armen, die das täg­lich Brot in den Ofen schie­ben. Jäger mit Gams­bart am Hut, Schau­spie­ler auf der Büh­ne, Geist­li­che vor dem Altar. Kell­ner, Kran­ken­schwes­tern und Korbflechter.

Flei­ßi­ge Haus­frau­en, die dem von der Arbeit müden Mann das Abend­brot ser­vie­ren. Text: Ehret die Frau­en! Dazu die Tätig­kei­ten der Frei­zeit, über­wie­gend kör­per­lich und im Frei­en: Baden, Wan­dern, Volks­tan­zen, Schi­fah­ren, Berg­stei­gen. Noch fehlt der erst 1955 hin­zu­kom­men­de Sol­dat, der gelobt, »mit allen mei­nen Kräf­ten der Repu­blik Öster­reich und dem öster­rei­chi­schen Vol­ke zu die­nen.« Poli­tisch wird betont, daß die öster­rei­chi­sche Nati­on fest ein­ge­bet­tet in eine neue Welt­ord­nung sei, als deren glor­rei­che Mei­len­stei­ne der Völ­ker­bund und die Atlan­tik­char­ta genannt wer­den: »Eine Gemein­schaft aller Völ­ker der Erde, … das ist das gro­ße Ziel, dem die fort­schritt­li­che Welt zustrebt.«

Das ein­zi­ge Farb­bild des Buches zeigt den dama­li­gen Bun­des­prä­si­den­ten Theo­dor Kör­ner, gebo­ren 1873 im unga­ri­schen Újs­zo­ny, eine exem­pla­ri­sche Figur der alten, aske­tisch aus­ge­rich­te­ten Sozi­al­de­mo­kra­tie. Sei­ne aus dem Böh­mi­schen stam­men­de Fami­lie wur­de wie die Trot­tas des Joseph Roth in der Spät­zeit der Mon­ar­chie in den Adels­stand erho­ben, und wie die­se war auch Kör­ner einer der letz­ten »Spar­ta­ner Öster­reichs«. Der hoch­de­ko­rier­te Offi­zier des Ers­ten Welt­kriegs blieb sein Leben lang unver­hei­ra­tet, und ver­zich­te­te selbst im Win­ter auf Man­tel und Hut. Kör­ner sitzt mit wür­di­ger Kör­per­hal­tung an sei­nem Schreib­tisch in der Hof­burg, mit gezück­tem Fül­ler, den Betrach­ter streng und ernst anbli­ckend. Nicht ein­mal der Anflug eines Lächelns umspielt sei­ne Lip­pen. Welch ein Kon­trast zu den heu­ti­gen Poli­ti­ker­ge­sich­tern mit ihrem wei­chen Vertretergrinsen!

Pathos die­ser Art gehör­te in der Nach­kriegs­zeit zwangs­läu­fig zum Habi­tus des Staats­man­nes, klas­sisch aus­ge­drückt in der legen­dä­ren Weih­nachts­an­spra­che Leo­pold Figls im Win­ter 1945: »Ich kann euch zu Weih­nach­ten nichts geben, kein Stück Brot, kei­ne Koh­le zum Hei­zen, kein Glas zum Ein­schnei­den. Wir haben nichts. Ich kann euch nur bit­ten: Glaubt an die­ses Öster­reich.« Die dem Pho­to gegen­über­lie­gen­de Sei­te zeigt ein Fak­si­mi­le von Kör­ners Geleit­wort, in Kurr­ent­schrift und im zeit­üb­li­chen, etwas schwüls­ti­gen Ton­fall – die Schrift kann heu­te nie­mand mehr lesen, den Ton kei­ner mehr hören, ohne zu lachen. An einer unschein­ba­ren Stel­le schleicht sich ein Satz ein, der die opti­mis­ti­schen Glo­ri­fi­zie­run­gen des Buches lei­se in Fra­ge zu stel­len scheint. Kör­ner befand, daß die Wür­di­gung der »Fei­er­stun­de umso not­wen­di­ger« sei, »als doch die Ent­wick­lung der Pro­duk­ti­ons­be­din­gun­gen es mit sich gebracht hat, daß der Arbeits­tag bei vie­len das Gefühl ech­ter Schaf­fens­freu­de nicht mehr auf­kom­men läßt.«

Noch drei­ßig Jah­re spä­ter habe ich in der Schu­le ein ähn­li­ches Bild von Öster­reich und der Bedeu­tung der Arbeits­welt ver­mit­telt bekom­men. Dies präg­te mei­nen Begriff davon, was ein »Beruf« ist und wie er sich in ein Gan­zes fügt und aus die­sem Gan­zen her­aus sei­nen Sinn bekommt. (Als ich Mit­te der neun­zi­ger Jah­re zur Matu­ra antrat, fand ich mich in einer Welt von »Jobs« wie­der.) Am 26. Okto­ber 1983, dem öster­rei­chi­schen Natio­nal­fei­er­tag, schrieb ich in Schön­schrift in mein Schul­heft: »Wir sind frei. Vie­le Län­der hat die Erde, sind gar groß und schön und reich, doch nur eins ist mei­ne Hei­mat, und das ist mein Öster­reich.« Ein Jahr spä­ter, der­sel­be Gedan­ke, etwas ela­bo­rier­ter: »Sie sagen, mein Land sei klein, woan­ders wäre mehr Son­nen­schein. Das kann schon so sein. Aber das hier ist mein. Und hier ist alles, was ich hab: Vater, Mut­ter, ein Freund und ein Grab. Zieht ihr nur in die Welt hin­aus, ich bin in Öster­reich zuhaus.« Ähn­lich naiv-affir­ma­tiv fiel die Ver­mitt­lung der katho­li­schen Glau­bens­ar­ti­kel im Reli­gi­ons­un­ter­richt aus. Die­sen Ur-Erzäh­lun­gen brach­te ich mein gan­zes kind­li­ches Ver­trau­en ent­ge­gen. Ich bin ihnen bis heu­te treu geblie­ben. Alle mei­ne poli­ti­schen Par­tei­nah­men spei­sen sich im Grun­de aus dem nicht zu befrie­den­den Zorn dar­über, daß sie schmäh­lich ver­ra­ten wor­den sind, und daß die­ser Ver­rat heu­te zur Räson eines kor­rup­ten Staa­tes gewor­den ist.

Den ers­ten gro­ßen Knacks in mei­nem nai­ven Bild erhielt ich um 1988, als der 50. Jah­res­tag des »Anschlus­ses« auf allen Kanä­len »bewäl­tigt« wur­de. Ein Buch über das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Maut­hau­sen berei­te­te mir einen tief­sit­zen­den Schock. Im sel­ben Jahr war Tho­mas Bern­hards Stück Hel­den­platz in aller Mun­de. Die­sel­ben Affek­te, die den inter­na­tio­na­len Angriff auf den angeb­lich NS-vor­be­las­te­ten Bun­des­prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten Kurt Wald­heim in ein trot­zi­ges »Jetzt erst recht!« umge­münzt und ihm damit zum Wahl­sieg ver­hol­fen hat­ten, rich­te­ten sich nun gegen Bern­hards gna­den­lo­se Abre­chung. Spit­zen­po­li­ti­ker von Bru­no Krei­sky abwärts reih­ten sich in den Chor der Geg­ner, ange­führt vom kon­ser­va­ti­ven Kat­echon unter den Medi­en, dem Bou­le­vard-Blatt Kro­nen-Zei­tung. Aber der Damm war gebro­chen, und im fol­gen­den Jahr­zehnt wur­de eif­rig nach­ge­holt, was man bis­her an »Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung« ver­säumt hat­te. War das Land, das einen Jörg Hai­der oder den rechts­extre­men Atten­tä­ter Franz Fuchs her­vor­ge­bracht hat­te, nicht immer schon ein furcht­ba­rer Sumpf gewe­sen? War der Men­schen­schlag, der in ihm leb­te, nicht immer schon so häß­lich, per­vers, ver­lo­gen, bös­ar­tig und dumpf wie in den Car­toons von Man­fred Deix, des­sen rot­glän­zen­de Visa­gen man in der Tat an jeder Stra­ßen­ecke wie­der­fin­den konn­te? Hat­ten nicht schon Ödön von Hor­vath, Eli­as Canet­ti und Hel­mut Qual­tin­ger lan­ge vor Tho­mas Bern­hard, Elfrie­de Jeli­nek oder Ulrich Seidl ähn­li­che Abgrün­de erblickt?

1984 hielt der Psych­ia­ter Erwin Rin­gel eine »neue Rede über Öster­reich«, in der die berühm­te »alte« aus der Feder von Anton Wild­gans aus dem Jahr 1929 gründ­lich ent­zau­bert wer­den soll­te. Was die­ser über den »öster­rei­chi­schen Men­schen« gesagt habe, sei zwar schmei­chel­haft, aber lei­der über­haupt nicht wahr; viel­mehr sei das Land eine »Brut­stät­te der Neu­ro­se« und der »Ver­drän­gung«, der Gefühls­ver­ar­mung und der Sui­zid­ra­ten: »Der Öster­rei­cher hat eine Zwei­zim­mer­woh­nung. Das eine Zim­mer ist hell, freund­lich, die ›schö­ne Stu­be‹, gut ein­ge­rich­tet, dort emp­fängt er die Gäs­te. Das ande­re Zim­mer ist abge­dun­kelt, fins­ter, ver­rie­gelt, unzu­gäng­lich, völ­lig unergründlich.«

Wild­gans’ Rede soll­te ursprüng­lich in Stock­holm gehal­ten wer­den; mit­hin habe er vor­ran­gig dem Aus­land das »hel­le Zim­mer« prä­sen­tie­ren wol­len. Sie ent­stand zu einer Zeit, als das Land nicht anders als nach 1945 in einer Iden­ti­täts­kri­se steck­te, und sich am Vor­abend von Bür­ger­krieg, Dik­ta­tur und poli­ti­scher Auf­lö­sung befand. Man kann sie auch als den Ver­such lesen, ein neu­es, ermu­ti­gen­des Selbst­bild zu schaf­fen, für das Wild­gans ver­füh­re­risch glit­zern­de Wor­te fand.

Etwa zur glei­chen Zeit erschien ein in der Stoß­rich­tung sehr ähn­li­ches Buch, das heu­te ver­ges­sen, zugleich aber das viel­leicht schöns­te ist, das jemals über Öster­reich geschrie­ben wur­de: Hanns Sass­manns Das Reich der Träu­mer. Auch die­ses Werk war ein groß­an­ge­leg­ter Ver­such der Selbst­be­sin­nung und ‑ver­ge­wis­se­rung, zugleich der Ent­wurf eines kon­ser­va­ti­ven Men­schen­ty­pus, den der Autor am klars­ten aus­ge­prägt im »klei­nen deut­schen Volks­stamm der Öster­rei­cher« und sei­ner »eigen­ar­ti­gen, beharr­lich ver­tei­dig­ten Daseins­form« ver­wirk­licht sah. Sass­mann, Freund und Geis­tes­ver­wand­ter des gro­ßen Egon Frie­dell, ließ sei­ne »Kul­tur­ge­schich­te vom Urzu­stand bis zur Repu­blik« in grau­er Vor­zeit begin­nen, im zukunfts­schwan­ge­ren Nebel der Völ­ker­wan­de­rung, des­sen Strö­me und »Blut­kreu­zun­gen« schließ­lich jenen Typus her­vor­brach­ten, der im »öster­rei­chi­schen Hoch­ba­ro­cke« voll­endet wur­de: »Er besaß nun sein für immer gül­ti­ges Gesicht, das mit aller Ver­wand­lungs­fä­hig­keit begabt, doch nie mehr sei­nen Grund­zug verlor.«

Was dem Nord­deut­schen als »Schlapp­heit und Fri­vo­li­tät« erschei­ne, sei in Wirk­lich­keit Aus­druck der »Lebens­form und Welt­an­schau­ung des wah­ren, des goti­schen Chris­ten«: »Wie der Künst­ler sein Werk, so genießt der Öster­rei­cher das Leben; in beklem­men­der Angst, es kön­ne ihm ent­glei­ten, denn er weiß, es ist nur ein Traum, ein Wahn; er genießt es in anmu­ti­ger Ver­schwen­dung, denn er weiß, es ist nur ein Spiel. Wir haben den See­len­zu­stand des baro­cken Men­schen als den des unheil­ba­ren Skep­ti­kers defi­niert, dem nichts gewiß erscheint, am wenigs­ten er selbst, und der das Pro­blem, inmit­ten einer Welt zu ste­hen, in der sich die Din­ge unauf­hör­lich selbst wider­le­gen, dadurch löst, daß er die­se Welt nicht ernst nimmt. Und das allein ist die tiefs­te Wur­zel alles Phleg­mas, Leicht­sinns, aller Schlam­pe­rei, Träg­heit, Wan­kel­mü­tig­keit, Tra­di­ti­ons­treue und Wirk­lich­keits­flucht des Öster­rei­chers.« Und in dem Maße, in dem er die Din­ge nicht ernst neh­me, wür­den die­se ihre »Unver­ständ­lich­keit und Uner­träg­lich­keit« ver­lie­ren. All dies mache aus dem Öster­rei­cher, in genau­em Gegen­satz zu Erwin Rin­gels Auf­fas­sung, den »psy­chisch gesun­des­ten Men­schen Euro­pas«, und sein Land zum kon­ser­va­ti­ven Fels, an dem bis dato noch jede jako­bi­ni­sche Wel­le wie auch alle Osma­nen-Anstür­me zer­schellt sei­en: »Die­se Welt­auf­fas­sung gibt dem Öster­rei­cher sei­ne uner­schüt­ter­li­che Ruhe, sei­ne Gleich­gül­tig­keit gegen alle Ver­än­de­rung der Din­ge, die ihn befä­higt, das Objekt jedes noch so aben­teu­er­li­chen poli­ti­schen Expe­ri­ments zu sein, ohne daß je ein sol­ches an ihm gelingt.«

Seit Sass­mann die­se Sät­ze schrieb, sind vie­le Erin­ne­rungs­bän­der zu dem Öster­reich der Gotik, des Barock und der Habs­bur­ger zer­ris­sen, auch jene, die das Land in einen gera­de­zu pan-euro­päi­schen kul­tu­rel­len Bogen ein­spann­ten, der sich von Gali­zi­en bis Sizi­li­en erstreck­te. Geblie­ben ist der Kalau­er von der Lage, die »hoff­nungs­los, aber nicht ernst« sei, und das beson­ders in Deutsch­land ver­brei­te­te Image von einem im Kern eher rechts­las­ti­gen Land. Die Pro­pa­gan­dis­ten des Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus träu­men heu­te wie­der von erneu­ten, beschleu­nig­ten Völ­ker­wan­de­run­gen und Ras­sen­mi­schun­gen: So zier­te im Herbst 2012 ein Pla­kat die Wie­ner Innen­stadt, das eine fik­ti­ve künf­ti­ge Bun­des­kanz­le­rin zeig­te: »Chio­ma Brü­cken­bau­er«, eine milch­kaf­fee­brau­ne, mer­kel­haft-tan­ti­ge Far­bi­ge in tra­di­tio­nel­ler afri­ka­ni­scher Kluft. Slo­gan: »Mut zum Wan­del«, von den Machern der Kam­pa­gne von der »Afri­ka Ver­net­zungs­platt­form« (AVP) so begrün­det: »Wir« als »öster­rei­chi­sche Gesell­schaft« müßt »aner­ken­nen, daß der Öster­rei­cher und die Öster­rei­che­rin heu­te auch afri­ka­ni­sche, asia­ti­sche oder auch ame­ri­ka­ni­sche Wur­zeln haben kann. Wir wer­den akzep­tie­ren müs­sen, daß die Welt sich dreht. Heu­te schnel­ler als ges­tern und nur der, der das früh annimmt, kann spä­ter davon profitieren.«

Ende Dezem­ber 2012 bis Jän­ner 2013 zeig­te der ORF eine vier­tei­li­ge Doku­men­tar­se­rie mit dem Unter­ti­tel »Wie wir wur­den. Was wir sind«, die die Natio­nal­ge­schich­te der zwei­ten Repu­blik anhand der kol­lek­ti­ven Erin­ne­run­gen und emo­tio­na­li­sie­ren­den Höhe­punk­te auf­zu­fä­deln ver­such­te: vom Staats­ver­trags­ab­schluß bis zum bis­her letz­ten gro­ßen Ereig­nis, dem Unfall­tod Hai­ders. Mit­samt dem dazu­ge­hö­ri­gen Buch for­mu­lie­ren die Autoren jedoch unter­schwel­lig auch ein Ende und einen Abschied: Denn als die titel­ge­ben­de »Gene­ra­ti­on Öster­reich« wird eben jene iden­ti­fi­ziert, die der von mei­nem Groß­va­ter so enthu­si­as­tisch begrüß­te Bild­band anspre­chen soll­te, und deren offen­bar letz­te Aus­strah­lun­gen sich bis in mei­ne Schul­zeit erstreck­ten. Mit die­ser Strahl­kraft sei aber nun bald end­gül­tig Schluß. In einem Arti­kel in der Pres­se schrieb die Co-Autorin Bir­git Mos­ser-Schu­ö­ker ein merk­wür­di­ges Epi­taph: »Die ›Gene­ra­ti­on Öster­reich‹ ent­stand aus dem Zwei­ten Welt­krieg aus dem Erleb­nis von Dik­ta­tur, Gewalt und Krieg mit dem fes­ten Vor­satz: ›Nie wie­der.‹ Das Ent­ste­hen einer kol­lek­ti­ven Erin­ne­rung formt die ›Gene­ra­ti­on Öster­reich‹, die längst aus meh­re­ren (Alters-)Generationen besteht. Men­schen, für die ›Öster­reich‹ ein Wert an sich war und ist. Es ist nicht nur die ers­te ›Gene­ra­ti­on Öster­reich‹, son­dern ver­mut­lich auch die letz­te. Ihre Kin­der wür­den sich viel­leicht eher als ›Gene­ra­ti­on Euro­pa‹ defi­nie­ren, deren Kin­der womög­lich als ›Gene­ra­ti­on World Wide Web‹.«

Der Weg füh­re also unwei­ger­lich über die All-Gemein­heit »Euro­pa« ins Ort­lo­se des Inter­nets. Haben die Öster­rei­cher nun, Sass­mann zum Wider­spruch, doch ihr »immer gül­ti­ges Gesicht«, ihren »Grund­zug« ver­lo­ren? Die Autorin wei­ter: »Die Öster­rei­cher füh­len sich im drit­ten Jahr­tau­send als eigen­stän­di­ge Nati­on, oder sie wis­sen gar nicht mehr, was eine Nati­on ist. Wir haben heu­te ande­re Pro­ble­me, ande­re Sor­gen. Fast ein Vier­tel der Bevöl­ke­rung ist erst in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten ein­ge­wan­dert. Sie sind die neu­en Öster­rei­cher, sie stel­len neue Fra­gen, sie stel­len die Gesell­schaft vor neue Pro­ble­me, bie­ten aber auch neue Chan­cen.« Wel­che Stoß­rich­tung die­se »Fra­gen« der »neu­en Öster­rei­cher« haben, kann man aus den oben zitier­ten State­ments der AVP ersehen.

Mit die­sen euphe­mi­sie­ren­den Wor­ten ist nichts ande­res als jener Vor­gang ange­spro­chen, den Andre­as Möl­zer einst zur lan­des­wei­ten Empö­rung als »Umvol­kung« bezeich­ne­te. Der pene­trant fal­sche Zun­gen­schlag die­ser Sät­ze mit sei­ner »Gesell­schaft« und ihren angeb­li­chen »Chan­cen« ver­rät nur zu deut­lich, daß die besag­ten »Pro­ble­me« eben haar­ge­nau dort lie­gen, wo die Autorin sie nicht sehen will: Denn hier, in der Iden­ti­täts­fra­ge, liegt der Kern der repu­bli­ka­ni­schen und demo­kra­ti­schen Wider­stands­kraft und Selbst­be­stim­mung. Im Brö­ckeln der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit »Öster­reich als Wert an sich« drückt sich nicht nur die typi­sche Erschlaf­fung aus, die zu lan­gen Peri­oden des Wohl­stands auf dem Fuße folgt. Sie ist vor allem Zei­chen einer all­ge­mei­nen Seins- und Geschichts­ver­ges­sen­heit, die auch die öster­rei­chi­sche Nati­on zur leich­ten Beu­te derer macht, die an der Abschaf­fung und Aus­lö­schung aller Natio­nen und Völ­ker inter­es­siert sind.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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