Die öffentliche Würdigung für Ernst Nolte an seinem 90. Geburtstag am 11. Januar fiel minimal aus. Das war zu erwarten. Der Grund für die Ignoranz ist ein politischer.
In seinem letzten Werk, den Späten Reflexionen, hat Nolte ihn benannt: Die Bundesrepublik, schreibt er, lebe »intellektuell in einer ›Normalität der Lüge‹«. Das ändere nichts an ihrem guten Gewissen, weil sie auf dem »Kampf gegen eine andere Lüge, nämlich die nationalistische Mythologie des Nationalsozialismus, gegründet zu sein scheint«. Folglich hebt, wer die Teilwahrheiten aus der NS-Lüge herauspräpariert, die falsche Normalität aus den Angeln und zieht den Zorn derjenigen auf sich, die sich in ihr eingerichtet haben. Die partielle Wahrheit des Nationalsozialismus – seinen »rationalen Kern« – freizulegen, ihn in einen universellen Zusammenhang zu stellen und als Erscheinung und konkrete Reaktion erklär- und verstehbar zu machen – darum hat Ernst Nolte stets gerungen. Die bekanntesten Stichworte dafür sind das »logische und faktische Prius« des Gulag, der Auschwitz vorausging, und der »kausale Nexus«, der sie verbindet.
Die »Lüge« besteht darin, daß Hitler ausschließlich aus einer genuin »deutschen Daseinsverfehlung« (Ernst Niekisch) abgeleitet wird. Faktisch ist sie in den Rang eines staatsideologischen Axioms gerückt, das zum Tabu erhoben und teilweise unter die Obhut des Strafrechts gestellt ist. Sie ist das geistig-moralische Fundament einer Staatsräson der Selbstverneinung, die es im Gegenzug erforderlich macht, die Wirklichkeit einschließlich der historischen Wissenschaften der sinnstiftenden Ideologie anzupassen. Zu diesem Zweck werden alternative Interpretationen der NS-Geschichte unterbunden, wodurch sukzessive der Eindruck entsteht, sie lägen außerhalb jeder Vernunft. Diesem hermetischen Verblendungszusammenhang hat sich Nolte konsequent entgegengestellt. Damit ist er in die Position eines geistigen Dissidenten geraten.
Gewollt hat er das nicht. Welten liegen zwischen seinem heutigen Urteil über die Bundesrepublik und den früheren Einschätzungen ihrer Möglichkeiten. 1974 forderte er in Deutschland und der Kalte Krieg, der Bonner Staat müsse sich selber anerkennen, was die Akzeptanz der deutschen Teilung einschloß. Die eigenwillige, Nolte-typische Begründung lautete: Die geschichtliche Situation, die das Ende des deutschen Nationalstaats herbeigeführt habe, sei »weitaus universeller und monumentaler« gewesen als die, in der Bismarck die Reichseinigung gelungen war. In den Jahren des Bonner Alleinvertretungsanspruchs seien viele Intellektuelle gegen die Wiedervereinigungspolitik gewesen, weil sie die Neuauflage der damit verbundenen Gefahren fürchteten. Deshalb sei die auf das Negative fokussierte »Nationalpädagogik« berechtigt gewesen. Ihre »fruchtbare Lüge durch moralisierende Isolierung« sei nicht mehr notwendig, wenn Deutschland als »staatliche Realität« aufgegeben werde. Dann nämlich würde es »als geschichtliche Realität wieder zugänglich« und als ein sehr normales Land erscheinen. In sein Postulat der betrachtenden Gleichbehandlung bezog er das Dritte Reich ausdrücklich mit ein. Anders gesagt: Um zur politischen und historischen Vernunft zu kommen, mußte die Bundesrepublik sich als eigenständige Entität statt als Provisorium betrachten.
Interessanterweise hatte der Historiker Otto Westphal (1891–1950) in seiner 1950 posthum erschienenen Geschichte der Neuzeit die Forderungen Noltes beinahe wortgleich vorweggenommen. Dieser reuige »Exfaschist« war überzeugt, daß die Aufarbeitung des NS-Regimes nicht exklusiv aus der Perspektive seiner Besieger erfolgen könne. Das würde nur zu einem »Neufaschismus« führen. Man müsse versuchen, die NS-Herrschaft »historisch zu objektivieren« und dem »Dritten Reich diejenige Würde zurückzugeben …, die ihm auf Dauer nicht aberkannt werden kann: die einer großen historischen Erscheinung, die die Welt in Atem hielt, und eines schicksalhaften Vollzuges, in dem – und nicht erst seit Hitler – das Unmögliche und das Notwendige eine Verflechtung eingegangen waren, die von so tragischer Vernunft war, wie sie in aller Weltgeschichte waltet.« Die Trias aus »Größe«, »Tragik« und »Untaten«, unter die Nolte seine späteren Überlegungen zum Nationalsozialismus stellte, ist hier schon enthalten.
Ganz hegelianisch verlangte Westphal, die Welt, die über das Dritte Reich gesiegt hatte, als die vernünftige anzuerkennen, die sich daraufhin ihrer Deutschfeindlichkeit »begeben« würde. Eine schnelle Wiedervereinigung hingegen würde zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen. Er sah für lange Zeit einen westdeutschen Separatstaat voraus, dem er das enge Bündnis mit den USA empfahl.
Doch die weltgeschichtliche Vernunft der Weltkriegssieger (vor allem der USA) besaß noch einen unerkannten Hintersinn, der Westphal wie Nolte über die Möglichkeiten des Weststaates irren ließ. Seit den 1970er Jahren verzichtete die Bundesrepublik zwar auf eine aktive Wiedervereinigungspolitik, doch führte der nationalpolitische Verzicht keineswegs zur erwarteten Versachlichung des historischen Denkens. Vielmehr schritt die Dämonisierung des Nationalsozialismus als ein »absolut Böses« voran und führte zur staatlichen Etablierung des »negativ-germanozentrischen« Geschichtsbildes. Dafür gab es unterschiedliche Motive und Gründe, innere, aber auch äußere. So existierte während des Kalten Krieges ein blockübergreifendes Interesse, die Schuld Deutschlands zu verabsolutieren und zur Legitimierung des internationalen Status quo heranzuziehen. Sie war die historisch-politische Begründung für die Vorherrschaft der beiden Hauptsieger des Weltkriegs, der Sowjetunion und der USA.
Der Historikerstreit 1986 hatte neben dem nationalen daher auch einen internationalen bzw. bündnispolitischen Aspekt. Über seinen Hauptkontrahenten Jürgen Habermas schrieb Nolte, er sei darauf fixiert gewesen, den Nationalsozialismus als ein rein deutsches Thema zu erhalten und so den »vorherrschenden Wahrheitsanspruch des Westens« zu bedienen. Auf dessen schiefer Ebene fand 1990 die Wiedervereinigung statt, die deshalb das Gegenteil einer geistigen Befreiung bedeutete. Nachdem der Westen über die Sowjetunion gesiegt hatte, entfiel nämlich für den »Westen« die Notwendigkeit, auf die Empfindungen der Deutschen gewisse Rücksichten zu nehmen. Das Gebot hatte sich daraus ergeben, daß die Blockkonfrontation mitten durch Deutschland gegangen war und den Deutschen in Ost und West abverlangt hatte, die jeweils höchsten Risiken zu tragen. Die Schonung, die man ihnen gewährte, war die Gegenleistung für ihre Loyalität.
Mit dem Mauerfall änderten sich die Voraussetzungen. Umso mehr störte Nolte mit seinem Beharren auf der Historisierung des Nationalsozialismus. Die über ihn verhängte Quarantäne wurde verschärft. In einem neueren, enzyklopädisch angelegten Werk zur Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik findet sein Standardwerk, Der Faschismus in seiner Epoche, nicht einmal im Kapitel über Faschismustheorien mehr Erwähnung. Nolte kommentierte: Während die Söhne auf sehr deutsche Weise »antideutsch« gewesen seien, gerierten die Enkel sich als »Inquisitoren der Kosmopolis«. Wenn erst die Erkenntnis durchgreife, daß diese Kosmopolis in Wahrheit eine »amerikanische« sei, würden jedoch die Karten neu gemischt.
Bis dahin kann man nur konstatieren und kommentieren, wie der Nationalsozialismus und der Holocaust als negative Referenzpunkte einer globalen Zivilreligion durchgesetzt werden. Ein wirksamer Hebel sind die Restitutions- und Entschädigungsforderungen, die seit 1989 aus den USA an europäische Staaten und Institutionen gerichtet werden. Rechtliche und moralische Argumente dienen als Vehikel für globalstrategische Interessen und politische und ideologische Ansprüche.
Ihren einfühlsamsten Interpreten findet diese Politik in dem deutsch-israelischen Historiker Dan Diner (einem eifrigen Nolte-Rezipienten), der einen »anthropologischen Nexus von Gedächtnis und Eigentum« feststellte. Durch die »Wiederherstellung vorausgegangener Eigentumsverhältnisse« seien »die mit jenen Verhältnissen verbundenen Erinnerungen verlebendigt« worden. Zur Verlebendigung gehört laut Diner auch das Holocaust-Mahnmal mit seinem »geradezu paradigmatischen Charakter … Berlin entwickelt sich zunehmend zu einem universellen Gedächtnisort der Vergangenheit.« Der Holocaust erhalte »zunehmend die Bedeutung eines Gründungsereignisses«, vergleichbar der Reformation oder der Französischen Revolution, und würde zur »erkenntnisleitenden Warte einer integrierten europäischen Historie«.
Doch ohne Repression und Gesinnungskonditionierung und ‑kontrolle – das zeigt alle Erfahrung – wird die Transzendierung der »Lüge« nicht zu haben sein, und so stellt sich tatsächlich die Frage, ob unter dem Vorzeichen des »Anti-« ein übernationaler »Neufaschismus« entsteht, der freilich die Deutschen mehr als alle anderen Völker gefährdet. Was für andere zum Herrschaftsmittel geraten kann, bedeutet für sie mit Sicherheit die geistig-moralische und politische Selbstvernichtung.
In diesem Spannungsfeld ist und bleibt Ernst Nolte mit seiner Forderung nach der Historisierung des Dritten Reiches die unverzichtbare Referenzfigur einer geistigen Gegenwehr.